Synästhetische Soziologie

Versuche und Unterweisungen, die Gesellschaft mit Sinn und Verstand zu begreifen

Zur Bewerbungslage

Nachdem ich zwei Stellen in meinem kommenden DFG-Projekt zu Mediennutzungsstrategien ausgeschrieben hatte, möchte ich einige Daten und Deutungen zu den eingegangenen Bewerbungen nennen, in der Hoffnung, den (sozialwissenschaft-)akademischen Arbeitsmarkt in der Promotionsphase etwas transparenter zu gestalten – vor allem wenn andere es mir nachtun.

Sofern man nach dem Namen binär klassifiziert, haben sich von 21 Kandidat*innen zwölf Frauen beworben. Das ist mehr als die Hälfte. Jedoch ist in den einschlägigsten Fächern (Kommunikationswissenschaft, Soziologie usw.) der Frauenanteil unter den Studierenden oft noch höher. Gerade aus diesen Fächern kamen aber besonders viele Bewerbungen von Männern. Wenn man die männlichen Absolventen der Sozialwissenschaften nicht generell für qualifizierter hält, wird man sich die Geschlechterverteilung wohl so erklären müssen, dass Männer öfter eine wissenschaftliche Karriere in Betracht ziehen und/oder sich eher für qualifiziert halten, was die Anforderungen der konkreten Stelle betrifft, während Frauen offenbar selbstkritischer oder vom Wissenschaftssystem abgeschreckt sind.

Vier der 21 Personen haben ihre Bildungs- bzw. Wissenschaftskarrieren im Ausland begonnen – ansonsten hat nur eine Person (wieder fehleranfällig nach dem Namen klassifiziert) einen Migrationshintergrund, aber ihren Bildungsweg in Deutschland absolviert. Die Stellen eignen sich nun nicht besonders gut für internationale Bewerber*innen mit geringen oder ohne Deutschkenntnisse, da fast alle Teilstudien des Projekts Befragungen einschließen, so dass Erhebungsinstrumente und Daten nicht oder nur mit aufwändigen Übersetzungen zu verstehen wären, wenn die Deutschkenntnisse nicht von Anfang an ausreichen (die Ausschreibung verlangte deshalb auch Deutschkenntnisse und wurde vor allem im deutschsprachigen Raum verbreitet). Das mag in anderen Projekten anders sein, ist aber ein Grundproblem für empirische Sozialforschung, die sich in einem nationalen Kontext bewegt und nicht explizit Strategien und Ressourcen der Internationalisierung vorsehen kann.

Es ist jedoch auch ein Problem, wenn die Forschenden nicht die Breite der jeweiligen Landesbevölkerung widerspiegeln, etwa im Hinblick auf Migrationserfahrung. Oft bauen sich die Hürden auf dem Weg zu einer potenziellen Promotionsstelle jedoch wohl auch schon früher auf, nämlich bei der Aufnahme und Beendigung eines Studiums. Im konkreten Bewerbungsverfahren hat man dann nur noch vergleichsweise wenig Einfluss, da man hier ja nur diejenigen besonders wohlwollend in Betracht ziehen kann, die sich tatsächlich beworben haben.

Sechs Personen haben ein im mehr oder weniger engen Sinne kommunikationswissenschaftliches Studium absolviert, drei weitere ein sozialwissenschaftliches (Studiengänge Sozialwissenschaft, Soziologie u.Ä.). Auffällig sind auch gleich fünf Bewerber*innen mit einem im weitesten Sinne pädagogischen Hintergrund. Manche bringen eine gewisse Erfahrung mit sozialwissenschaftlichen Methoden mit, andere scheinen eher von der sehr allgemeinen Assoziation geleitet, dass Medien ja in der pädagogischen Arbeit relevanter denn je sind und deshalb die Mitarbeit in einem Projekt mit Medienbezug naheliege.

Einerseits wird heute interdisziplinäres Arbeiten immer mehr gefordert, andererseits existieren gewisse Hürden, sich fachübergreifend zu bewerben. Jedes Fach bzw. jede Fächergruppe hat ihre Methoden, theoretischen Ansätze, ihr Wissenschaftsverständnis und ihre eigenen Gegenstände bzw. ihre eigene Perspektive auf dieselben. Ich würde nicht generell von fachübergreifenden Bewerbungen abraten, aber in der Bewerbung besonders deutlich machen, dass ich weiß, in welches Fach hinein ich mich bewerbe. Gewisse Formulierungen und Beschreibungen verraten, ob jemand weiß, in welchen Kategorien ein Fach denkt, was seine grundsätzliche Perspektive ist. Außerdem ist es noch wichtiger als bei anderen Bewerbungen, die spezifischen Kompetenzen aufzuzeigen, die man mitbringt, und die Anknüpfungspunkte zum Zielfach bzw. zum Kontext des Projekts, Lehrstuhls/Teams und/oder Instituts aufzuzeigen.

Um der Präkarität in der Wissenschaft entgegenzuwirken, hätte ich durchaus gerne fortgeschrittene Promovierende für die Stellen in Betracht gezogen, deren bisheriger Vertrag kürzer als sechs Jahre lief – vorzugsweise sogar an Ort und Stelle in München. Allerdings bewarb sich niemand aus dieser Kategorie, lediglich einige Personen, die nach einem Studium seit einer Weile auf wissenschaftsnahen Stellen promovieren bzw. nun eine Promotion anstreben.

Ein Teil der Kandidat*innen wirbt im Motivationsschreiben mit seinen Soft Skills, während andere dies ganz auslassen und sich rein auf die akademischen Kompetenzen und Leistungen konzentrieren. Vielleicht sehen das nicht alle im der Wissenschaft so, aber meine Erfahrung ist, dass in (sozial-)wissenschaftlichen Bewerbungen für höhere Karrierestufen in der Regel nicht darauf eingegangen wird. Das heißt natürlich nicht, dass man nicht gerne teamfähige, gewissenhafte, kreative usw. Menschen hätte. Man hält das nur nicht für prüfbar oder für selbstverständlich und deshalb nicht für erwähnenswert. Bzw. man ahnt, dass eine entsprechende Selbstdarstellung kaum den Ausschlag geben wird, wenn die akademischen Meriten verglichen werden. Man mag sich beim Karriereeinsteig noch mehr an das Schema einer Bewerbung in der Wirtschaft halten, das man irgendwo gelernt hat, nur gelegentlich erfährt man dann sogar zu wenig über die Passung der wissenschaftlichen Kompetenzen, wenn das Anschreiben vor allem aus Beschwörungen der Teamfähigkeit, Flexibilität, Kreativität usw. besteht.

Bewährt hat sich aus meiner Sicht übrigens, dass die Bewerber*innen nicht nur ihre Kompetenzen im Anschreiben nennen oder sie sich aus den Zeugnissen (insbesondere einer Liste an besuchten Lehrveranstaltungen) ergeben, sondern dass ich eine Arbeitsprobe eingefordert habe. Kein einzelner Bestandteil einer Bewerbung vermittelt ein unverzerrtes Bild der Fähigkeiten, aber eine Haus- oder Abschlussarbeit oder ein Aufsatz zeigen doch noch einmal im Detail, wie jemand mit Fragestellungen, Theorien, Methoden, Argumenten, wissenschaftlicher Sprache usw. umgeht.

Begriffe für mehr angewandte Pandemiesoziologie

Der Diskurs zur Pandemiepolitik ist oft mehr oder weniger an die naturwissenschaftliche Logik angelehnt und springt je zwischen einzelnen Sachverhalten (Masken, Schulen, Booster…) hin und her. Manchmal gibt es sich auch ahnungslos und überrascht über das sehr Vorhersehbare. Hingegen hat er die sozialwissenschaftliche Reflexion der Pandemiepolitik weitgehend aus der breiten Öffentlichkeit herausgehalten.

Einige eher sozialwissenschaftliche Beobachtungen und Konzepte, die zum Teil zwar gelegentlich in der bundesdeutschen öffentlichen Diskussion vorkommen, für die ich mir aber noch mehr Aufmerksamkeit und Reflexion gewünscht hätte:

1. Das Antipräventionsparadox und die Verhältnismäßigkeitsheuristik: Maßnahmen erscheinen offenbar erst dann legitimierbar, wenn das zu Verhindernde bereits deutlich eintritt. Früher scheinen sie nicht vermittelbar, entweder wegen der Abstraktheit und vermeintlichen Ungewissheit der Prognosen (oder weil man Dritte für nicht fähig hält, Maßnahmen alleine aufgrund von Prognosen für legitim zu halten!) oder aus einem falsch verstandenen Prinzip der Verhältnismäßigkeit (verhältnismäßig wäre die ohnehin irgendwann notwendige Einschränkung bei gleichzeitig noch geringen Fallzahlen und Infektionsfolgen einzusetzen, aber eine Maßnahme wird erst proportional zur hohen Fallzahl für verhältnismäßig gehalten).

2. Die unwirksame Letztverschärfung: der Handlungsspielraum ist oft rechtlich oder diskursiv sehr weit eingeengt (weil man gewisse Maßnahmen ausgeschlossen hat oder zu recht oder unrecht für nicht rechtmäßig hält). Aber es braucht manchmal noch eine letzte Steigerung der Maßnahmen, um Handlungsfähigkeit zu demonstrieren, die dann aber primär unwirksam und symbolisch bleiben müssen. Hier wäre entweder der Möglichkeitsraum zu erweitern, soweit das legitim ist (z.B. temporäre strengere Regeln für die Arbeitswelt statt „Freizeitlockdown“), oder einzugestehen, dass nicht alles geregelt werden kann, und auf wirklich informative, motivierende, ermächtigende Kommunikation aus einem Guss zu setzen (und zugleich auf wirklich offene Diskurse zur Legitimität von Maßnahmen statt auf taktisches Ausschließen und stillschweigendes Ignorieren gewisser Optionen).

3. Das Paradox des Wirkungsboosters und der scheinbaren Rückwärtsverursachung: primär unwirksame Maßnahmen (welche selbst bei Einhaltung nur ungenügend viele Kontakte unterbinden) werden als Signal für die Gefährlichkeit der Lage verstanden und führen sekundär oft bereits vor Einführung zu einer Kontaktreduktion.

4. Das Schwedenparadox: eine (gewollte oder in Kauf genommene) rasche Durchseuchung wird durch (teilweisen) kollektiven Selbstlockdown und durch Wirkungsbooster primär unwirksamer Maßnahmen abgeschwächt – wenn auch eher nicht ganz blockiert.

Wie beim vorherigen Punkt handelt sich hier nicht um eine Unschärfe der eigentlichen, naturwissenschaftlich feststellbaren Wirkung einer Maßnahme (wie Nähe Infektionen begünstigt, ist natürlich naturwissenschaftlich erklärbar, aber wann sich Menschen nahekommen, eben nicht). Sondern das ist das Wesen der Maßnahmen selbst, sofern sie verhaltensbasiert sind. Sie schränken primär die eigentlich gemeinten Kontakte ein (je nach Befolgung mehr oder weniger stark). Ferner lösen sie sekundär allerlei andere Umstrukturierungen des Alltags aus (keine Schule heißt kein Schulweg, kein Treffen in der Kneipe heißt eventuell Treffen zu Hause oder draußen usw.). Und sie haben drittens eine Signalwirkung (wegen der ja eine Maßnahme je nach den Zeitumständen völlig verschieden starke Wirkungen haben kann). Maßnahmenkritier*innen nutzen das gerne, um allerlei paradoxe Wirkungen oder die Wirkungslosigkeit der Maßnahmen zu postulieren. Nur können sie in der Regel keine Argumente anführen, dass die primäre Wirkung ganz durch die sekundären kompensiert würde oder dass es keinerlei primären Wirkungen gebe (wie würde jemand, der behauptet, dass „Lockdowns nicht wirken“, plausibel machen, dass sie keinerlei Reduktion der explizit untersagten Kontakte bringen oder dass die Menschen sich plötzlich anderweitig noch viel eifriger treffen und den Effekt so überkompensieren? Oder sollte das Virus auf rätselhafte Weise umso ansteckender werden, je weniger Kontakte es gibt?!).

5. Das Liberalismusparadox: die Verrechtlichung der Pandemie beschränkt die Maßnahmen sehr stark auf formale Rechtsansprüche (z.B. Anspruch auf Impfung) und rechtliche Pflichten (z.B. 2 bis 3G, Impfpflicht). Es bleibt bei negativer Freiheit (z.B. Religionsfreiheit trotz Kontaktbeschränkung) statt positive, ermöglichende Freiheit (z.B. aktive Impfangebote, Alternativen zu wegfallenden Aktivitäten) einzubeziehen. Trotzdem lehnen „Liberale“ Maßnahmen sogar ab, obwohl diese einen fast idealtypischen Fall einer gesetzlichen Regulierung darstellen, die liberal zu rechtfertigen ist: Einschränkung von Freiheit nur dann, wenn sie die Freiheit anderer tangiert, das Handeln der einen den anderen gewollt oder ungewollt schadet.

6. Das Eigennützige-Solidaritäts-Dilemma: wenn das moralisch Richtige (z.B. Impfen zum Fremdschutz bzw. zur Entlastung der Krankenhäuser) auch das individuell Nützliche (z.B. Impfen zum Selbstschutz) ist, dann hat man einerseits doppelte Anreize dafür. Aber eine relative Betonung der moralischen Pflicht kann das individuell Nützliche plötzlich als Zumutung erscheinen lassen.

7. Das Paradox der pseudosystematischen Entscheidung: durch die extreme Präsenz und dadurch wahrgenommene Wichtigkeit eines Themas (z.B. Corona und damit der Coronaimpfung im Vergleich zur Tetanus-Impfung oder Risiken des Straßenverkehrs) werden besonders intensiv Informationen gesammelt, vor allem sich kritisch gebende, um eine möglichst wohlbegründete Entscheidung zu treffen. Das kann im Ergebnis aber zu einer weniger gerechtfertigten Entscheidung führen (z.B. keine Impfung gegen Corona).

8. Das Besorgte-Reptiloidenwichtel-Paradox: fälschlicherweise wird im Kontext von Maßnahmen, Impfungen etc. gebannt und fatalistisch auf die extremsten Verschwörungsgläubigen geschaut, statt die Zögernden rasch zu überzeugen, während die Extremen umgekehrt sicherheitspolitisch verharmlost werden.

9. Kontaktzahlexplosion: die dezentrale Bereitstellung eines knappen Guts in je kleinen Mengen (z.B. einige wenige Impfdosen pro Praxis und Impfstelle) führt ohne zentrale Vermittlungsinstanz (z.B. einheitliche Buchungsplattform) schon rechnerisch zu einer riesigen Zahl notwendiger Kontakte (z.B. Abtelefonieren von Praxen, Abgrasen von Impfzentren online oder vor Ort), bis eine erfolgreiche Transaktion (z.B. Impfung) zustande kommt. Benachteiligt werden dadurch natürlich diejenigen, die diesen Aufwand nicht leisten können oder denen gewisse Kompetenzen fehlen.

10. Pandemie als Stereotypen-Reproduktion und -Verstärker: die Eile, mit der Regelungen z.T. mit groben Strichen entworfen und umgesetzt wurden, führt dazu, dass besonders gut sichtbar wird, wie tief verwurzelt gewisse Annahmen über die Gesellschaft sind: über Familien und Haushalte (die Annahme: Kleinfamilien leben untereinander zusammen und in je getrennten Haushalten – ggf. werden haushaltsübergreifende Kontakte zu Familienmitgliedern erlaubt, statt Kontakte von vornherein unabhängig von solchen Zugehörigkeiten zu betrachten, in persönlich ausgewählte enge und andere einzuteilen und beide Arten dann jeweils zu begrenzen), Prioritäten im Alltagsleben (Frisur? Sexuelle Dienstleistungen? Restaurantbesuche? Informelle Treffen jenseits kommerzialisierter Räume und der eigenen vier Wände?), Reflexionsfähigkeit und Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen (Schule ist per se ein Ort positiver sozialer Kontakte, Belastungen gehen eher auf Kontaktbeschränkungen als auf das Infektionsgeschehen zurück), Bildung und Betreuung (Frontalunterricht in Präsenz unter bestmöglicher Erfüllung der Lehrpläne als Maß aller Dinge), Digitalkompetenz, Gesundheitsversorgung (Hausärzte, „die ihre Patienten am besten kennen“), „Systemrelevanz“, Arbeitsverhältnisse und Gewerbeaktivitäten, Mobilität (der Alltag und das Familienleben von Menschen spielt sich normalerweise in einem Land ab; Leute können ja einen Ausflug mit dem Auto machen, wenn ihnen die Öffis zu voll sind) usw. Eine sorgfältige Analyse der Regelungen, ihrer Begründungen und Diskussion würde sicher noch weitere solche Annahmen zutage fördern.

11. Das Anerkennungstrilemma: wenn Beschäftigten im Gesundheitswesen und anderen in der Pandemie sehr belasteten Berufen rein symbolische Anerkennung (z.B. Klatschen) zuteil wird, so wird das oft als Mangel an materieller Wertschätzung gewertet, wobei als dritter möglicher Anspruch noch die Verbesserung der Arbeitsbedingungen hinzukommt, so dass bei Diskussionen über die Wertschätzung der Tätigkeiten immer ein ausgeschlossenes Drittes übrigbleiben kann. Zudem bedingen Berufsethos und geringer Organisationsgrad, dass Ansprüche nicht unbedingt machtvoll durchgesetzt werden können und es oft bei Appellen an die Politik oder innerer bzw. äußerer Kündigung bleibt. Forderungen können dann mit Verweis auf die je anderen Formen der Wertschätzung abgebogen werden (z.B. eifriges Lob statt mehr Geld oder kleine Sonderzahlung statt besserer Arbeitsbedingungen).

12. Die Uneindeutigkeit von „Hört auf die Wissenschaft!“: der Politik muss natürlich der Stand der Erkenntnis zugrunde gelegt werden (der Preis dafür sind ja ansonsten die sehr vorhersehbaren Probleme bei der Eindämmung). Aber wissenschaftliche Erkenntnisse an sich müssen zunächst als Wenn-Dann- oder Weil-Deswegen-Beziehung gelesen werden und nicht wie so oft als Soll- oder Muss-Aussagen. Die Abwägung unterschiedlicher Ziele und der gerechtfertigten Mittel obliegt dem politischen Diskurs (oder den normativ arbeitenden Wissenschaften). Wenn andererseits gewisse Ziele Konsens sind oder sein sollten (z.B. Verhinderung riesiger Sterbezahlen) und sie nur mit bestimmten Maßnahmen zu verwirklichen sind, dann kommt man nicht umhin, aus gewissen Erkenntnissen relativ eindeutige Handlungsempfehlungen abzuleiten, die Forschende dann auch legitimerweise formulieren können. In solch einer Situation kann natürlich leichtfertig oder strategisch der Verdacht gestreut werden, Wissenschaft sei nicht auf wohlbegründete Entscheidungen, sondern auf Manipulation, Macht und Gehorsam aus.

13. Simple und überfrachtete Anreizstrukturen: aus der Verbindung von Verrechtlichung und naiven Verhaltensannahmen werden Maßnahmen an bestimmte Kriterien und Ziele, ja an bestimmte vermeintliche Anreize gekoppelt, wobei sie aber immer wieder Fehlanreize setzen und so die Eindämmung an anderer Stelle untergraben (z.B. Kopplung von Maßnahmen an Inzidenzschwellen mit dem Effekt des Oszillierens der Inzidenz um die Schwelle bei ständig wechselnden Regelungen statt einer nachhaltigen Senkung; Kopplung von Maßnahmen an die lokale Inzidenz mit einem Anreiz zu weniger gründlicher Testung und schleppender Meldung; Kopplung von Maßnahmen an Hospitalisierung als schwerwiegender Corona-Folge, aber mit dem Effekt einer verspäteten Reaktion auf hohe Inzidenzen; 3G bei kostenpflichtigen PCR-Tests als Anreiz für mehr Impfungen, aber mit dem Effekt einer suboptimalen Testquote…).

14. Die (scheinbare) Entdeckung neuer Ungleichheiten: soziale Ungleichheit wird während der Pandemie zunächst einmal nur entlang der naheliegendsten Einteilungen bedacht: Risikogruppen werden direkt mit Bezug auf die Infektionsfolgen eingeteilt (z.B. nach Alter und Vorerkrankung), während das Risiko auf der Grundlage der Wohnbedingungen (oder Wohnungslosigkeit), fehlender Unterstützungsnetzwerke, Sprachkenntnisse usw. weit weniger beachtet wird. Bei Systemrelevanz denkt man (natürlich nicht zu unrecht) an Gesundheitsversorgung und kritische Infrastruktur, weniger jedoch an die Sorgearbeit zu Hause, die bei erhöhten Infektionsgeschehen ebenfalls zusammenbrechen kann. Umgekehrt wird (herkömmlich verstandene) soziale Ungleichheit in der Diskussion um Schulschließungen instrumentalisiert (selbst wenn es plausibel ist, dass Distanzunterricht, so wie er tatsächlich praktiziert wird, Ungleichheiten verschärfen kann, so wird dieses Argument doch sehr ad hoc eingeführt, während es sonst in der Bildungspolitik weit weniger interessiert).

Gut täten natürlich auch Reflexionen über das Verhältnis von Online-Blasen und immer schon bestehenden relativ homogenen Offline-Milieus, in denen sich Einstellungen und Risiken clustern, über False Balance, subjektive Vulnerabilität und Risikoverhalten, internationale politische Ökonomie der Impfstoffproduktion und -distribution, Heuristiken der Risikowahrnehmung, ideologische und strategische Wissenschaftsleugnung, außerparlamentarische Entscheidungsfindung…

Wer hat Ergänzungen?

Die Banalität des Impfnationalismus

Es kursiert derzeit eine Meinung, nennen wir sie, wie manche es bereits getan haben, den „Impfnationalismus“: Nicht nur beliebige Kommentierende auf sozialen Medien, sondern etablierte Journalist*innen sagen, Deutschland hätte vor allem die eigene Bevölkerung mit Impfstoff versorgen sollen. Manche sagen: zumal man in Deutschland irgendwie ein Anrecht darauf habe, da ja ein wesentlicher Impfstoff hier entwickelt worden sei (es wird also nicht nur eine konkrete Vorgehensweise der Regierung oder der EU kritisiert, sondern wirklich „Deutschland/Deutsche zuerst“ gefordert). Was zeigt uns diese Forderung?

… dass nationalistisches Denken so tief verankert ist, dass es bei jedem Thema aufgerufen werden kann und mühelos Stellungnahmen generiert. Der Impfnationalismus erscheint für einige so selbstverständlich, dass er keiner weiteren Begründung bedarf, bzw. als so zwingend, dass es als Skandal erscheint, wenn nicht ganz selbstverständlich nationalistisch gedacht und gehandelt wird (und da hakt dann auch bei einigen ganz mühelos der ganze Diskurs ein, dass man heutzutage die naheliegendsten und natürlichsten Sachen nicht mehr sagen dürfe usw.). Das Konstrukt „Nation“ ist zu einer unhinterfragten Kategorie des politischen Denkens geworden – selbst für die Gegenseite ist das der Hauptbezugspunkt, von dem sie sich abgrenzen müssen, z.B. „europäische“ statt „nationale“ Lösungen fordern (der Verweis auf Europa klingt dabei oft mehr nach etablierter Staatsraison und technokratisch überlegener Lösung, statt dass man grundsätzlich fragt, wem auf der Welt wann welchen Impfstoff zustehen sollte und wie man der gerechtesten Lösung unter gegebenen Umständen, in einer nicht perfekten Welt, am nächsten kommt). Man muss aber zugestehen, dass das nationalstaatliche Denken nicht so stark verankert ist, dass Alternativen denkunmöglich oder im Diskurs völlig tabuisiert wären – im Gegenteil, die Impfnationalist*innen verlassen sich auf eine scheinbare Selbstverständlichkeit, die längst überholt scheint, da ja länderübergreifend kooperiert wurde, wenn auch keinesfalls optimal und vollends gerecht.

Aber ihr müheloser, wenn auch gelegentlich empörter Nationalismus zeigt doch…

… wie gering die Anforderungen an eine begründete öffentliche Äußerung sind, selbst für Profis. Die Gruppe der Impfnationalist*innen scheint sich interessanterweise erheblich mit jenen zu überschneiden, die den „Gutmenschen“ (selbst wenn sie diesen Begriff nicht verwenden) übertriebene Moralisierung vorwerfen – eine reine Gefühlsduselei oder ein Gefühl moralischer Überlegenheit, das die „vernünftige“ und auch „realistische“ Betrachtung ersetze. Am Impfnationalismus zeigt sich aber…

… dass dieser Realismus, dass diese Art der Vernunft letztlich auf reine Konvention bzw. den Status quo oder auf das Recht der Stärkeren hinausläuft. Nicht auf eine unabhängige Analyse, die fragt, was sein soll, sondern auf eine, die festhält, dass es eben so ist, wie es ist, und dass den Deutschen verdammt noch mal dieses oder jenes zustehe, weil sie Deutsche sind. Der Impfnationalismus scheint mir nicht zuerst zu fragen, was die gerechteste Lösung sei, um dann nachträglich ggf. noch eine Dosis Realismus zu injizieren, sondern bleibt gleich von vornherein den gängigen nationalstaatlichen Kategorien verhaftet, ohne viel nachzufragen oder wirklich sorgfältig aufgebaute Argumente anzugeben. Eines der wenigen Argumente, das man findet, läuft ja lediglich darauf hinaus, dass andere Regierungen ganz selbstverständlich den Vorteil des eigenen Landes im Auge hätten (es wird also von vornherein eine Normalität vorausgesetzt, um dann zu argumentieren, dass das normal und also richtig sei). Nur in Deutschland traue man sich das ja nicht und dürfe das nicht mehr fordern usw. (siehe oben). Nebenbei zeigt das dann aber auch…

… dass selbst dieser recht „banale“ Nationalismus – zunächst ein Nationalismus ohne großes Pathos, ohne Mythen oder Theorien der eigenen Überlegenheit und Bestimmung, ohne Kraftmerei und Kampfgeschrei – trotzdem auf dem Glauben beruht, die eigene Nation sei doch irgendwie überlegen oder zumindest besonders stark. Denn einen Verteilungskampf kann man ja nur wollen, wenn man glaubt, dabei einigermaßen gut wegzukommen (und nebenbei wird damit ja die Möglichkeit ausgeschlossen, dass selbst die Stärksten von einer Kooperation profitieren könnten, weil ein Wettbewerb unnötige Kraft oder andere Ressourcen vergeuden kann – im Falle eines Impfstoffs schafft eine Kooperation z.B. eine größere Marktmacht gegenüber den Produzenten, so dass selbst „starke“ Länder besser wegkommen könnten). Selbst ein banaler Nationalismus kommt also nicht ganz ohne Phantasien der Stärke und Ansprüche auf Bevorzugung, ohne Privilegien aus, ist nicht einfach ein freundlicher Lokalpatriotismus, keine rein gutmütige Realpolitik, sondern glaubt, sich durchsetzen zu müssen und zu können, und etwas für sich verlangen zu dürfen, was man anderen nicht zugesteht, weil man doch irgendwie etwas Besseres ist oder daran teilhat.

Weil aber die Nation zwar heute eine selbstverständlich, gleichsam natürlich erscheinende Kategorie ist, aber doch eigentlich eine sehr abstrakte Konstruktion, zeigt sich auch…

… dass die Idee der Nation allerlei Vergleiche und Metaphoriken mit sich bringt, um sie irgendwie greifbar zu machen: Eine geografisch weit verstreute, hinsichtlich ihrer Lage und ihrer Lebensweise höchst unterschiedliche Bevölkerung von vielen Millionen Menschen muss irgendwie fassbar werden. Bei der Zuwanderung wird gerne die Metapher des Hauses bemüht: Man lasse ja auch nicht die Türe offen und Fremde dürften sich nicht einfach bei einem einnisten, müssten sich wie „Gäste“ und nicht wie die eigentlichen Bewohner benehmen, usw.

Ein Mitglied des Bayerischen Ethikrates (!) fand einen anderen Vergleich als Begründung für seinen Impfnationalismus, welche die abstrakte Nation auch auf eine konkrete zwischenmenschliche Situation herunterholt: Dass Deutschen der immerhin in Deutschland entwickelte Impfstoff zuerst zustehe, sei wie im Flugzeug, wo es ebenfalls vorgesehen sei, dass man bei einem Druckabfall zuerst sich selbst helfe und dann anderen. Dieser Ethiker geht also von einer Situation aus, in der es zunächst einmal zweckmäßig ist, sich selbst zu helfen, schon weil man ansonsten womöglich gar nicht mehr dazu kommt, anderen zu helfen. Oder von einer Situation, in der zwei Personen in ziemlich genau der gleichen Lage um die Rettung konkurrieren und eine Person eben zuerst gerettet werden muss. Daraus schließt er nun: Wenn irgendwo in der Republik ein Impfstoff entwickelt wurde, stehe er mir eher zu als einer Person einige Kilometer weiter, aber auf der anderen Seite der Staatsgrenze, die ihn vielleicht dringender bräuchte (selbst wenn das Ethikratsmitglied zugestehen würde, dass einige besonders Schutzbedürftige im Ausland den Impfstoff doch auch frühzeitig bekommen sollten, so würde er das Argument mit der Impfstoffentwicklung nicht bringen, wenn es ihm nicht darum ginge, dass die Zugehörigkeit zur deutschen Nation eine mehr oder weniger wesentliche Rolle spielen sollte. Und dadurch wird eben die Bedürftigkeit etwas weniger wichtig, wenn nicht ganz unwichtig).

Der Impfnationalismus ist also als spezielle Stellungnahme extrem neu, vereint aber sofort viele Aspekte des gegenwärtigen politischen Diskurses (denn so eine Position kann natürlich niemals einfach aus dem Nichts entstehen): die Schwäche an eigenständiger normativer Argumentation, selbst bei den Meinungsäußerungs-Profis (so dass man sich fragen müsste, welchen Diskurs sie da eigentlich führen wollen, was sie dazu ermächtigt und mit welchem Ziel sie das betreiben, welcher Nutzen für sich und andere ihnen vorschwebt, wenn sie derart ihre Meinung verkünden) und zugleich die jederzeit bereitwillig angewandte Strategie, Kritik als Angriff, als Versuch der Tabuisierung oder als pathologische Emotionalisierung abzuwehren; die tief verankerten Kategorien und die Begründungen mit der Macht des Faktischen; und die Ambivalenz, ja z.T. der zutiefst ideologische Charakter von Metaphern und Vergleichen, die abstrakte soziale Kategorien begreifbar machen sollen.

Fragen gegen die großspurige Relativierung

Es ist Weihnachten und das bedeutet: Zeit für nervenaufreibende Diskussionen mit der Verwandtschaft! (So will es zumindest das Klischee – es gibt ja auch Familien, in denen freundlich und konstruktiv diskutiert wird…) Mit Blick auf das Weihnachtsfest, aber auch außerhalb dieser Saison bieten viele Medien Faktenchecks und Argumentationshilfen rund um Corona, für den Fall dass im Bannkreis des Weihnachtsbaums oder andernorts behauptet würde, dass die Impfung der Kontrolle der Bevölkerung diene (denn es ist klar: Wer die Seniorenresidenzen beherrscht, dominiert bald auch alles andere!) oder Corona nicht schlimmer sei als Genitalherpes. Aber nicht jede problematische Auffassung zu Corona ist eine abwegige Verschwörungstheorie, virale Fälschung, perfide Propagandalüge oder klischeehafte urbane Legende.

Vielmehr zirkulieren auch viele Einschätzungen, die nicht die eine fette Unwahrheit enthalten, sondern insgesamt ohne rechte Expertise alles relativieren und statt womöglich berechtigter, gründlicher Kritik alle Vorsichtsmaßnahmen zerreden und als unzumutbar darstellen. Und ich denke, wir arbeiten uns fast zu sehr nur an den extremen Leugner*innen, den besonders dreisten Ordnungswidrigkeiten und den extremistischen politischen Instrumentalisierungen ab. Sie sind im Einzelfall natürlich gefährlich, der Einfluss auf die breite Bevölkerung ist jedoch wohl vorläufig einigermaßen begrenzt. Es wäre jedoch wichtig, dass die Problemwahrhnehmung in der breiten Bevölkerung angemessen ist, bei den normalen Haushalten, Bekanntenkreisen und Betrieben, und dass eine ergiebige Diskussion über die beste Fortentwicklung der Maßnahmen gelingt. Fernab der extremen Leugnung besteht ja die Gefahr, dass Corona vielen Leuten egal bleibt oder egaler wird, die Beschränkungen ermüden, ihre Grundlage zerredet wird.

Die nicht-extremen und nicht grob unwahren Relativierungen kommen unter anderem von Kolumnisten und Journalisten, Politikern, auch von einigen Wissenschaftlern (ich schreibe mal bewusst im Maskulinum), sei es als Selbstdarstellung, sei es im Zuge einer politischen oder medialen Kampagne. Die Relativierungen werden mit recht großer Selbstgewissheit und teilweise recht dick aufgetragenen Formulierungen vorgebracht und sind zugleich nicht unbedingt sehr gehaltvoll und präzise durchargumentiert, appellieren oft eher an Commonsense als an besondere Expertise. Die Kernbotschaft ist mehr oder weniger: Corona ist zwar nicht so schön, aber es wird doch langsam übertrieben mit der Vorsicht, ja Panik geschürt, und an irgendwas müssen die Leute ja sterben. Die Maßnahmen mögen nicht ganz wirkungslos sein, so richtig bringen sie aber nichts und sind inkonsistent (das eine ist erlaubt oder offen, das andere nicht), vor allem sind sie lästig, schränken unnötig ein, sind schlecht für die Wirtschaft, und überhaupt wissen Politik und Wissenschaft auch nicht so genau was sie tun, verfolgen ihre eigenen Interessen, usw. Als Beleg werden Tatsachen herausgepickt oder nur vage umschrieben, manchmal etwas hingedreht, Dinge suggestiv formuliert, aber eben ohne die abgedrehten Verschwörungstheorien und die abgedroschensten Falschaussagen (oder diese tauchen zumindest in neuem Gewand auf).

Wie soll man darauf antworten, wenn man in diesem Fall ja nicht auf Faktenchecks zurückgreifen und einzelne Aussagen klar widerlegen kann? Wie antwortet man, ohne damit zu behaupten, es sei keinerlei legitime Kritik denkbar, Politik und Wissenschaft seien immer ohne Interessenkonflikte und immer unbedingt vertrauenswürdig?

Ein schnelles Brainstorming (Dank an die Mitdenkerin!) ergab folgende Strategien, auf jene Relativierungen und die Relativierenden aus Medien und Politik etwas zu antworten, formuliert als Fragen an diejenigen in Verwandtschaften, Bekanntenkreis usw., die dafür empfänglich sind:

  • Wovon wollen diese Leute einen letztlich genau überzeugen – was denkst du? Zu welcher Schlussfolgerung wollen sie einen bringen – oder gibt es überhaupt eine klare Schlussfolgerung oder soll nur eine Stimmung erzeugt werden und wenn ja welche? Hast du mal genau beobachtet, mit welchen Mitteln die das jeweils versuchen? [Eine Strategie de Sensibilisierung für Persuasionsversuche, die ein positives Gefühl der Selbstwirksamkeit im Durchschauen erwecken kann…]
  • Und warum tun die das, welches Interesse haben sie wohl daran? Stehen sie keiner Partei nahe, kriegen sie keinen Cent dafür, profitieren kein bisschen von irgendetwas – nicht zumindest von der Aufmerksamkeit, der Reichweite? Was spricht dafür, dass sie unabhängiger sind von politischen und geschäftlichen Interessen als eine durchschnittliche Person in der Politik, der Wissenschaft oder anderen Medien? [Eine Strategie, die die Fragen nach den heimlichen Interessen umdreht, die sonst eher gegenüber der etablierten Politik und Wissenschaft gestellt wird…]
  • Warum sollten sich diese Leute für das Wohlergehen der einfachen Menschen interessieren, woran würde man merken, dass es ihnen am Herzen liegt? Welche konkreten Vorschläge, mit denen sich das Leben der normalen Bevölkerung verbessern würde (mehr Geld zum Leben, mehr Gesundheit, bessere Pflege, bessere Arbeitsbedingungen usw.) haben sie – oder doch nur Kritik und Floskeln, mit denen sie behaupten, alles besser zu wissen? Hast du den Eindruck, dass sie das Leben und die Sorgen der Menschen kennen, und zwar von ganz verschiedenen Menschen? [Eine sozusagen populistische Strategie, welche die privilegierte Stellung der Relativierer aufzeigt und die Interessen der einfachen Leute dagegen in Stellung bringt…]
  • Was qualifiziert diese Leute, woher nehmen sie diese Gewissheit immer zu sagen: Das und das ist so! Warum sind sie so sehr von sich überzeugt? Selbst wenn die Wissenschaft zu Corona völliger Unsinn wäre und alle Empfehlungen und Maßnahmen Quatsch, woher wüssten sie das, warum können sie das so gut beurteilen? Oder sagen sie einfach Dinge, auf die alle kommen könnten, und warum äußern dann ausgerechnet sie sich ständig und haben so eine Reichweite? Wo sind die Meinungen und Stimmen der anderen? Haben diese Leute in den Medien mal eingestanden, sich geirrt zu haben oder etwas unglücklich formuliert zu haben, oder zugestanden, dass man etwas noch nicht so genau wissen kann oder dass sie etwas nicht so genau wissen? [Eine Strategie, die die selbstverständlich erscheinende Gewissheit durchbricht, mit der etwas vorgetragen wird, an intellektuelle Redlichkeit appelliert und großspurige Behauptungen hinterfragt…]

Es sollte einem aber klar sein, dass Gesprächspartner*innen diese Nachfragen dann auch wieder auf die seriöse Wissenschaft, die verantwortungsvolle Politik anwenden können. Und das ist ja auch legitim, gar notwendig! Aber die genannten Strategien allzu sehr zuzuspitzen, kann dazu führen, dass man weniger eine Skepsis gegenüber den Relativierern weckt als ein allgemeines Misstrauen zu schüren, das in die absolute Relativierung mündet: Wenn man niemandem glauben kann und alle nur nach ihrem eigenen Vorteil schauen, dann ist es ja ganz egal was ich tue, denn was kann ich schon wissen?! Vielmehr sollten diese Strategien die Paradoxie aufzeigen, dass manche den einen prominenten und etablierten Akteur*innen misstrauen, dann aber spontan und bereitwillig denjenigen Relativierern glauben, die nur selbstbewusst genug das aussprechen, was einem ohnehin in den Kram passt. Der Verweis auf Interessen, rhetorische Strategien usw. ersetzt ja letztlich niemals die inhaltlich Auseinandersetzung mit der Sache. Oder wenn man so bescheiden ist, sich alleine kein endgültiges Urteil zu bilden, so steht man dann doch noch vor der Frage, wem man dann vertrauen sollte und warum. Dazu sollen die Fragen oben anleiten.

Über Kommentare über die SPD

Ich bin, ehrlich gesagt, überhaupt nicht überrascht über das Ergebnis der SPD-Vorsitzendenwahl (einer Partei, der ich ja nicht angehöre, aber deren Schicksal ich interessiert aus etwas anderer Perspektive verfolge – mich erscheint hier aber vor allem die Deutung in den Medien bemerkenswert). Mir leuchtet die Entscheidung ein, denn sie ist ganz einfach gedacht: Dass es so nicht weitergehen kann.

Was Menschen, bei denen es erst mal immer so weitergeht, etwa beim routinierten Kommentieren der Politik, nicht so einleuchten mag. Erstaunlich, wie vielen in den Medien, denen ja nachgesagt wird, sooo links zu sein, die Vorstellungskraft oder die Entschlossenheit fehlt, um das Ergebnis in anderen Kategorien zu interpretieren als den unpolitischsten und alt-bundesrepublikanischsten, und aus der Perspektive einer einzigen männlichen, historisch und intellektuell vielleicht eher mittelwichtigen Führungsperson, obwohl die Partei vor einer existenziellen Herausforderung steht. Der Journalismus hängt an einem Politikverständnis, das Politik damit gleichsetzt, den verbleibenden Wohlstand und das verbleibende Gemeinschaftsgefühl zu verwalten und hier und da mal etwas zu reparieren, wenn auch durchaus mit dramatischen Nachtsitzungen, und sich ansonsten für die nächste Personalentscheidung in Stellung zu bringen – statt dass man in seinen Kommentaren einmal auf innerparteilicher Demokratie und inhaltlichen Strategien beharrt. Man denkt immer noch wie ehedem: „Vorstandswahl unter 97% ein harter Denkzettel…, immer mittig bleiben und nicht anecken…, immer die erprobten Favoriten wählen…, können die das überhaupt? Usw.“ – in einer Zeit, in der Sozialdemokratie durch die Zeitumstände demontiert wird und dringend eine Kraftanstrengung bräuchte, um Diskurshoheit und Anschluss an aktuelle Herausforderungen zu finden und sich wirklich unter Einbeziehung der Basis neu zu definieren.

Warum sollte die Bevölkerung etwas anderes wählen als eine konservative Partei, wenn sie es eigentlich ganz in Ordnung findet, dass man seit den Neunzigern bisschen den Müll trennt und auch einige Windräder aufgestellt hat, dass ein paar Leute etwas mehr Rente kriegen, sofern sie nicht zu lange arbeitslos waren, und dass der Staat nicht so viel Geld ausgibt, obwohl er keine Zinsen dafür zahlen muss, weil Schulden unanständig sind. Ich bin durchaus nicht der Meinung einiger, dass eine Partei nur offensiv mit linker Politik auftreten müsse und dann einfach alle „einfachen Leute“ und überhaupt alle ihr entfernt Wohlgesonnenen auf ihre Seite ziehen werde. Eine solche Partei müsste Menschen politisieren, Ideen mit der Zeit verankern, Gegendiskurse entkräften, gegen die genannten Trägheiten und Selbstzufriedenheiten oder gegen Resignation und Zynismus ankämpfen. Es gilt zu überlegen, wen man zu vertreten beansprucht und wie sich ein Weltbild und ein Programm aushandeln und verankern lassen, die eine Allianz all dieser Gruppen schmieden und sie zum Wahlerfolg führen. Im hiesigen Journalismus scheint mir ein solches Denken kaum verankert, während man in den USA zumindest analysiert, wer welche Bevölkerungsgruppen womit ins Boot holen muss, um zu gewinnen (bei aller Fixierung auf Centrism und Party Establishment). Hierzulande scheint es noch mehr nur um einen diffusen Eindruck von Geschlossenheit zu gehen, den Parteien auf eine vage Bevölkerungsmasse machen.

Die gegenwärtige politische Berichterstattung in Deutschland ist auch Zeichen einer bemerkenswerten Ungleichzeitigkeit. Während politisch Interessierte mit einer gewissen linken bis mittigen Affinität sich Videos von Bernie Sanders oder Alexandria Ocasio-Cortez anschauen, die dazu beitragen, in den USA neue politische Räume zu eröffnen (allerdings z.T. mit Vorschlägen, die in Europa ohnehin Commonsense sind) oder vielleicht sogar mal vom neuen Programm von Labour gehört haben, scheinen viele hiesige Zeitungskommentare aus einer Welt zu uns zu kommen, die irgendwie an die Ära Schröder versus Lafontaine erinnert (als es darum ging, wie regierungsfähig und staatstragend die 40-Prozent-Partei SPD sei). So scheint der Orientierungspunkt nicht die aktuelle Sozialdemokratie in vielen anderen Ländern zu sein oder die neueren programmatischen Überlegungen vieler in der SPD, sondern der progressive Neoliberalismus Macrons, der an die Neunziger erinnert, nur noch eher elitär-aristokratisch als technokratisch. Es ist nicht gesagt, dass die Sozialdemokratisierung der sozialdemokratischen Parteien und ihre Öffnung gegenüber neuen linken Ideen erfolgreich sein wird. Aber sie gar nicht als Option in Betracht zu ziehen und die entsprechende Programmatik irgendwie für unvorstellbar zu halten, das erscheint doch seltsam provinziell und unaktuell gedacht. Unabhängig von der jeweiligen eigenen Meinung müsste der deutsche Politikjournalismus doch zumindest die Denkmöglichkeit und den Neuigkeits- und Diskussionswert anerkennen.

Ich teile vor allem auch nicht die Haltung vieler in den Medien, welche über die SPD grundsätzlich mit einem Loser-Frame berichten, also irgendwie immer zu dem Schluss kommen, dass die SPD alles falsch macht und nur verlieren kann, ob sie nun zu unscheinbar oder zu eigensinnig ist (und manche scheinen fast arrogant und mitleidig auf die einfachen Parteimitglieder zu blicken, weil sie naiv von einer sozialdemokratischen SPD träumen), und höchstens gelegentlich beiläufig zu würdigen, wenn sie de facto unsozialdemokratische Politik macht. Den genauen Grund dafür kenne ich nicht – vielleicht die Sorge, gegenüber einem eher nahestehenden Lager besonders kritisch sein zu müssen, vielleicht ein Fortwirken der fast kaiserzeitlichen Denkweise, ob die SPD denn regierungsfähig und staatstragend genug sei, oder die gefühlte Distanz zum klassischen Habitus der Sozen.

Diskurstheoretisch, sozialstrukturell oder einfach als Pascalsche Wette – mir erscheint jedenfalls ein Weiter-So aus Sicht der SPD recht abwegig. Es ist kurios, dass viele in der Presse da stärker auf althergebrachten Denkweisen beharren als die ehrlich gesagt nicht immer sehr progressive und wagemutige SPD-Basis.

Und es ist zwar sehr verständlich, aber von außen betrachtet kurios, dass der Journalismus seinen Beitrag zur Herstellung der politischen Realität kaum je anerkennt. Dabei definiert man ja mit, was radikal ist und was nicht, was die aktuellen Themen sind, was eine Klatsche für die Parteiführung und was ein normaler demokratischer Vorgang, was die Kriterien für politische Kompetenz und Führungsfähigkeit sind. Der Journalismus bestimmt mit, ob politische Maßnahmen nachvollziehbar werden oder man zunehmend zynisch wird angesichts von Personal- und Parteitaktik. Das Ergebnis, der Erfolg oder Misserfolg, wird jedoch immer auf die Parteien projiziert und damit externalisiert: Sie sind es, die nicht mit ihren Themen durchdringen konnten, alles zu einer Machtfrage gemacht und ihre Politik nicht richtig erklärt haben, und mit dem Journalismus als neutralem Vermitteln und distanziertem Kommentieren hat das nichts zu tun.

Wetterstein

Ich war vor Jahren einmal auf der Zugspitze, über den technisch leichtesten Weg, durch das Reintal. Das heißt nicht, dass es nicht anstrengend war: Es herrschten brütende Hitze und eine Mückenplage in diesem nicht endenden Tal und oben fror man dann und es ist eine recht deprimierende Sache: alles zugebaut, der Gipfel ein einziger Betonkomplex. Mittendrin das Münchner Haus, eine Alpenvereinshütte, als Denkmal des Sündenfalls, denn damit fing es da oben an und spätestens ab ihrer Errichtung herrschte Zwist im Alpenverein über das richtige Maß an Bautätigkeit in den Bergen. Nun bin ich ja prinzipiell ein Freund von Hütten, nur sollte man keine neuen bauen, wodurch allerdings das Problem entsteht, dass man in vielen kaum noch Plätze bekommt, so viele Menschen streben in die Berge. Das Münchner Haus wirkt jedenfalls wie ein Fossil, ein historisches Ausstellungsstück oder eine Kulisse in dem gesamten Komplex, der es umgibt.

Meine Wandergruppe schwor sich damals, nun sei es auch gut mit der Zugspitze, das sei ein enttäuschender Berg, ein fast traumatisches alpines Erlebnis, so idyllisch es unterhalb ist (so dösten wir friedlich eine halbe Stunde im Gras gegenüber der Reintalangerhütte, bevor wir den Weg fortsetzten). Natürlich war das auch ein wenig Standesdünkel der „Bergsteiger“ gegenüber den „Seilbahntouristen“, aber es war einfach ein trostloser und unwirtlicher Unort.

Nun gibt es aber noch je nach Zählung drei bis fünf andere Aufstiegswege. Berge und Routen werden begangen, weil es sie gibt, so lautet das postmetaphysische Dogma des Alpinismus.

Und man kann sich die Zugspitze noch mal antun, wenn man sie nicht als Berg versteht, sondern als Cyborg aus Fels, Eis, Beton und Stahl, worinnen und worauf Menschen, Fahrzeuge, Gemsen und Insekten wimmeln, Bratwürste gebraten und Biere gezapft werden, wo Selfies und politische Photo-Ops passieren, eine Mischung aus Sinai und babylonischem Turm. Alles miteinander verankert, verkabelt, verschweißt, von Tunneln und Kavernen durchlöchert und vom Permafrost zusammengeklebt. Dann fasziniert das Gebilde, wenn man es als selbst künstlich verstärkter Mensch (mit Bergschuhen, Klettersteigset, Sonnencreme, Helm, Sonnenbrille usw.) bewältigt und oben die fremden Menschen trifft, die auf ebenfalls wundersame Weise, nämlich an einem metallenen Gespinst, aufgefahren sind. Die Aufstiege sind ebenfalls ein Hybrid aus gebahnten Wegen, Stahleinbauten und Fels und Geröll, die einfach so anstehen.

Man muss ja ohnehin immer wieder in den Wetterstein zurückkehren. Denn auch die Natur selbst hat hier eine Kombination alpiner Attraktionen in solch verkehrsgünstiger Lage auf engem Raum zusammengestellt, dass es schon fast künstlich wirkt. Man führt die weniger bergaffinen Verwandten und Bekannten in die Partnach- oder Höllentalklamm, es gibt Wald, Geröll, Wände, Grate, Minigletscher, Bäche, Almen, Klettersteige – nur Murmeltiere und Edelweiß habe ich seltsamerweise noch nie gesehen. Das zeigt vielleicht, dass es doch kein kitschiges Diorama ist. Es war unumgänglich, dass Ludwig II. sich dort ein Bergschlösschen bauen ließ. Und man blickt auf den Eibsee, ein übertrieben karibisch blaugrün leuchtendes Gewässer, das Klischee eines Bergsees, aber praktischerweise im Tal.

Am höchsten Punkt des Wettersteins, eben auf der Zugspitze, gibt es sogar einen Gipfel, der gar nicht der echte Gipfel ist, sondern ein Fels, der unverbaut stehengelassen wurde, mit einem Gipfelkreuz, und man muss sogar ein wenig klettern, um draufzukommen von der gigantischen Plattform, die da ist, wo einmal der Gipfel war (wer hat den eigentlichen Gipfel gesprengt? Es kann gar nicht anders sein: die Nazis).

Warum es uns andererseits nicht egal sein sollte, ob Relotiusʼ Geschichten falsch sind

Natürlich ist es nur in gewisser Hinsicht egal, ob Relotiusʼ Geschichten falsch sind (bei der Diskussion meiner und anderer Leute Thesen in einem Kolloquium konnte ich das noch einmal deutlich manchen). Man könnte mein Argument noch mal beispielhaft so zusammenfassen: Um zu verstehen, wie er die Redaktionen und Jurys dermaßen in den Bann ziehen konnte, müssen wir verstehen, was Jurys und Redaktionen eben so in den Bann zieht und warum. Wenn wir wissen wollen, wie er mit seinen Erfindungen durchkommen konnte, müssen wir herausfinden, was insgesamt in Redaktionen gegengeprüft wird und was nicht und warum. Oder auf einen anderen Gegenstandsbereich bezogen: Wir brauchen keine Forschung zur Verbreitung von „Fake News“, wenn wir ohnehin eine Forschung zur Verbreitung von Dingen auf sozialen Medien haben, wie eine Kollegin betonte. Bei allen solchen Untersuchungen müssen wir unsere Haltung zur Wahrheit und Falschheit von Aussagen einklammern, natürlich ohne dass wir sie aufgeben müssen. Im Gegenteil, sie können uns ja durchaus motivieren und die Relevanz unseres Gegenstandes und unsere kritische Stellungnahme zu sozialem Geschehen begründen.

Jedenfalls sollte mein Argument nicht beiseite gewischt werden mit der Schelte, mit der früher auch der so genannte radikale, in Wirklichkeit aber erkenntnistheoretisch etwas platte und performativ selbstwidersprüchliche Konstruktivismus in unserem Fach versehen wurde. Die Antwort lautete damals sinngemäß: Aber wo kommen wir da hin?! Was ist dann überhaupt noch wahr?! Soll denn alles erlaubt sein, kann man jetzt einfach alles erfinden?!

Die mit dem Symmetrieprinzip gefordert Urteilsenthaltung ist aber eben paradoxerweise notwendig, um bestimmte Urteile klar fällen zu können: Wir müssen unser eigenes Urteil über die Wahrheit einer Aussage ausklammern, um ein Urteil fällen zu können, welches die beste Erklärung dafür ist, dass andere diese Aussage glauben oder nicht. Die Urteilsenthaltung, der Relativismus führen also nicht in bodenlose Zweifel, sondern zu handfesten Erkenntnissen, auf die wir uns (vorläufig) als wahr festlegen.

Diese Lage führt zu einer paradoxen Verkehrung der Lager: Ein Erzpositivist wie Bloor konnte dann in die Nähe irgendwie radikaler Postmoderner gerückt werden. Die Erzpositivisten bei uns im Fach stürzen sich auf die Forschung zu „Fake News“, obwohl sie eigentlich konsistenterweise nicht nur werturteilsfrei, sondern überhaupt mit Blick auf die fraglichen Nachrichten urteilsfrei (im Sinne von: symmetrisch) forschen müssten. Und es ist paradox, dass Forschung, die sich des Urteils enthält, manchmal provokativer und kritischer ist als eine, bei der klare Urteilskriterien, ja sogar die Urteile bereits im Vorhinein feststehen.

Aber natürlich bin ich überzeugt von der Legitimität, ja der zwingenden Notwendigkeit normativer Forschung. Die Wissenschaft kann nicht alleine einen Typus von Aussagen beackern, nämlich Realitätsbeschreibungen, sondern sie sollte sie sollte auch normative Fragen mit der ihr eigenen Gründlichkeit systematisch und methodisch bearbeiten.

Ich muss gestehen, dass ich es nun nicht sonderlich interessant finde, die Richtigkeit journalistischer Aussagen im Rahmen einer normativen Qualitätsforschung zu erheben und zu vergleichen, wie jemand nahelegte. Journalistischen Beiträgen hinterherzurecherchieren ist vielleicht eher Aufgabe von entsprechenden Fachleuten, aber man kann dies natürlich auch als eine legitime Fragestellung in der Kommunikationswissenschaft ansehen. Ähnlich die Analysen zur Verbreitung so genannter Fake News. Hier erklärt die Zuschreibung der Unwahrheit zwar nichts und Festlegung der Stichprobe kann methodisch gefährlich werden, aber die Forschung kann hier mit ihrer datenanalytischen Kompetenz zu einer Problemdiagnose beitragen, indem sie die Dynamik der Verbreitung aufzeigt. Wichtiger wäre mir aber z.B. eine gründliche Diskussion und Operationalisierung von Diskurskriterien, etwa wie Ansprüche auf Wahrheit und Wahrhaftigkeit eingelöst werden sollten, eingelöst werden oder nicht. Das würde erst einen normativen Standard liefern, den man an inner- und außerjournalistische Beiträge anlegen könnte.

Gerade auch eine kritische Forschung, die grundlegender und normativer ansetzt mit ihren Erklärungen und Funktionszuschreibungen, muss sich bei der Analyse bestimmter Zusammenhänge des Urteils enthalten, um nicht zu Fehlschlüssen und Pseudoerklärungen zu gelangen, so sehr ihre Kategorien ansonsten normativ aufgeladen sein mögen.

Meiner Auffassung nach inspiriert der Fall Relotius zu I. politökonomischen Erklärungen und entsprechender Kritik und II. zu anerkennungstheoretischen normativen Forderungen (ohne dass ich hier zur klassisch z.B. bei Fraser und Honneth diskutierten Frage Stellung nehmen möchte, in welchem Verhältnis beide Arten der Kritik stehen).

I.

Es entspann sich zunächst in besagtem Kolloquium eine Kontroverse, ob die Fälschung völlig konträr zur Logik des Journalismus oder die natürlich Fortsetzung seiner Logik sei. Zunächst scheint klar, dass erfundene Aussagen sicher nicht konform zu den Normen des Journalismus und seinem Ansehen schädlich sind. Aber das natürlich nicht falsche Beharren auf Faktentreue im Detail blendet doch auf bequeme Weise die umfassendere Frage aus, welche Realität der Journalismus insgesamt konstruiert. Dass Relotius der platten Lüge überführt werden konnte, entlastet ferner von der Frage, ob die ideologischen Implikationen seiner Geschichten nicht auch problematisch waren.

Und vor allem stellt sich ja trotzdem die Frage, ob es nicht systemimmanente Gründe gab, warum er erfand, und ob es völlig beliebig war, was er in welchem Zusammenhang erfand. Die Erklärung sollte jedoch keine allzu platte Kommerzialisierungsschelte sein. Es gibt nämlich eine teilautonome Ökonomie eines elitären Journalismus, der im Grenzfall auf zweckfreie Diskursanregung, ja -erregung oder auf Bestaunen seines Stils und seines narrativen Aufbaues statt auf reinen Massenkonsum und unmittelbare Reichweitenmaximierung abzielt (und in dem dann die exotisierende Reportage oder auch die von jeder Betroffenheit und Perspektivübernahme entlastete Diskussion à la „Oder soll man es lassen?“ gedeihen). Erst indirekt über ein ähnlich gestimmtes oder (lustvoll) empört klickendes Publikum ist er auch kommerziell einträglich, aber teilweise vom Markt abgeschirmt. Seine Währung ist eher das kulturelle Prestige, ja die innerjournalistische Anerkennung (etwa in Form von Preisen oder des seltenen Lobes des Chefredakteurs).

Es handelt sich im Grenzfall um l‚art pour l’art, etwa um eine Kunstform der Provokation (mein eigener Vortrag war ja auch ein wenig eine solche Glosse eines privilegierten Schönredners oder -denkers – trotzdem muss sich die Forschung gerade vor Fehlschlüssen und epistemologischen Problemen hüten, wenn es um viel geht, etwa um die Wahrheit oder menschenfeindliche Ideologien. Relevanz und Engagement ersetzen ja keine systematische Theoriebildung und methodische Strenge…) oder eine Kunstform des Erzählens. Trotz augenscheinlicher gesellschaftlicher Relevanz des jeweiligen journalistischen Themas gewinnen die Atmosphäre, die Stilmittel, die tieferen Narrative die Oberhand über die wirkliche Beschäftigung mit dem Gegenstand bzw. die Begegnung auf Augenhöhe und die Widerständigkeit des sozialen Sachverhaltes.

Eine Kollegin wies überdies außerhalb des Kolloquiums darauf hin, dass gewisse Felder anfällig sind für einen Personen-, ja Wunderkinder- oder Geniekult. Hier zeigen sich nach ihrer Auffassung Parallelen zu jüngeren Fälschungsskandalen in der Wissenschaft (wo ja die Unwahrheit zu verbreiten ebenfalls systemfremd, die Währung der Reputation und der Drang nach sensationellen Neuigkeiten und nach „Geschichten“, die zu schön sind um wahr zu sein, aber ebenfalls tendenziell systemimmanent sind). Der Hype um eine Person gewinnt womöglich früher oder später Macht über die Betreffenden selbst, die dann liefern müssen und entweder glauben, anders als durch Fälschung nicht mehr liefern zu können, oder vor Entdeckung sicher zu sein. Und zugleich scheut das Feld davor zurück, einen Betrugsverdacht überhaupt zu schöpfen oder, wenn doch, ihn zu äußern und ihm nachzugehen.

II.

Welchen Schaden hat Relotius nun angerichtet? Ein Kollege betonte energisch, die relevanteste Frage sei doch die, in welchen Diskursen der Fall eingewoben und als Munition gegen die etablierten Medien gewendet werde (aber auch zur Reinwaschung des regelkonformen, professionellen Journalismus in Abgrenzung zu den Betrügern herangezogen).

Nun scheint klar, dass der Fall den Lügenpresse-Rufenden in die Hände spielt. Wie sollte er auch nicht? Aber auch hier ist es interessant, einmal von der Frage zu abstrahieren, wer nun mit welcher Kritik recht hat, und die Einflüsse und Bedingungen zu erörtern, welche dafür sorgen, dass der Fall einerseits gewissen Lagern Rückenwind verlieht, andere aber gerade darin bestärkt werden, dass sich Verallgemeinerungen über den Journalismus verbieten und er gerade besonders verteidigt werden müsse.

Ein ökonomisch und risikotheoretisch ausgerichteter Beitrag im Kolloquium kam zu dem Schluss, ein materieller Schaden sei den falsch Dargestellten (so es sie denn gab, oder den in ein schlechtes Licht gerückten Gruppen) nicht direkt entstanden – höchstens schwer greifbar auf Umwegen (was noch ein Grund sein könnte, warum es keine Anreize gibt, solche Vorkommnisse mit viel Aufwand zu verhindern bzw. unwahrscheinlicher zu machen, so führte er aus).

Es entstand stattdessen vor allem Schaden der Anerkennung bei den Betroffenen. Sie wurden in ihrer gemeinsamen Eigenart und persönlichen Identität nicht ernst genommen und nicht als vollwertige Gegenüber anerkannt. Eine solche anerkennungsbezogene Kritik der Medien muss freilich von der rechtspopulistischen Medienkritik abgegrenzt werden. Auch sie fordert letztlich Anerkennung, jedoch auf eine sehr ausschließende Weise. Sie behauptet ja letztlich, dass es innerhalb eines Landes nur eine wesentliche Perspektive und eine vor allen anderen anerkennungswürdige Identität gebe: die des „wahren“, weil angestammten und einer traditionellen Kultur treuen Volkes. Dies müsse sich dann auch in den Medien äußern, die ansonsten mit allerlei Beschimpfungen belegt werden, wenn sie dem nicht Folge leisten.

Freilich nutzt der Rechtspopulismus vor allem auch Normen der Demokratie und des Journalismus, um die Presse unter Druck zu setzen: Regeln der Ausgewogenheit und neutralen Berichterstattung zielen eigentlich auf Pluralismus, aber letztlich geht es im Rechtspopulismus vor allem um den eigenen Vorteil und die Konstruktion eines Opfermythos, während er anderer politische Lager und die Identitäten und Geltungsansprüche von Minderheiten eigentlich als illegitim ansieht.

Das bringt uns dazu, auch unser eigenes öffentliches Wirken zu reflektieren. Wir müssen exklusive Anerkennungsforderungen zurückweisen und dürfen nicht naiv in Diskurse hineingehen. Sonst legitimieren wir eigentlich nicht diskursbereite Gruppen und Akteure, welche „Kritik“ und Gründlichkeit simulieren (etwa durch Ausführlichkeit, scheinbaren Klartext oder einseitige Spiele des Zweifels), aber die sich in höchst asymmetrischer und manipulativer Weise auf diskursive Regeln berufen: Viele, die es schon immer gewusst haben wollen, was sich jetzt beim Spiegel gezeigt habe, tolerieren weitaus gravierende Normverletzungen, wenn sie die eigene Seite betreffen, geben sich aber als die gründlichen und mutigen Skeptiker, wenn sie raunende Fragen ohne konkrete Anhaltspunkte formulieren, und lassen gar Triumphgeheul vernehmen, wenn tatsächliche Verfehlungen der verfeindeten Seiten offenbar werden. Sie sprechen marginalisierten Gruppen oder auch nur abweichenden Parteien die Legitimität ab, fordern aber von diesen als gleichrangig, ja letztlich als unterdrückt anerkannt zu werden. Wir können nicht alle abschreiben, die den Medien misstrauen, auch weil diese ihnen letztlich ebenfalls teilweise die Anerkennung versagt haben. Aber der Versuch, sie zu erreichen und einen Diskurs über die Begründetheit dieser und jener Medienkritik zu führen, darf nicht bedeuten, dass man die Forderung aufgibt, dass alle Seiten den jeweils anderen diejenige Anerkennung zukommen lassen muss, die sie selbst verlangen.

Warum es uns egal sein sollte, ob Relotiusʼ Geschichten falsch sind

I.

Zum Falle Relotius sagte ich neulich in meinem Medienethik-Kurs, dass er ethisch wenig Diskussionsbedarf hergebe – zumindest der grundlegende Tatbestand der Unwahrhaftigkeit liegt auf der Hand und es sind keine besonderen Rechtfertigungen absehbar. „Medienethik“ wäre hier nur die Diskussion abschreckender Beispiele, welche zwar vielleicht der moralischen Erziehung angehender Medienschaffender dienen kann, aber kein theoretisches Handwerkszeug zur Lösung echter Dilemmata liefert. Ethik sollte Reflexionstheorie der Moral sein, welche gängige Vorstellungen auch zu kritisieren erlaubt und manchmal zu kontraintuitiven Folgerungen kommt, zumindest jedoch auch etwas anspruchsvollere Probleme zu diskutieren erlaubt.

Vielleicht ergeben sich entfernter liegende ethische Herausforderungen, aber eine Medienethik und kritische Theorie der Medien haben vielleicht größere Aufgaben, etwa eine politökonomische und anerkennungstheoretische Kritik der Medien, welche die Verschwörungstheorien der „Lügenpresse“-Rufenden ebenso umschifft wie den platten Ökonomismus, nicht nur müden Kulturpessimismus aufwärmt, nicht in elitärem Dünkel auf das Publikum oder die Medienverdrossenen herabschaut, sie aber auch nicht zu durchweg kritischen Geistern verklärt, nicht die oft vagen journalistischen Normen nachplappert, die doch manchmal so höchst ausgrenzend sein und bedenkliche Weltbilder reproduzieren können, während sie den Berufsstand und seine Praxis legitimieren usw. Das soll aber hier nicht Gegenstand sein.

Die Anhängerschaft des kritischen Rationalismus wiederum wird ohnehin fordern, Werturteile aus der Untersuchung journalistischer Tätigkeiten und sogar der Verfehlungen rauszuhalten. Ob das vollständig möglich ist, wäre eine andere Sache. Interessant ist freilich, dass nach meiner Beobachtung gerade einiger der „Positivistischsten“ im Fach in gewisser Weise darauf beharren, ihre Gegenstände zu beurteilen. Sie untersuchen z.B. nicht etwa nur, welche Nachrichten überhaupt geglaubt, verbreitet usw. werden, sondern sie untersuchen heute gerne falsche Nachrichten – also solche, die sie selbst als falsch beurteilen (und ich will diese Einstufung hier überhaupt nicht kritisieren – meist wird man zustimmen können, dass es sich um Falschmeldungen handelt): nicht unbedingt Einzelfälle wie Relotius, aber etwa die vieldiskutierten „Fake News“ in ihrer Masse, ihre Verbreitung, Glaubwürdigkeit, Bekämpfung usw.

Dass die interessierenden Nachrichten falsch sind, ist natürlich kein Werturteil im engeren Sinne, aber eben ein persönliches Urteil über den Gegenstand, das nicht unbedingt nur die Relevanz begründen soll, sondern auch in die Definition des Gegenstandes eingeht. Alleine die Annahme, Irrtümer seien erklärungsbedürftiger als wahre Überzeugungen, ist bedenklich, und dass es eine gute Idee für die Stichprobenziehung sei, seine Grundgesamtheit als „alles was (in einem Bereich) falsch ist“ festzulegen, halte ich für eine erkenntnistheoretisch und methodisch gefährliche Idee.

Man stelle sich vor, jemand hätte sich vor längerer Zeit die Frage gestellt: Woher kommt der Trend zu dieser Art Reportagen, warum werden sie geschrieben und veröffentlicht, wer liest die, warum gewinnen die Preise usw.? Und dabei hätte man die Reportagen von Relotius als Fallbeispiel herangezogen. Man hätte Erklärungen gefunden, Theorien entwickelt oder geprüft, Befunde veröffentlicht usw. Dann stellt sich aber raus: Diese Reportagen waren ja falsch! Muss man jetzt die ganze Forschung wegwerfen? Nein, denn die Erklärungen für die Veröffentlichung und Rezeption bzw. Wirkungen stimmen ja nach wie vor! Relevant ist ja vor allem, wie andere diese Texte wahrgenommen haben. Gänzlich irrelevant für die Erklärungen ist, was man heute darüber weiß bzw. was ich als Forscher weiß oder (sicher) zu wissen glaube. Man darf sich also auch nicht irre machen lassen, wenn man den Fall aus der heutigen Sicht analysiert, und dem Gefühl nachgeben, dass man jetzt irgendwie anders herangehen müsste. Nur die Relevanz scheint vielleicht eine andere, erst jetzt kommt man auf die Idee, dass es da etwas zu forschen gebe (und das kann ein Problem sein, denn es kann ein seltsames Bild entstehen, wenn man nur auf bestimmte problematische Dinge achtet und nicht die unbeachteten problematisiert bzw. eine Sache einmal in ihrer Breite erforscht).

Das Argument gilt auch dann, wenn die zeitlichen Verhältnisse andere sind. Nehmen wir an, ich interessiere mich dafür, warum Leute „Fake News“ glauben (wie auch immer ich sie im Detail definiere – jedenfalls geht es um Nachrichten, die nach meiner sicheren Überzeugung falsch sind). Muss ich dann nicht auch fragen, warum die Leute Nachrichten glauben, die ich für richtig halte? Zumindest müsste das keinen Unterschied für die Erklärung machen. Wenn Leute Nachrichten glauben, die ich wahr finde, dann kann ich das ja nicht damit begründen, dass sie eben wahr sind. Das erklärt nichts und außerdem glauben manche Leute auch Dinge nicht, die ich wahr finde, und rufen dann „Lügenpresse!“ Ich muss eben davon ausgehen, was die Leute glauben, und dann nach den tatsächlichen Gründen suchen. Meine Überzeugung – so wichtig es sein mag, Überzeugungen zu haben – hilft da nicht weiter.

Man könnte natürlich sagen: Ich untersuche Vertrauen nur anhand von Nachrichten, die ich falsch finde – das ist im Moment relevanter („postfaktisches Zeitalter“ usw.). Das ist aber gefährlich, denn das ist eine seltsame Stichprobe. Ich muss also generell nach Gründen fragen, warum Leute etwas glauben (das werden natürlich unterschiedliche Gründe sein, einige da wichtiger, andere dort, andere werden keine Rolle spielen). Meine Überzeugung, was wahre und falsche Nachrichten sind, ist aber natürlich nicht unkorreliert mit den Eigenschaften, Quellen usw. von Nachrichten. Wenn ich nun die Gründe für Glaubwürdigkeit anhand von Nachrichten untersuche, die ich falsch finde und die andere glauben, so könnte das ein verzerrtes Bild liefern, da dies eben bestimmte Arten von Nachrichten mit bestimmten Eigenschaften sind. Selbst wenn ich nur Aussagen über Nachrichten mit genau diesen Eigenschaften treffen will, dann sollte ich das trotzdem nicht nur anhand der von mir für falsch befundenen tun, auf deren Grundlage ich nicht unbesehen verallgemeinern sollte. Denn dann bliebe womöglich die Frage: Warum glauben Menschen andere Nachrichten mit ähnlichen Eigenschaften nicht (die ich aber z.B. glaube und deshalb nicht untersucht habe)?

„Fake News“ sind also kein sinnvoller Forschungsgegenstand, zumindest wenn es einem um Glaubwürdigkeit geht, da ich nach Erklärungen suchen muss, ob Leute etwas glauben oder nicht, ob ich es nun glaube oder nicht. Außerdem bin ich stets verleitet, andere Erklärungen heranzuziehen, je nachdem, ob ich etwas für wahr oder falsch halte, denn das Falsche kann man nur aus irrationalen, verqueren Gründen glauben, so neigt man vielleicht zu denken, während das Wahre ja einleuchtet – oder meine besondere Einsicht eben nicht allen gegeben ist!

Hier muss man also auf so genannte Symmetrieprinzip verweisen (das aus der Wissenschaftssoziologie bzw. Wissenschaftsgeschichte kommt). Es besagt, dass die Erklärung dafür, ob eine wissenschaftliche Theorie oder irgendeine Aussage von anderen akzeptiert wird, nicht davon abhängig sein kann, ob die Aussage richtig oder falsch ist bzw. ob ich, der das erklären will, die Aussage richtig oder falsch finde. Oder anders formuliert: Wenn ich erklären will, warum andere eine Aussage glauben oder nicht, dann muss ich das auf die grundsätzlich gleiche Weise erklären, ganz gleich, ob ich die Aussage nun richtig oder falsch finde (bzw. ich darf in beiden Fällen keine Art von Gründen ausschließen). Oder noch anders: Meine eigene Haltung zum Wahrheitsgehalt einer Aussage darf keine Rolle in dieser Erklärung spielen, darf kein Faktor in dieser Erklärung sein. Das schließt natürlich nicht aus, dass diejenigen Gründe, die mich von der Richtigkeit überzeugt haben, auch andere überzeugt haben und deshalb deren Haltung zu einer Aussage erklären. Ihr Urteil kann jedoch auch von ganz anderen Dingen beeinflusst worden sein, die für mich völlig irrational erscheinen. Sie könnten (aus meiner Sicht) etwas Richtiges aus den falschen Gründen glauben. Und das Symmetrieprinzip verlangt eben auch, Überzeugungen mit gleicher Ernsthaftigkeit zu erklären, ob ich sie nun richtig oder falsch finde, und nicht etwa, entweder nur die Irrtümer oder den Sieg der Wahrheit für erklärungsbedürftiger zu halten.

II.

Der Fall Relotius ist auch nur eine Geschichte, das hat uns die Aufarbeitung durch den Spiegel gezeigt, die den gleichen Stil pflegte wie die fragwürdigen Stücke. Man kann aus Sachverhalten unterschiedliche Geschichten machen, bzw. unterschiedliche Sachverhalte rund um ein Thema herausheben, um eine Geschichte daraus zu machen – diejenige Art der Geschichte eben, die man sich vorstellt, deren Moral von der Geschichte man vermitteln will oder die einem unbewusst als Vorlage dient: Ist Relotius ein Bösewicht oder ein tragischer Held; ist es ironisch, dass jemand Dinge erfinden musste, damit man eine tiefere Wahrheit erkennt; oder ist sein Fall ein Realsatire auf den deutschen Journalismus, der gerne seine Vorurteile bestätigt sieht bzw. dem es auf eine schöne Schreibe ankommt und dem die soziale Wirklichkeit und menschliche Schicksale eigentlich egal sind? Das wären verschiedene Geschichten, die man erzählen oder auf die man anspielen könnte.

Es ist eine Frage der moralischen Wertung, nicht so sehr der sachlichen Richtigkeit, ob Relotius ein tragischer Held ist (viele würden aber halt sagen: Er ist es nicht, weil wir unter „Helden“ normalerweise eher moralisch integre Personen verstehen). Und es ist eine Frage der Urteilskraft, nicht so sehr der Richtigkeit im Detail, ob er und seine Geschichte in das Schema der Tragödie passt (viele würden aber halt sagen: Man muss sich das schon sehr zurechtbiegen, sehr selektiv hinschauen, um darin eine Tragödie zu erkennen). Die Geschichte, die wir in Ereignissen erkennen bzw. die Form, in der wie sie erzählen, ist also nicht so einfach wahrheitsfähig, sondern es geht um Wertungen (was wichtig und was richtig ist, was wir auswählen und wer Held oder Schurke ist oder etwas dazwischen, ob es sich um ein happy ending handelt oder nicht…) und um die Wahl des Erzählschemas (ob es für uns eine Tragödie, Farce, Komödie usw. ist oder nichts davon). Manches bleibt eine Frage der faktischen Richtigkeit (denn wie auch immer die Geschichte verläuft – sie zu erzählen heißt nicht einfach, sie in jeder Hinsicht zu erfinden), aber letztlich beruht die Geschichte auf Weltbildern. Was die Geschichte ist, die man in einer Sache sieht, hängt davon ab, ob man das Gute und Böse in Menschen sehen will, wohin man glaubt, dass die Gesellschaft und die Welt steuern und steuern sollten, ob man glaubt, dass die Welt so eingerichtet ist, dass das Gute letztlich belohnt wird oder das Chaos siegt, usw.

Wer glaubt denn noch an so was?, werdet ihr fragen! Erstens wahrscheinlich mehr als es eingestehen werden. Vielleicht würden wir es nicht so aussprechen, aber es zeigt sich an unseren Urteilen und Handlungen. Und zweitens ist auch der Glaube, dass man das alles nicht wissen könne, ein nur ein weiteres mächtiges Weltbild, das unsere Geschichten prägt.

Der Klassiker zur Frage, welche Geschichten wir nicht nur erfinden, sondern welche wir auch über die Wirklichkeit erzählen, welche Formen der Erzählung wir dabei wählen und welche Ideologien sich darin ausdrücken, ist das Werk von Hayden White.

Nun wurde viel über Whites Ansatz diskutiert, aber einige Ideen scheinen mir von seiner Analyse zu klassischen Werken der Geschichtsschreibung auf den Journalismus übertragbar, obwohl wiederum die Analyse journalistischer Produktion unter dem Gesichtspunkt der Narrativität auch keine neue Idee ist.

Manche journalistischen Beiträge erzählen tatsächlich chronologisch und mit erkennbarem Aufbau eine Geschichte, andere sind immerhin narrativ in dem Sinne, dass das Beschriebene konkret, bildlich vorstellbar ist. Hinter vielen Beiträgen steht auch eine implizite Geschichte, die als bekannt vorausgesetzt werden kann und nicht im Detail erzählt wird: Das Beschriebene ergibt Sinn im Rahmen einer historischen Erzählung, etwa der Erzählung von der Stimme für Trump, die sich rächt, weil er den Interessen der kleinen Leute schadet, oder der Geschichte, wie die politische Korrektheit um sich greift, wegen der man heute nichts mehr sagen darf, oder der Erzählung, dass die SPD niemals gewinnen kann, egal was sie tut, usw.

Und man erkennt die Ideologien, die mal offener, mal versteckter den Geschichten zugrunde liegen, nämlich daran, ob diese expliziten oder impliziten Geschichten gut oder schlecht ausgehen, wer darin gut und böse ist usw. Man erkennt, welches Bild sie von der Welt vermitteln, also dass z.B. nichts Gutes von Dauer ist oder dass hinter allem letztlich die gleiche Antriebskraft liegt; dass alles unvorhersehbar ist, aber meist doch gut läuft, wenn man sich nur auf die Eigeninitiative der Menschen verlässt; oder dass Nationen harmonische Ganze sind oder sein könnten usw. Das vermitteln uns journalistische Texte stets nebenbei oder sogar eindringlich, mal ganz gewollt oder mal eher unreflektiert.

White hebt gerade auch diejenige Formen der Erzählung heraus, die nicht erkennbar gut oder schlecht verlaufen, die betonen, dass sich etwas nicht in eine klassische tragische Form oder in eine Geschichte vom Sieg des Guten fügt. Der scheinbar naive Glaube an die Erzählbarkeit wird negiert, was jedoch eine ebenso grundlegende Vorstellung über die Geschichte impliziert wie andere geschichtsphilosophische Überzeugungen. Übertragen auf den Journalismus bedeutet das, dass auch die bewusst un-narrative Darstellung, die keine offenkundige „Moral“ hat, einer Überzeugung entspringt, wie Wirklichkeit „richtig“ darzustellen sei: nämlich so, dass das Leben keine Geschichten erzählt, zumindest keine klassischen. Das wirkt schön auf- oder abgeklärt, irgendwie moderner als die alten märchenhaften Erzählformen.

Was wir also von Hayden White lernen können, ist uns bewusst zu machen, welche Geschichte man erzählt oder erzählt bekommt und ob es nicht eher die Moral von der Geschichte, die zugrunde liegende Ideologie ist, die sich richtig anfühlt, obwohl wir nicht wissen (können), ob alles faktisch stimmt – oder vielleicht ahnen wir sogar, dass etwas unplausibel oder zumindest überhaupt nicht repräsentativ für ein Phänomen, sondern nur für unsere Vorurteile darüber ist, aber es fühlt sich doch irgendwie wahr an. Und selbst wenn wir versuchen, keine Geschichte zu erzählen, dann nehmen wir damit Stellung gegen all die möglichen Geschichten, die man erzählen könnte – oder erzählen eben doch eine, die uns ganz tief im Hinterkopf als Vorlage dient.

Ich will nun gar keine detaillierte Analyse liefern, welche Geschichten Relotius erzählt hat. Er hat auch nicht unbedingt nur eine Geschichte erzählt, ein Weltbild bedient, auch wenn es im Zweifelsfall oft eher dasjenige war, das gängigen Vorurteilen entsprach. Entweder den allgemein vorherrschenden oder denjenigen, die früher mal bei der taz und ihrem Publikum, später jedoch auch bei der NZZ, der Weltwoche oder dem Cicero irgendwie ankamen. Jedenfalls auch ein Weltbild, das den Jurys gefiel oder ihnen zumindest nicht aufstieß, sondern aufgrund des ganzen Erzählstils bekömmlich war.

Vielmehr will ich nur die These vertreten (die ja gar nicht so neu ist), dass die Attraktivität von Relotius‘ Beiträgen auf ihrer narrativen Form und den damit implizierten Weltbildern beruht. Daraus folgt aber, dass die Auseinandersetzung mit diesem Fall sich nicht nur auf Fragen der Wahrheit und Falschheit im Detail beschränken kann, sondern neben den Redaktionsstrukturen und grundlegenderen journalistischen Normen und Arbeitsweisen auch die Werthaltungen, Relevanzzuschreibungen, Ideologien usw. reflektieren muss, welche der Plausibilität und Attraktivität einer Geschichte zugrunde liegen. Denn diese können mindestens ebenso fragwürdig sein wie erfundene Details, wenn es etwa um gewalttätige Balkanbewohner mit archaischen Ehrvorstellungen, Trump-wählende Hinterwäldler oder einen Jungen geht, der durch Graffiti den Syrienkrieg ausgelöst haben soll (welch ein Geschichtsbild!).

Zeitungen und Ziegen

Das neurechte Denken pflegt ja eine Vision einer in homogene Völker segmentierten Welt. Zu Ende gedacht läuft das aber vor allem auf Gewalt gegen all jene hinaus, die sich dieser Einteilung nicht fügen, sei es, dass sie aus Sicht der Neurechten im falschen Land leben und deshalb entfernt werden müssen, sei es, dass sie nicht eindeutig genug in eine ethnische und kuturelle Kategorie fallen und deshalb vor unmögliche Entscheidungen gestellt, umerzogen oder eben doch zwangsweise entwurzelt werden. Die Vision läuft auf staatlich verordnete oder von einem „gesunden“ Volksempfinden diktierte Nationalkultur und auf eine Erziehung zur Missachtung von Minderheiten hinaus, ferner darauf, in vermeintlich traditionelle Geschlechterbilder und andere vermeintlich natürliche Rollen gepresst zu werden, und auf eine Wirtschaftsweise, welche Volksgemeinschaft beschwört und die Spekulation verteufelt, in der aber Ausbeutung mit Verweis auf den „natürlichem“ Platz der Einzelnen im organischen Ganzen gerechtfertigt werden kann. Mit Verweis auf das Wesen des Volkes und seinen wahren Willen kann ohne besondere Abwehrrechte auf das Leben der Volksgenossen und mehr noch der „Fremden“ durchgegriffen werden.

Im Gegensatz zum Antiintellektualismus in Teilen des Rechtspopulismus will man in diesem Segment der Rechten auch geistig satisfaktionsfähig werden, gibt schön gemachte Bücher heraus, organisiert Vorträge und Tagungen und pflegt einen altmodischen Gelehrten-Sprachstil mit gestelzt germanisierten Fremdwörtern, mit deutschtümelnden Neologismen und Anachronismen.

In verschiedenen Bereichen der Medien erfüllt man nicht nur seine wahrgenommene Pflicht, dem sicher auch aufgrund einer selbsterfüllenden journalistischen Prophezeiung in die Parlamente eingezogenen Rechtspopulismus genügend Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Man ist auch sehr bemüht, alles zu unterlassen, was einem als Unfairness gegenüber den rechtspopulistischen Parteien und Personen auslegen könnte, um sich nicht Lügenpresse-Vorwürfe einzuhandeln (diese etwas bittere Beschreibung ist natürlich unfair gegenüber jenen im Journalismus, die sich nicht auf die semantischen Spielchen einlassen, mit denen die Verharmlosungen des Nationalsozialismus und andere Tabubrüche hinterher umgedeutet werden, unfair gegenüber jenen, die Menschenfeindlichkeit klar benennen, die kommunikativen Strategien und organisatorischen Verstrickungen offenlegen, die nicht schon in ihren Fragen und Diskussionsthemen die Deutungen der Rechten übernehmen und die nicht Autoritarismus und Rassismus als die natürliche andere Seite jeder Debatte ansehen, die man ausgewogen berücksichtigen müsse). Und dann gibt es noch jene Bereiche des Journalismus, im Feuilleton und ähnlichen Ressorts, wo man die rechtspopulistische und neurechte Ideologie zum anregenden Debattenbeitrag adelt und sich belebt fühlt vom „Endlich-sagt’s-mal-einer“, sofern das Gesagte nicht pöbelnd und polternd, sondern mit Sarrazinschem Fußnotenapparat, mit (bezirks-)bürgermeisterhaften „Klartext“-Floskeln oder noch besser mit jenem oben beschriebenen altertümlichen Jargon einhergeht. Vielleicht genießt man die Aufmerksamkeit, die einem die rechtspopulistische Provokation einbringt, vielleicht verachtet man auch insgeheim – wie die Neue Rechte – ein wenig den weichgespülten Linksliberalismus, der den gestandenen Chefredakteur oder Großkolumnisten wie einen Waschlappen dastehen lässt, der laviert und klagt und vor frechen Minderheiten kuscht. Und vielleicht geht die Faszination noch weiter, gerade bei jenen, die dem neurechten Gedankengut überhaupt nicht anhängen. Es erscheint irgendwie aufregend, gefährlich (nicht zuerst im Sinne von Brutalität, die ja verschleiert bleibt und die man nur ahnt, sondern intellektuell). Die ganze Inszenierung mancher neurechter Denker und Aktivisten weckt Nostalgie, scheint Authentizität auszustrahlen (oder müsste man deutsch und heideggerisch sagen: „Eigentlichkeit“?). Dann pilgert man nach Schnellroda und beschreibt mit wohlig-grausendem Erschaudern, aber auch irgendwie bewundernd ein Ehepaar, das sich siezt, die Ziegen, die Schlachtplatte und alles. Dann überlegt man, ob man es sich in den heimeligen, heimatlichen Begriffen der Rechten nicht doch bequem machen könnte, „statt sie ihnen zu überlassen“.

Nun etwas ganz anderes. Ich habe vor einer Weile mit Freude eine Studie mitpubliziert (die Idee dazu kann ich nicht selbst in Anspruch nehmen, sondern ich habe nur ein wenig mitgeholfen): ein Experiment, das zeigt, dass eine Zeitung bereits als dadurch politisch weiter rechts oder links wahrgenommen wird, dass sie in einem traditionelleren oder moderneren Layout präsentiert. Das erschien mir einerseits hochplausibel, faszinierend und bedeutsam, andererseits aber doch, bei aller Begeisterung für die Studie, ein kleiner Effekt unter vielen, die in der alltäglichen Mediennutzung unsere Wahrnehmung bestimmen. Es handelt sich eben um Grundlagenforschung, die daran erinnert, dass unsere Wahrnehmungsschemata des Politischen nicht nur auf Sprachverstehen zu reduzieren sind, dass Bilder, Schriftarten, Farben, Seitenaufbau, Initialen etc. eigene Botschaften vermitteln.

Zurück zu den Neuen Rechten. Mir kommt es hier nicht auf eine detaillierte Rekonstruktion und Kritik des entsprechenden Weltbildes an. Das ist ja an verschiedener Stelle bereits geschehen und der Gegenstand dieses Blogs ist ja eigentlich das Synästhetische, also die Entsprechungen zwischen den verschiedenen Modi des Wahrnehmens und auch des Denkens. Mir fiel eine interessante Anekdote auf, die vielleicht gerade jene ansprechen müsste, die vom neurechten Denken fasziniert sind, gerade auch ohne ihm anzuhängen. Sie deutet ästhetisch an, was ansonsten natürlich auch durch detaillierte Analyse nachgewiesen werden könnte: dass jenes Denken überhaupt nicht so intellektuell abenteuerlich ist, dass sich hinter der romantischen Rhetorik, an deren Lippen – so stellt man es sich vor – drahtige rotbäckige Jünglinge mit Seitenscheiteln (und Instagram-Account) in Rittersälen hängen, etwas ungemein Spießiges, Borniertes verbirgt. Die Anekdote ist schnell erzählt: Björn Höcke erwähnte bei einem Auftritt, er habe vor 15 Jahren sein Abonnement der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gekündigt, weil diese anfing, Farbfotos auf die Titelseite zu drucken und die neue Rechtschreibung zu nutzen. Damit war sie für ihn keine konservative Zeitung mehr. Hinter dem ganzen Pseudo-Tiefsinn und Pathos seiner Reden und Schriften erscheint der spießige Studienrat, der am Frühstückstisch über die Zeitung gebeugt über den Kulturverfall zetert.

(Nun werdet ihr sagen: Ist das nicht ein arger Nebenkriegsschauplatz? Stilkritik statt Widerstand? In der Tat, diese Anekdote sollte lediglich einer vielleicht recht kleinen Zielgruppe zu denken geben, die gerne ironischen oder bierernsten rechtspopulistischen „Klartext“ druckt und gerne vor den neurechten Denkern erschaudert – wo doch beides so wenig Klarheit hat und seine letzten Konsequenzen im Unklaren lässt. Reißt euch los und blickt auf die geschehende und heraufbeschworene Gewalt, diskutiert die Ursachen und Hintergründe des Rechtsrucks, seine Verbindungen zum Mainstream, bringt Gegenentwürfe zum völkischen Denken, statt euch von Ziegen, Wortspielchen und Pathos ablenken zu lassen!)

Bayern und die Moderne

Wer unter diesem Titel billige Späße oder Polemik über das rückständige Bayern erwartet oder Hurra-Lokalpatriotismus, kennt mich schlecht (ähem, naja…). Stattdessen gibt es aus aktuellem Anlass eine kurze Bemerkung über die Theorie der modernen Gesellschaft. Vielleicht mit ein bisschen Polemik.

Die bayerische Politik wird von Zeit zu Zeit von Absonderungs-Fantasien heimgesucht. Irgend eine Gruppe soll von der Normalbevölkerung getrennt verwahrt werden. Einst waren es die HIV-Infizierten, in jüngerer Zeit die Asylsuchenden und Geflüchteten, und nun sollen auch die psychisch Kranken mit besonderer Gründlichkeit untergebracht und gesichert werden. Die Begründung lautet immer, dass man nur so den besonderen Problemlagen der Betroffenen gerecht werden, die staatlichen Abläufe vereinfachen und den Rest der Gesellschaft schützen oder besondere Belastungen oder Gefahren von ihm fernhalten könne.

Damit hat man die gesellschaftliche Moderne maximal genau zur Hälfte verstanden. Denn sie beruht in der Tat auf Differenzierung, oder wenn man will: Spezialisierung. Insbesondere gibt es auch eine Fülle staatlicher und gemeinnütziger Einreichtungen (oder Abteilungen derselben), die jeweils auf spezifische Problemlagen von Personengruppen reagieren – auch wenn diese Probleme natürlich immer noch schematisch in Kategorien eingeteilt werden müssen, also z.B. Arbeitslosigkeit, Todesfälle bei Haustieren, Unternehmensgründung, Unfälle in den Bergen, Drogenabhängigkeit usw. Aber Moderne besteht genau darin, dass eine Person nicht von genau einer einzelnen Institution zur Gänze erfasst werden kann. Totale Institutionen wie das Kloster, das Gefängnis, die geschlossene Abteilung psychiatrische Kliniken usw. neigen heutzutage auch zu einer Abschwächung ihres ganzheitlichen Anspruchs: Auch sie wollen und können nicht wirklich das gesamte Leben ihrer Klientel bzw. Mitglieder regeln (sie konnten es sicher nie vollständig, da es immer noch andere soziale Bezüge gab, aber heute wird das schwieriger und vielleicht illegitimer denn je). Und vor allem sind sie eine Ausnahme, nicht der Normalfall der modernen Gesellschaft, in der praktisch alle an den verschiedensten sozialen Aktivitäten, also Familienleben Bildung Wirtschaft usw., teilnehmen und das teilweise auch als Recht aufgefasst wird. Niemand ist nur und als einzige Eigenschaft geflüchtet, nur von Zwangsgedanken betroffen, nur gehörlos, sondern will sich z.B. ein Eis kaufen, die Zeitung lesen, seine Tante anrufen, anderen seine Meinung über den Ministerpräsidenten sagen, an einem Gottesdienst teilnehmen usw. Eine Politik, die Personen nur unter einem Aspekt erfasst, z.B. als krank, mit einer „Lernbehinderung“, mit geduldetem Aufenthaltsstatus usw., und daraus alle oder die meisten weiteren Entscheidungen bezüglich dieser Personen ableiten will, andere Bedürfnisse und Ansprüche nur als notgedrungen zu erfüllende oder gar rechtlich nicht bindend betrachtet, so eine Politik wird also der Komplexität der Moderne nur halb bzw. zu einem winzigen Bruchteil gerecht – nämlich zu genau zu dem Bruchteil, den diese einzelne Eigenschaft an den gesamten Eigenschaften der jeweiligen Menschen ausmacht, so bestimmend sie im Einzelfall für das Leben einer Person sein mag. Und diese Fokussierung auf einzelne Eigenschaften ist eine selbsterfüllende Prophezeihung, wenn alle Lebensäußerungen mit Blick auf diese beschränkt oder auf diese hin gedeutet werden: Man droht immer mehr nur noch die typische Person mit dieser Eigenschaft zu werden und sogar Widerstand wird als Zeichen dafür genommen, dass man eben so ist.

Natürlich ergibt sich aus dieser Beschreibung der Gesellschaft nocht nicht direkt, welche Politik gemacht werden soll. Das ist nicht nur eine Frage der Gesellschaftsdiagnose, sondern eine der Wertsetzungen. Aber die Neigung zur Absonderung abweichender Gruppen deutet auf ein bestimmtes Gesellschaftsbild, das die soziale Welt immer nur so begeift, dass die Bevölkerung nach jeweils nur einem Gesichtspunkt eingeteilt wird, statt als Geschehen, in das alle auf je verschiedene Weise eingebunden sind, so dass Einzelne jeweils an den unterschiedlichsten Aktivitäten, Kulturen, Sprachen, Themen, Problemen usw. teilhaben können. Und jenes Gesellschaftsbild ist asymmetrisch: Alles wird aus Sicht derer betrachtet, die dazugehören, nicht der „anderen“. Die drinnen sind Subjekte der Politik, die anderen Objekte; die drinnen sind der Maßstab, dem sich die anderen anpassen müssen, wenn sie nicht abgesondert werden wollen; die drinnen haben die Tradition, die herrschende oder „Leitkultur“, die konventionellen Sitten, die medizinische Norm usw. auf ihrer Seite, die anderen weichen ab, lösen gar die Maßstäbe auf und bringen alles in Unordnung.

„Bayern“ ist hier natürlich nur ein Symbol für ein allgemeineres Phänomen, für jegliche Gesellschaftsvorstellung und Politik, welche die Welt aus der Innensicht einer angestammten, normgemäßen Gruppe betrachtet und alle anderen Menschen nach ihrer jeweils vermeintlich hervorstechendsten Eigenschaft als Problem behandelt. Umgekehrt könnte „Bayern“ – allerdings nicht das reale oder gar vergangene, sondern ein utopisches – für jene Gemütlichkeit und regelrechte Idylle stehen, an der man alle gerne teilhaben lässt.