Synästhetische Soziologie

Versuche und Unterweisungen, die Gesellschaft mit Sinn und Verstand zu begreifen

Kategorie: Sinnliches

Zeitungen und Ziegen

Das neurechte Denken pflegt ja eine Vision einer in homogene Völker segmentierten Welt. Zu Ende gedacht läuft das aber vor allem auf Gewalt gegen all jene hinaus, die sich dieser Einteilung nicht fügen, sei es, dass sie aus Sicht der Neurechten im falschen Land leben und deshalb entfernt werden müssen, sei es, dass sie nicht eindeutig genug in eine ethnische und kuturelle Kategorie fallen und deshalb vor unmögliche Entscheidungen gestellt, umerzogen oder eben doch zwangsweise entwurzelt werden. Die Vision läuft auf staatlich verordnete oder von einem „gesunden“ Volksempfinden diktierte Nationalkultur und auf eine Erziehung zur Missachtung von Minderheiten hinaus, ferner darauf, in vermeintlich traditionelle Geschlechterbilder und andere vermeintlich natürliche Rollen gepresst zu werden, und auf eine Wirtschaftsweise, welche Volksgemeinschaft beschwört und die Spekulation verteufelt, in der aber Ausbeutung mit Verweis auf den „natürlichem“ Platz der Einzelnen im organischen Ganzen gerechtfertigt werden kann. Mit Verweis auf das Wesen des Volkes und seinen wahren Willen kann ohne besondere Abwehrrechte auf das Leben der Volksgenossen und mehr noch der „Fremden“ durchgegriffen werden.

Im Gegensatz zum Antiintellektualismus in Teilen des Rechtspopulismus will man in diesem Segment der Rechten auch geistig satisfaktionsfähig werden, gibt schön gemachte Bücher heraus, organisiert Vorträge und Tagungen und pflegt einen altmodischen Gelehrten-Sprachstil mit gestelzt germanisierten Fremdwörtern, mit deutschtümelnden Neologismen und Anachronismen.

In verschiedenen Bereichen der Medien erfüllt man nicht nur seine wahrgenommene Pflicht, dem sicher auch aufgrund einer selbsterfüllenden journalistischen Prophezeiung in die Parlamente eingezogenen Rechtspopulismus genügend Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Man ist auch sehr bemüht, alles zu unterlassen, was einem als Unfairness gegenüber den rechtspopulistischen Parteien und Personen auslegen könnte, um sich nicht Lügenpresse-Vorwürfe einzuhandeln (diese etwas bittere Beschreibung ist natürlich unfair gegenüber jenen im Journalismus, die sich nicht auf die semantischen Spielchen einlassen, mit denen die Verharmlosungen des Nationalsozialismus und andere Tabubrüche hinterher umgedeutet werden, unfair gegenüber jenen, die Menschenfeindlichkeit klar benennen, die kommunikativen Strategien und organisatorischen Verstrickungen offenlegen, die nicht schon in ihren Fragen und Diskussionsthemen die Deutungen der Rechten übernehmen und die nicht Autoritarismus und Rassismus als die natürliche andere Seite jeder Debatte ansehen, die man ausgewogen berücksichtigen müsse). Und dann gibt es noch jene Bereiche des Journalismus, im Feuilleton und ähnlichen Ressorts, wo man die rechtspopulistische und neurechte Ideologie zum anregenden Debattenbeitrag adelt und sich belebt fühlt vom „Endlich-sagt’s-mal-einer“, sofern das Gesagte nicht pöbelnd und polternd, sondern mit Sarrazinschem Fußnotenapparat, mit (bezirks-)bürgermeisterhaften „Klartext“-Floskeln oder noch besser mit jenem oben beschriebenen altertümlichen Jargon einhergeht. Vielleicht genießt man die Aufmerksamkeit, die einem die rechtspopulistische Provokation einbringt, vielleicht verachtet man auch insgeheim – wie die Neue Rechte – ein wenig den weichgespülten Linksliberalismus, der den gestandenen Chefredakteur oder Großkolumnisten wie einen Waschlappen dastehen lässt, der laviert und klagt und vor frechen Minderheiten kuscht. Und vielleicht geht die Faszination noch weiter, gerade bei jenen, die dem neurechten Gedankengut überhaupt nicht anhängen. Es erscheint irgendwie aufregend, gefährlich (nicht zuerst im Sinne von Brutalität, die ja verschleiert bleibt und die man nur ahnt, sondern intellektuell). Die ganze Inszenierung mancher neurechter Denker und Aktivisten weckt Nostalgie, scheint Authentizität auszustrahlen (oder müsste man deutsch und heideggerisch sagen: „Eigentlichkeit“?). Dann pilgert man nach Schnellroda und beschreibt mit wohlig-grausendem Erschaudern, aber auch irgendwie bewundernd ein Ehepaar, das sich siezt, die Ziegen, die Schlachtplatte und alles. Dann überlegt man, ob man es sich in den heimeligen, heimatlichen Begriffen der Rechten nicht doch bequem machen könnte, „statt sie ihnen zu überlassen“.

Nun etwas ganz anderes. Ich habe vor einer Weile mit Freude eine Studie mitpubliziert (die Idee dazu kann ich nicht selbst in Anspruch nehmen, sondern ich habe nur ein wenig mitgeholfen): ein Experiment, das zeigt, dass eine Zeitung bereits als dadurch politisch weiter rechts oder links wahrgenommen wird, dass sie in einem traditionelleren oder moderneren Layout präsentiert. Das erschien mir einerseits hochplausibel, faszinierend und bedeutsam, andererseits aber doch, bei aller Begeisterung für die Studie, ein kleiner Effekt unter vielen, die in der alltäglichen Mediennutzung unsere Wahrnehmung bestimmen. Es handelt sich eben um Grundlagenforschung, die daran erinnert, dass unsere Wahrnehmungsschemata des Politischen nicht nur auf Sprachverstehen zu reduzieren sind, dass Bilder, Schriftarten, Farben, Seitenaufbau, Initialen etc. eigene Botschaften vermitteln.

Zurück zu den Neuen Rechten. Mir kommt es hier nicht auf eine detaillierte Rekonstruktion und Kritik des entsprechenden Weltbildes an. Das ist ja an verschiedener Stelle bereits geschehen und der Gegenstand dieses Blogs ist ja eigentlich das Synästhetische, also die Entsprechungen zwischen den verschiedenen Modi des Wahrnehmens und auch des Denkens. Mir fiel eine interessante Anekdote auf, die vielleicht gerade jene ansprechen müsste, die vom neurechten Denken fasziniert sind, gerade auch ohne ihm anzuhängen. Sie deutet ästhetisch an, was ansonsten natürlich auch durch detaillierte Analyse nachgewiesen werden könnte: dass jenes Denken überhaupt nicht so intellektuell abenteuerlich ist, dass sich hinter der romantischen Rhetorik, an deren Lippen – so stellt man es sich vor – drahtige rotbäckige Jünglinge mit Seitenscheiteln (und Instagram-Account) in Rittersälen hängen, etwas ungemein Spießiges, Borniertes verbirgt. Die Anekdote ist schnell erzählt: Björn Höcke erwähnte bei einem Auftritt, er habe vor 15 Jahren sein Abonnement der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gekündigt, weil diese anfing, Farbfotos auf die Titelseite zu drucken und die neue Rechtschreibung zu nutzen. Damit war sie für ihn keine konservative Zeitung mehr. Hinter dem ganzen Pseudo-Tiefsinn und Pathos seiner Reden und Schriften erscheint der spießige Studienrat, der am Frühstückstisch über die Zeitung gebeugt über den Kulturverfall zetert.

(Nun werdet ihr sagen: Ist das nicht ein arger Nebenkriegsschauplatz? Stilkritik statt Widerstand? In der Tat, diese Anekdote sollte lediglich einer vielleicht recht kleinen Zielgruppe zu denken geben, die gerne ironischen oder bierernsten rechtspopulistischen „Klartext“ druckt und gerne vor den neurechten Denkern erschaudert – wo doch beides so wenig Klarheit hat und seine letzten Konsequenzen im Unklaren lässt. Reißt euch los und blickt auf die geschehende und heraufbeschworene Gewalt, diskutiert die Ursachen und Hintergründe des Rechtsrucks, seine Verbindungen zum Mainstream, bringt Gegenentwürfe zum völkischen Denken, statt euch von Ziegen, Wortspielchen und Pathos ablenken zu lassen!)

Breaking Bad

In meinem Fach ist immer eher die Botschaft die Botschaft als das Medium (für Marshall McLuhan war ja bekanntlich das Medium die Botschaft – Inhalt egal). Bei neuen Medien ist aber dann doch oft die Botschaft die Botschaft. Man interessiert sich mehr dafür, wie es funktioniert und was es ermöglicht, als was so verbreitet und angeboten wird. Bei den tollen neuen Streamingdiensten à la Netflix fällt natürlich sofort auf, dass man sie zeitunabhängig nutzen kann. Auch unabhängig von der Zeit, zu der man eigentlich ins Bett gehen oder an seiner Dissertation weiterschreiben sollte. Es formen sich neue Nutzungspraktiken: Netflix and chill (wobei, ist das überhaupt eine Nutzungspraxis?) und vor allem Binge Watching. Was bedeutet das aber für die Botschaft? Die verbreitete Neigung, mehrere Folgen einer Serien hintereinander zu schauen, kann dann dazu führen, dass diese Serien romanhafter statt episodenhafter werden, also eine durchgehende Geschichte erzählen. Das war aber bereits bei anderen Serien zu beobachten, die sich ein ausreichendes Stammpublikum etabliert hatten.

So weit, so leidlich durch das Medium determiniert. Siehe auch z.B. die Neigung der Netflix-Originalproduktionen zum Filmischen statt zum Fernsehhaften. Ihre vorläufige Steigerung findet diese Entwicklung in den Bildkompositionen und der Inszenierung von eigentlich für Filmcrews unzugänglichen Originalschauplätzen in House of Cards und The Crown (und in ihren Soundtracks). Der eigentliche Filmkatalog ist demgegenüber eher dünn und altbacken. Liegt das an der digitalen Übertragungstechnik und hohen Auflösung oder eher an den Ansprüchen des Unternehmens und der Zielgruppe?

Ich will aber auf eine inhaltliche Besonderheit eingehen, die nicht rein technisch bedingt scheint. Vielleicht hält das einer strengen Auszählung nicht stand, aber mein Eindruck ist, dass viele der prominentesten Eigenproduktionen und eine nicht unerhebliche Zahl eingekaufter Serien einem bestimmten Prinzip folgen. Zumindest jene Serien, würde ich meinen, welche die Plattform für ein bestimmtes Milieu attraktiv machen und nicht einfach nur den Katalog auffüllen. Ich will mir jetzt mal meine schöne These nicht von irgendwelchen Zahlenverhältnissen kaputtmachen lassen, sondern sie erst einmal vorstellen. Was zeichnet also House of Cards und Orange is the New Black aus, und auch einige eingekaufte Serien, bei denen Netflix‘ technische Funktionsweise nicht alleine ursächlich sein kann: Breaking Bad, White Collar, Dr. House, Suits…? (An den letzten drei kann man beispielhaft zeigen , wie eine Serie netflixhafter wird, wenn sie sich etabliert, auch wenn dies eben weniger aus der netflixhaften Technik heraus, sondern aus der Loyalität der Nutzerschaft oder dem Streben danach geschieht: Das ursprüngliche Treatment, der zentrale Witz, die Idee der Serie,sind ausgelaugt, die Episoden erstarren in ihrer schematischen Form. Zeit also, die Serie abzusetzen oder umzubauen: Die Figuren werden von statischen Typen zu echten entwicklungsfähigen Charakteren – etwa die zunehmende charakterliche Tiefe der Figur des Louis Litt. Die sachlichen Probleme, die Fälle – gleich ob Kriminalfälle, Rechtsstreitigkeiten, Patienten usw. – treten in den Hintergrund, durchgehende Handlungsstränge werden dominant.)

Es scheint klar, dass sich z.B. Figuren wie Harvey Specter und Jessica Pearson, ihre Widerspiegelung in den Ambitionen Mike Ross‘ und Rachel Zanes, und, für sich stehend, Donna, dass sich also solche Figuren von denjenigen in vorabendlichen Arzt- und Polizeiserien unterscheiden. Sie wären dort mit ihrer souveränen Arroganz (oder ihrem Streben danach und ihrer Verletzlichkeit) schlecht vorstellbar: Sie bräuchten, wenn sie schon so sind, noch fiesere und schmierigere Attribute und müssten am Ende einer einzelnen Folge scheitern (etwa nachdem sie erfolglos andere Fieslinge vor Gericht vertreten haben, welche den Fortbestand der Arztpraxis bedrohen oder alte Omas betrügen). Von Walter White, Gregory House oder Claire Underwood ganz zu schweigen…

Dass man überhaupt darüber streiten kann, wen man z.B. in Suits interessanter oder attraktiver findet (#teamharvey #teamdonna), und sich nicht etwa mit Abscheu über die moralische Unvollkommenheit und Arroganz abwendet, erscheint doch erklärungsbedürftig.

Klassisch hat man sich vor allem gefragt, warum sich Menschen traurige Geschichten antun – das sad film paradox oder paradox of tragedy. Die Vorliebe für das Melancholische und die Tragödie gilt immer noch ein wenig als Ausweis von Feinfühligkeit und kultiviertem Geschmack.

Die Netflix-Klientel hat dieses Phänomen aber ein wenig durch das bad boys/girls paradox verdrängt. Die Vorliebe dieses zahlungsbereiten und oft wohl etwas höher gebildeten Publikums (oder ihres Freundeskreises, das den Account umsonst mitnutzt) richtet sich auf Hauptfiguren, die nicht immer gesetzestreu, zumindest aber oft grob unhöflich oder irgendwie unsittlich sind, mit denen man aber trotzdem mitfiebert. Das ist natürlich nichts völlig Neues, sondern man kennt das aus Gaunerkommödien, Film Noir und Mafiafilmen. Aber diese neueren Produktionen haben das Prinzip perfektioniert und offenbar kommt eine Zielgruppe zusammen, die das in besonderem Maße goutiert.

Auch in den dokumentarischen Eigenproduktionen zeigt sich eine gewisse Tendenz zu diesem Paradox. Man ist eventuell geneigt, mit Amanda Knox und Steven Avery (von dem Making a Murderer handelt) zu fühlen. Sie stellen sich zwar aus Sicht der Dokuserien als unschuldig heraus, wurden aber immerhin Teilen der Öffentlichkeit als Bestien angesehen. Man würde sich diese Dokumentationen also nicht unbedingt anschauen, wenn einem nach zweifelsfreien Heldinnen, moralischen Übermenschen oder Sympathieträgern mit kleinen Marotten verlangte (welche die Hauptfiguren nicht sind) – natürlich aber auch nicht, wenn einem der Sinn nach einer heilen Welt stünde (denn selbst wenn der Schrottplatz und die Abgeschiedenheit der Averys als irgendwie authentisch inszeniert werden, so durchzieht die Dokumentation doch eine tiefe Traurigkeit über ihre Lebensweise, ihre Ausgrenzung und ihre Hilflosigkeit, wenn sie nicht wissen, wie ihnen geschieht).

Was sind nun die Ursachen für das Paradox? Ist es der formale Aufbau einer Geschichte? Eventuell erwartet man schon aufgrund seiner Erfahrung mit konventionellen Filmen und anderen Erzählungen, dass zu Anfang eine Hauptfigur eingeführt wird, aus deren Perspektive im Wesentlichen erzählt wird und mit der zu identifizieren es sich lohnt, weil sie aufregende Prüfungen besteht, aber mit ihr schlussendlich auch das Gute siegt. Vielleicht übertragen wir also diese Erwartung auch auf diejenigen Fälle, in denen die Hauptfigur eigentlich nach klassischen Regeln gar nicht so gut ist.

Werden den Charakteren einfach genügend andere positive Züge zugeschrieben? Die klassischen Gaunerkommödien haben ihre Hauptfiguren als liebenswerte Schlitzohren oder sympathische Trottel gezeichnet. Das trifft auf die neueren Serien nicht unbedingt zu – hier geht es nicht um das gewitzte Klauen, sondern um Macht. Trotzdem finden sich positive Attribute in Aussehen, Stil, Loyalität, Liebe und Sex der Hauptfiguren. Und immerhin vermeiden diese neuen Geschichten, den Hauptfiguren bestimmte negative Seiten und Handlungen zuzuschreiben, die – zumindest gemessen an den Regeln des jeweiligen Genres – diese Figuren dann doch jede Sympathie kosten würde. Frank Underwood stellt einen diesbezüglich z.B. sehr auf die Probe, denn die Welt der Serie ist doch sehr nah an der Realität angesiedelt und er begeht durchaus Schwerwiegendes (in anderen Welten ist es ja durchaus legitim, Widersacher mit allen Mitteln auszuschalten). Womöglich ist es gerade diese Ambivalenz, welche die Attraktivität dieser Geschichten bedingt– die Herausforderung, mit sich selbst auszumachen, was man noch vertretbar findet (was dem Erleben eine gewisse reizvolle Komplexität gibt), oder die Angstlust: die gespannte Aufmerksamkeit, ob die Hauptperson nicht doch etwas tut, was man nicht mehr gutheißen kann (jede neue Folge von Breaking Bad macht es einem diesbezüglich schwerer).

Es mag vielleicht auch an der Lust der Übertretung liegen. Wenn es keine Konsequenzen hat, kann man das unmoralische, aber ja doch irgendwie faszinierende Verhalten (die Machtausübung, das ungetrübte Selbstbewusstsein, das ungehemmte Streben nach Besitz, die entwürdigende Bestrafung für Widersacher usw.) auskosten – eine moralische Befreiung im Modus des filmischen Als-Ob.

Gemeinsam mit der Kontinuität der Geschichten ermöglicht schließlich die drohende Strafe für die Hauptfiguren (die gerichtliche, aber auch durch die Wählerschaft, das Zerbrechen einer Beziehung usw.) eine ganz andere Fallhöhe. Diese Serien können statt Problem und Auflösung in derselben Episode eine Katastrophe und eine Wiederauferstehung über viele Folgen hinweg inszenieren. Das ist weitaus aufregender (wenn man denn eine gewisse Aufregung anstelle von Seichtigkeit schätzt), aber nur eine vielleicht wichtige Folge des Paradoxes, wohl aber nicht seine alleinige Erklärung. Denn immerhin würde sich ein solcher Verlauf ganz anders darstellen, stünde man nicht auf der Seite der Hauptfiguren. Aber hier trifft sich das Paradox mit der technisch und durch die Nutzungsweisen beförderten Kontinuität und den Vorlieben eines bestimmten Milieus, das vielleicht immer noch ein wenig melancholisch, aber zunehmend auch gerne machiavellistisch unterhalten werden möchte.

Ganz erklärt ist das Paradox aber nicht. Es wäre also Zeit, die gute alte Unterhaltungsforschung in der Medienpsychologie, vielleicht mit einem Schuss Kultursoziologie, Filmanalyse und Erzähltheorie, wieder stärker zu beleben, die durch das sad film paradox so erheblich stimuliert wurde. Denn vielfach ist sie dazu übergegangen zu analysieren, wie Medien, und insbesondere auch unterhaltende, unser Leben besser und uns zu besseren Menschen machen (uns gesünder, sicherer, zu besseren Staatsbürgerinnen usw. – was natürlich eine lobenswerte Absicht sein kann), statt das Rätsel zu lösen, warum etwas unser Leben oft so schön macht, wenn auch manchmal schön traurig oder schön böse: ein guter Film, eine gute Serie.

Körbe und Gründe

Wissen wir immer die Gründe unserer Urteile? Keineswegs – wir kennen ja alle die Rede vom Bauchgefühl. Gerade über die Vorstellungen darüber, was welchem Geschlecht zusteht, für es typisch ist und wie die Geschlechter zueinander stehen, legen wir nicht immer Rechenschaft ab (und täten wir es, kämen wir womöglich zu ganz anderen Ergebnissen, oder dazu, dass das ganze Spiel Unsinn ist). Es erscheint uns, oder vielen oder meistens, als natürlich. Damit meine ich nicht einmal: biologisch begründet. Die ganzen biologischen Begründungen sind nachgeschoben. Die Geschlechterverhältnisse nehmen wir oft (selbst wenn wir das Gegenteil anstreben) als natürlich wahr. In dem Sinne, dass es eben so ist, selbstverständlich; es uns gar nicht in den Sinn kommt, dass es anders sein könnte, Punkt (es ist ein praktischer, kein theoretischer, reflektierte Sinn, den alles dann für uns ergibt, also einer, der sich in Alltagshandeln und alltäglichen Urteilen ausdrückt, nicht im Grübeln und in überlegten Äußerungen). Keine weiteren Begründungen, denn das würde ja schon bedeuten, dass es Gründe bräuchte, dass man sich und andere davon überzeugen müsste oder es zumindest etwas Rätselhaftes hätte, dass man nachforschen müsste.

Rätselhaft sind dann aber die Gründe unserer Urteile – nicht die bewussten, nennbaren Gründe, also etwa die Argumente, das sei von Natur aus so, weil…, oder das sei eine Frage der Erziehung, gehe auf den Einfluss von Germany’s Next Topmodel zurück, usw. Sondern die Grundlagen dessen, dass wir etwas für selbstverständlich halten. Ich gebe einige Beispiele und lade ein, gemeinsam nachzuforschen, welche diese Gründe sein könnten. Die Methode wird die der schrittweisen Variation sein. Wir ändern bestimmte Merkmale und schauen, ob sich unser intuitives Urteil ändert.

Was ganz Banales. Ist euch schon mal aufgefallen, dass fast ausschließlich Frauen Körbe an ihren Fahrrädern haben? Ich hab’s mal auf dem Heimweg (per Fahrrad, ohne Korb, aber ich besitze einen) beobachtet. Praktisch alle Radfahrenden mit Korb waren Frauen, praktisch kein Mann fuhr ein Rad mit Korb. Bei den abgestellten Damenrädern hatte die Mehrheit einen Korb, von den Herrenrädern nur wenige (die Zuordnung zu Personen ist nicht ganz eindeutig, aber man davon ausgehen, dass zumindest Damenräder überwiegend von Frauen genutzt werden und sehr viele Herrenräder von Männern). Körbe sind ja praktisch, aber Männlichkeit und Weiblichkeit ist meist keine Frage des Funktionalen. Wir können ja den praktischen Sinn des Fahrradkorbs ausloten und sehen, ob wir ihn darauf reduzieren können.

Wir können uns mal Folgendes fragen: Wären die Frauen unter euch ratlos, wohin mit ihrer Handtasche, hätten sie keinen Fahrradkorb? Was, wenn sie keine Handtasche hätten? Erscheint es euch allen sinnvoller, einen Korb fest zu montieren (was Vorteile hat, aber mit dem Nachteil, dass man gewisse sperrige Gegenstände nicht transportieren kann – das müsste ja beide Geschlechter betreffen!) oder ihn immer abzunehmen? Wie urteilen Männer und Frauen ästhetisch über Räder mit Körben (sind Körbe sportlich, spießig, heimelig…)?

Aus alledem können wir dann erschließen, ob der Korb eine Fortsetzung der Handtasche ist (und uns fragen, was an der Handtasche in unserer Kultur „weiblich“ ist), ob Frauen eher mit kleinteiligeren Transporten verbunden werden, welche ästhetischen Maßstäbe mit Rädern von Männern und Frauen und mit Männlichkeit und Weiblichkeit überhaupt assoziiert sind.

Ganz anderes Thema. Eine jüngere, attraktive, aber nicht übermäßig reiche Frau, die eine Beziehung mit einem älteren, wohlhabenden Mann unterhält. Ich darf einmal unterstellen, dass vielen das irgendwie – ja wie eigentlich vorkommt? Es ist nichts Neues, aber irgendwie nimmt man es doch nicht als normal und gut hin. Was genau stört einen daran, wenn es einen denn stört? Wir können versuchen, das herauszufinden, indem wir verschiedene Elemente variieren und überlegen, ob die Bedenken der Bedenkentragenden dann wegfallen würden. Was, wenn sie immer ihre Rechnungen selbst bezahlt? Wenn sie keinen Sex hätten? Er der verwitwete Vater ihres verstorbenen gleichaltrigen Mannes wäre? Sie seine Chefin wäre (wenn auch eine weniger gut bezahlte, vielleicht irgendwas Öffentliches oder Gemeinnütziges, und sein Vermögen wäre geerbt, usw.)? Sie sich in eine Chat sehr intim kennengelernt haben, wobei Alter und Vermögensverhältnisse keine Rolle spielten?

Keine Antworten? Nein, ihr müsst diesmal mitforschen. Ich habe ja schon die Fahrräder beobachtet und mir die Fragen ausgedacht, jetzt könnt ihr auch mal was tun.

Mit Freud unter der Dusche

Es stellt sich ja die Frage, ob man unter der Dusche pinkeln soll. Darauf gibt es drei wesentliche Antworten: Ja klar, was für eine Frage! (und es tun ja eh alle, auch wenn sie’s nicht zugeben) Oder: Iiih, nein! Oder schließlich: Naja, nur wenn’s nicht die eigene ist.

Das ist ein soziologisches Thema, denn man kann sich fragen, was das über soziale Prägungen aussagt, wenn solch intime, unbeobachtete Situationen solch starke Empfindungen und Urteile auslösen können – insbesondere ein schlechtes Gewissen oder gerade einen regelrechten boshaften Zwang, es zu tun.

Man kann aber auch anders fragen: Ob nicht eine andere soziale Prägung wichtiger ist. Ob nämlich die etwas obsessive Beschäftigung mit Ausscheidungen nicht mehr darüber aussagt, wie tief uns bestimmte Diskurse durchdrungen haben…

civilisiert

(Je) zwei Theorien der Mode

Die Mode ist der einzige gesellschaftliche Bereich, wo es sehr weitgehend erlaubt, ja erwünscht ist, Moden zu folgen. Klingt tautologisch? Ist es auch, aber das wäre schon einmal der Witz. Ein erste Theorie: Während wohl alle gesellschaftlichen Teilbereiche selbstbezüglich, relativ tautologisch werden (Geld bringt Geld, rechtliche Regelungen und Entscheidungen beziehen sich auf vorherige usw.), hat die Mode diese Leere, eine regelrechte Funktionslosigkeit, eine Unstetigkeit und Ungerichtetheit, zu ihrem Prinzip gemacht. Wie die Kunst ja auch derart selbstbezüglich geworden ist, mit Anspielungen auf sich selbst, der relativen Verweigerung, sich für andere Zwecke in Dienst nehmen zu lassen (wie politische Propaganda, religiöse Anbetung, Werbung usw. – oder wenn sie es tut, dann kurioserweise mit der Verweis auf genau die Regeln der Kunst, die es vormals verbaten, also nur wieder eine weitere Verweigerung der Festschreibung auf eine konkrete (Nicht-)Funktion). Was gerade Mode ist, wird weniger noch als in anderen Bereichen dadurch bestimmt, was Mode überhaupt ist: ein sehr leeres Abstraktum, das es erst zu füllen gilt. Das freie Spiel also ohne äußere Zwecke wäre das Prinzip der Mode, die Lust am Neuen, das keinen Ansprüchen an Fortschritt, Rechtfertigung, „Botschaften“ usw. genügen muss (selbst die Kunst steht hier schon fast dahinter zurück, indem sie dazu neigt, sich wortreich zu rechtfertigen). Die Mode allerdings steht oft genug unter ökonomischem Rechtfertigungsdruck und muss sich hinsichtlich der Tragbarkeit disziplinieren. Man kann, das wäre die alternative Theorie, natürlich hinter dieser Funktionslosigkeit zahlreiche verdeckte Funktionen wittern: Man kann hinter allem Sex, Trieb und Triebrepression oder geschlechtliche Prägung und gesellschaftliche Formierung und Disziplinierung des Verlangens sehen, und auch Kapitalismus und Klassengesellschaft können solche „hintergründigen“ (sind sie das heute noch?) Erklärungen liefern. Oder folgern, dass zweck- und zielloses, verschwenderisches Begehren gerade das Attraktivitäts- und Lustideal eines sexualisierten Kapitalismus sei, das selbst durchschaut noch funktioniert oder sich gar noch steigert.

Was nun also die Motivation betrifft, beim Spiel der Mode mitzumachen, kann man entweder auf die Freiheit verweisen, die dem Menschen eigen ist: spielerisch das Funktionslose zu wollen; oder auf erworbenen oder ererbten ästhetischen Sinn, der ebenfalls zwanglos, beiläufig angenommen wurde. Alternativ wird man auf besinnungslosen Konformismus  verweisen (der Masse und gegenüber der Masse) bzw. die zynische Manipulation der Klientel (der Masse durch die Modeeliten) oder auf Distinktion (der Elite gegenüber der Masse, die sich die irrationalen Kapriolen nicht leisten kann und will, nicht mithalten kann und mental nicht mitkommt. So kann man umgekehrt den erst unter privilegierten sozialen Verhältnissen erworbenen Geschmack als Herrschaftsinstrument derer analysieren, den entsprechende Klassen als natürliche Begabung feiern und damit andere als minderbemittelt aburteilen). Es stellt sich also die alte Frage: Geht es darum, sich selbst oder anderen gefallen, und sich selbst darin zu gefallen, wie einem andere gefallen und missfallen?

Der Dualismus von Freiheit und Herrschaftsinstrument oder sozialer Determination setzt sich im Verhältnis individueller modischer „Statements“ zum System des gerade Modischen fort. Mode besteht nicht nur in isolierten Elementen, die „in Mode“ sind oder von einzelnen auf den Markt oder ins Spiel geworfen werden. Sondern „das Modische“ insgesamt oder eine Kollektion, ein Sortiment usw. besteht aus Formen, Materialien, Farben usw., die aufeinander bezogen sind und die ihre Bedeutung in Beziehung zu den je anderen gewinnen. Aber wie niemand in einer einzelnen Äußerung „die Sprache“ ausspricht, so kann auch niemand „die Mode“ tragen oder auch nur im Kleiderschrank versammeln. Vielmehr wählt man aus und kombinierte mehr oder weniger kreativ (greift also aus den Elementen und Regeln etwas heraus und fügt es zusammen). Hier ist nun die alte Frage: Spricht die Sprache mit dem Menschen oder umgekehrt? Ist die Mode entsprechend ein geschlossenes System, das von Einzelnen nur je selektiv, aber regelkonform verwirklicht wird, oder erst die Summe der individuellen Ausdrucksformen, gar ein recht freies Wechselspiel zwischen Vorgaben und ihrer ständigen Umdeutung und Subversion? Man kann dieses Theorie-Doppel natürlich in eine Unterscheidung verwandeln: Es macht gerade die soziale Bedeutung der Mode aus, dass man sich ihr teilweise unterwirft, an die Grenzen dessen geht, was man mit und aus einem machen kann und will, aber dann tut sich eine Differenz auf: zwischen denen, die es nach Auffassung der anderen Hälfte zu weit treiben, sich zum Opfer und zur Beute jedes Trends macht, also uninviduell, gedankenlos und ohne Rücksicht auf ihre Konstitution sich kleiden. Aus Sicht der anderen Hälfte!, wohlgemerkt, die für sich in Anspruch nimmt, einen Individualstil zu entwickeln, der freilich nicht statisch ist, sondern sich in Auseinandersetzung mit neuen Entwicklungen und einzelnen Stilsystemen weiterentwickelt; ein eigenes – wie man dann ja sagt – „modisches Statement“. Ja, selbst eine gewisse Einheitlichkeit des Stils, eine fehlende Individualität, kann unterschiedlich gedeutet werden: Uniformisierung der Massen als Opfer von Werbung und Modejournalismus oder bürgerliche Zurückhaltung bei der Zurschaustellung von Individualität.

Freilich wovon soll denn die Aussage handeln, wenn Mode denn eine sein soll? Über nichts, wenn man die These der Funktionslosigkeit in einer These der Bedeutungslosigkeit überführt: Zeichen, die nichts bedeuten, auf nichts verweisen als auf ihren Gebrauch im Unterschied zu anderen, ihre Beziehung zu immer wieder anderen (vom letzten Jahr, aus den Sechzigern, von jenem andere Designer usw.). Oder dann eben darauf, dass man sich derart unterscheidet, und damit in ein ganzes System sozialer Unterscheidungen einordnet.

Man kann nun also einerseits den Standpunkt vertreten, dass Elemente der Mode keine externe oder jedenfalls immer nur dann eine Bedeutung haben, sofern sie in Beziehung zu anderen stehen: Erst gemeinsam sind sie ein Stil, erst in Abgrenzung zu anderen sind sie „stilvoll“, „modisch“, erst in Kombination entsteht es bedeutsamer Bruch (ungewöhnliche Materialkombinationen), erst aus dem Wissen um vorherige Gestaltungsweisen wird etwas als Stilzitat erkennbar usw. Pelz ist nicht dasselbe, wenn er rosa gefärbt wird, mit schwarzem Leder und Nieten kombiniert, an einem für Männer vorgesehenen Rock angebracht wird, usw. Freilich hält er, auf bestimmte Weise eingesetzt, auch einfach warm, stammt von Tieren, kostet was, muss auf bestimmte Weise gepflegt werden. Bedeutsame Funktionen schleichen sich also wieder ein. Von denen man aber wieder sagen kann, dass sie nur insoweit bedeutsam sind, als sie vorab definiert sind, einmal „entdeckt“, gewünscht oder postuliert werden, in Anspruch genommen oder ignoriert werden, für wichtig befunden werden usw. (wer schön sein will, müsse leiden, heißt es ja, und das heißt: nicht unbedingt die aus Sicht einer gewissen Bequemlichkeit funktionalste Alternativ wählen. Für andere wiederum ist „Funktion“ gerade die Botschaft: Funktionskleidung selbst unter Bedingungen höchster Zivilisation, um hierdurch den Sinn fürs Praktische und den Unwillen gegenüber der Modetorheit zu demonstrieren, die bei einigermaßen widrigen Bedingungen in Verlegenheit geraten könnte).

Man kann es aber in die andere Richtung noch weiter treiben: Nicht das Bedeutungssystem handelt oder die Mode Tragenden, sondern die Stücke selbst: Sie dehnen sich, atmen, fallen weich, umschmeicheln, kratzen usw., oder verweigern das und müssen erst dazu gebracht werden. Was Dinge halt so tun. Jedenfalls erweisen sie sich als erwartungskonform ihre Funktion erfüllend, welche auch immer man vorsieht und wie man „Erfüllung“ auffasst, erklärt, oder ihr Ausbleiben auffasst. Oder erweisen sich als widerspenstig, aber zugleich immer offen für verschiedenes Verständnis oder Unverständnis ihres Verhaltens.

Wenn nun Mode ihre Bedeutung in Relationen gewinnt, und sei es die Erfüllung einer Funktion bezogen auf eine erst definierte Erwartung, dann wäre natürlich die zeitliche Relation zu beachten. Nach gängigem Verständnis besteht ja die Mode in wechselnden Moden. Freilich kann man das so auffassen, dass einerseits das Spiel vor allem in der vollständigen, ja ansonsten sinnlosen Entwertung des Vorherigen besteht (was einer kapitalistischen Logik wiederum gerade recht käme, so dass der tiefere Sinn gerade dies wäre, oder auch die Demonstration von Kaufkraft und Status). Oder andererseits der Wandel darin besteht, auf je verschiedene Weise an das Vergangene anzuknüpfen: Bruch, Zitat, Rekombination, gar die vergangene Zukunft zu verwirklichen (also alte Futurismen aufzugreifen). Aber besteht Mode wirklich vorwiegend in wechselnden Moden, die sich an alle richten oder über alle richten? Die leitende Differenz wäre dann: in Mode sein – aus der Mode sein. Oder geht es nicht eher darum, dass einige über andere richten: modisch sein – unmodisch sein? Oder in der Kombination: Die einen folgen der Mode, die andere hinken ihr hinterher oder sind ganz abgeschnitten? Oder geht es um einen echten Wechsel in der Zeit oder um die Reproduktion stilistischer Unterschiede über die Zeit? Also derart, dass zu einem Zeitpunkt ein System bedeutsamer Differenzen von Stilen, Designern, Labels usw., und damit verknüpfter Zielgruppen, Kundenstämme, Berichterstattungsorgane, ja Milieus oder Klassen besteht. Dann kann sich zwar jedes Element wandeln, aber vorwiegend so, dass bestimmte Relationen erhalten bleiben oder sich nur langsam wandeln: Label A verhält sich zu Label B wie A zu B an einem früheren Zeitpunkt, und wie ein soziales Milieus C zu einem Milieu D, obwohl beide die konkreten Stücke gewechselt haben, die man entwirft und trägt. Mode macht in ihrer Vergänglichkeit also entweder alle gleich, oder gewährt in ihrer Vergeblichkeit Privilegien der Distinktion, die andere nicht erlangen können, oder steht in ihrem Vorwärtsstreben bei tieferer Betrachtung letztlich still, so dass die Abstände und Gegnerschaften, die Nähe und Wahlverwandtschaften erhalten bleiben.

Medientheorie auf Drogen

In meinem Fach ist es ein wenig ein Sakrileg, einen allzu weiten Medienbegriff zu pflegen. Man hält sich an das Etablierte: die Massenmedien, in jüngerer Zeit das Internet und auch mobile Geräte, vielleicht noch Videospielgeräte und vergleichbare Technologien, jedenfalls technische Medien. Medien mit Drogen zu vergleichen, ist ebenfalls nicht sonderlich gern gesehen. Das gilt als undifferenziert kulturkritisch – man forscht seriös über zwang- oder suchthafte Mediennutzung, gewiss, oder sorgt sich um die staatsbürgerliche Rationalität und politische Mobilisierung angesichts des schlechten Fernsehprogramms – man beschreibt das natürlich etwas ausgefeilter und hintergründiger. Und beklagt sich ja nicht einmal unbedingt zu unrecht. Aber hier soll es halt um sinnliche Dinge gehen und um gedankliche Lockerungsübungen durch unwahrscheinliche Vergleiche (und das kann dann auch in weiterer Konsequenz politisch werden, politischer und radikaler als manche gängige Klage übers Fernsehprogramm). Also z.B. Medien mit Drogen zu vergleichen. Nun geht es mir dabei nicht um Abhängigkeit – wichtiges Thema, aber gerade nicht im Mittelpunkt des Interesses (wie schon damals nicht). Vielmehr um die Frage, wie man sein Erleben beeinflussen kann.

Man ist z.B. in einer gewissen Stimmung oder denkt an bestimmte Dinge und ist nicht recht zufrieden damit: zu müde, gelangweilt, schlecht gelaunt, gestresst, Gedanken an belastende Umstände, gar die unerträgliche Schlechtigkeit der Welt, usw. Oder man ist zwar eigentlich ganz wohlgestimmt, hat aber die Vorstellung, das ließe sich noch unterstützen und verlängern, gar noch verbessern, es erwarte einen ein besonderes Erlebnis. Wodurch kann aber nun ein neuer Zustand herbeigeführt werden?

Zunächst einmal durch Sinneseindrücke. Man geht spazieren, schaut aus dem Fenster, unterhält sich mit jemandem. Bereits hier ergeben sich Fragen nach der Eingrenzung. Es gibt ein Fülle an Dingen, die man tun kann, um den Körper mittels Sinneswahrnehmung zu stimulieren, nicht aber nur notwendig deswegen tut. Man kann zu Fuß herumlaufen, um zu einem Ziel zu gelangen oder eben ob der visuellen Eindrücke und der Lust an der Bewegung. Man kann zum Zwecke der Sinneseindrücke und damit verbundenen Bewusstseinsinhalte auch „technische“ Medien im weitesten Sinne benutzen, also nicht nur Fernsehen oder Internet, sondern auch Bücher oder Bilder. Ja, man kann einen Park oder eine Achterbahn in der Weise als ein Medium begreifen, dass hier „technisch“ Dinge so angeordnet wurden, dass daraus ein bestimmtes Erlebnis erwächst, und zwar auch genau mit dem Zweck dieses Erlebnisses. Bei einer Spazierfahrt mit dem Auto oder einer Wanderung nutzt man die vorhandene Landschaft und bringt sich nur selbst in eine Bewegung (technisch unterstützt oder nicht), was einen gewünschten Eindruck ergibt. Der Unterschied, was in diesem allerweitesten Sinne ein Medium ist, bestimmt sich nicht alleine aus der Technik (eingeschlossen der rechten Gehtechnik usw.), sondern aus der Funktion, der man dem ganzen Arrangement zuschreibt. Es handelt sich um eine soziale Funktion: Zielloses Herumwandern war früher Ausdruck eines bedenklichen Charakters, zielloses Herumfahren gilt vielfach als unstatthaft. Kleidung ist entweder notdürftige Verhüllung und Isolierung oder eben Stil bzw. eine Medium. Und wenn man uninformiert ist, stolpert man durch einen Landschaftsgarten und hält die Wäldchen für unberührte Natur.

Das Wandern leitet auch schon über zu den Erlebnissen, die man sich ohne besondere technische Vorkehrungen verschafft. Gewiss, man wandert gerne mit Schuhen, aber im Vergleich zu Achterbahnen, Fernsehern und Autos haben Wanderungen wie auch das Erzählen von Geschichten, das Vorsingen von Liedern usw. weniger technische Voraussetzungen. Es braucht nur die rechte „Technik“ im Sinne der Kunstfertigkeit, des praktischen Wissens. Wie ja auch beim Sex um des Erlebnisses (seiner selbst und anderer) willen, worüber ja Eltern, Peergroup und Medien „aufklären“ und wie man es durch Praxis erlernt. Eine bei uns gesellschaftliche typische Betrachtungsweise zu körperlichen, „menschlich“ erzeugten Erlebnissen ist dann, zu diskutieren, was daran Natur und was Technik ist – nicht nur beim Geschlechtsverkehr, sondern auch, ob jeder singen kann, der Mensch ein erzählendes Wesen sei, wie viel Bewegungsdrang man hat und wie viel Naturerlebnis man unbedingt zum Leben braucht. Umgekehrt besteht dann das soziologische Spiel dann im Nachweis, dass die Wanderlust oder der vermeintlich alleine natürliche Art und Weise, Sex zu haben, erst historisch und kulturell „erfunden“ wurden (aber so, dass diese Vorstellungen nicht einfach an den Haaren herbeigezogen sind und folgenlos bleiben, sondern sehr real werden, eben als die natürlichen und in der Folge ganz stark empfunden werden; und man kann „Erfindungen“, die man für geglückt, für „Entdeckungen“ hält, ganz genauso historisch und soziologisch untersuchen wie solche, die man für eine „erfundene“ zweite Natur hält).

Und dann zu den Drogen. Sie modifizieren in der Regel das Bewusstsein nicht in der Weise, dass alleine dadurch Vorstellungen über die Welt entstehen (auch wenn sie zu Illusionen von Sinneseindrücken führen oder eine Neigung zu bestimmten abstrakten Vorstellungen befördern können), sondern verändern überwiegend nur die Befindlichkeit und Einstellung, also z.B. das Ernstnehmen, die Wachheit, die Heiterkeit usw. bei der Wahrnehmung der Welt. Es kann aber auch bei der Nutzung von Medien der Hauptzweck sein, etwa die Stimmung zu ändern anstatt sich Weltdarstellungen im Detail auszusetzen (etwa beim Musikhören, sofern die Musik nicht „malerisch“ oder mittels Texten darstellend ist bzw. aufgefasst wird, oder indem man einen Fernseher nur für ein Hintergrundgeräusch nutzt, das einen in eine erbaulicher Stimmung bringt). Man ändert also nicht direkt „die Welt“ als Vorstellung, sondern quasi von hinten her die Einstellung zu dieser, und damit doch „seine Welt“.

Ein Essen kann so Droge und Medium sein oder nichts davon. Es kann auf das sinnliche Erlebnis ankommen, nicht nur den Geschmack und Geruch, sondern auch die Konsistenz, das Gefühl der Wärme und des wohlgefüllten Bauchs, das Schlundgefühl, die Schärfe auf den Lippen usw. Ferner aber auch auf die physiologische Wirkung und damit indirekt auf die Inhaltsstoffe, welche eine Befindlichkeit ändern können, also die Erhöhung des Blutzuckers oder etwaiges Koffein, Alkohol usw. Oder das Essen ist weitgehend nur Sättigung, Nährstoffzufuhr. Außerdem hat es symbolische Aspekte, wodurch es auf eine ganze Welt verweist und Medium wird: Bayern, romantische Zweisamkeit, Landidyll, Raumfahrt usw.

Man kann auch Autosuggestion praktizieren, meditieren, sich hypnotisieren (lassen) und auf ähnliche Weise Bewusstseinsinhalte und -einstellung verändern, oder auch einfach nur Gedankenbilder oder gedachte Melodien, Texte usw. erscheinen lassen Das ist technisch, wie man leicht sieht, wieder etwas anderes wie die Benutzung von Medien oder Drogen (auch wenn solche Übungen indirekte physiologische Effekt haben können, die wiederum aufs Bewusstsein zurückwirken, das somit nicht nur direkt verändert wird). Aber man kann wieder die Funktion der verschiedenen Varianten der Bewusstseinsänderung vergleichen und in bestimmten Situationen eine gegen die andere austauschen: Ist der Fernseher kaputt, kann man z.B. Tagträumen nachhängen, Sex haben oder sich was reinziehen.

Heißt das nun, dass Drogen Medien oder Medien Drogen sind oder dasselbe wie Meditation usw.? Nicht notwendig. Ohne Unterscheidungen keine Wissenschaft. Nur manchmal auch nicht ohne interessante Verallgemeinerungen oder Vergleiche. Insofern ist es vielleicht sinnvoll, die genannten Arten, sich bestimmte Erlebnisse zu verschaffen, in gewisser Hinsicht als funktional äquivalent anzusehen. Sie können nämlich Funktionen haben – sofern als sie für einzelne Personen oder verbreitet eben als funktional gelten –, die in bestimmter Hinsicht vergleichbar sind. Bei ihrer Erfüllung treten dann die Eigenheiten durchaus hervor: die notwendigen Techniken, die sozialen Normen und Wertungen, der Aufwand und die Kosten, usw. Und man kann sich dann fragen: Wenn diese Technologien in gewisser Weise vergleichbare Funktionen haben, welche ist dann ihre gemeinsame Stellung bezogen auf die Gesellschaft insgesamt und was erklärt die Unterschiede ihrer Nutzung? Das ist nun die Hausaufgabe für euch.

Die Welt retten

Nehmen wir an, Herr K. [literarische Anspielung; nicht der Blogbetreiber] sitzt am Computer. Was tut er? „Die Welt retten“, könnte eine Antwort lauten. Man wird vielleicht einwenden, man wolle nun aber „genauer“ wissen, was er „eigentlich tut“. Na gut, vielleicht programmiert er einen Computervirus, um es an eine Militärbasis zu schicken, wo ein verrückter General eigenmächtig eine riesige Atombombe zünden möchte, und das verhindert dieser Virus. Na gut, wird man sagen, das ist eine bessere Beschreibung. Aber wieso? In gewisser Weise traf die andere ja auch zu. Man könnte sogar sagen, alles schön und gut mit diesen Einzelheiten, aber „eigentlich“ geht es K. ja darum, ist es seine Absicht, seine Intention, hat er vor, beabsichtigt er usw., die Welt zu retten. Das ist ja etwas ganz Anderes als sonst die Verbreitung von Computerviren. Aber beide Beschreibungen treffen zu. Und warum sollen sich die kritisch Nachfragenden mit diesen zufrieden geben, wo man doch weiter insistieren könnte: Was macht er denn „eigentlich“? „Eigentlich“ sitzt er ja mit überschlagenen Beinen vor einem Rechner mit Linux-Betriebssystem, bohrt zeitweilig in der Nase und tippt hastig herum, trinkt zwischendurch einen Schluck Cola, räuspert sich, usw. Das ist es auch, was er tut. Er bewegt auch soundso seine Finger, ja die Moleküle in seinen Muskeln tun dies und das, das Blut zirkuliert, die Fasern ziehen sich zusammen. Das trifft ja auch zu! Nur „tut“ er das nicht. Er „tut“ vielleicht nicht einmal das vorherige, zumindest beabsichtigt er es nicht im eigentlichen Sinne, die Finger soundso zu bewegen. Er tut es, aber es geschieht automatisch, er denkt eher über den Code nach und besinnt sich vielleicht auf sein Ziel. Sofern er nun tut, was er tut, beabsichtigt er dabei eigentlich, die Welt zu retten? Ja nicht eigentlich die ganze Zeit. Zwischendrin ist ihm dieses Ziel gar nicht präsent; er ist ja in die Arbeit vertieft. Umgekehrt könnte er ja auch beabsichtigt haben, die Welt zu retten, es aber dann doch nicht getan haben. Nämlich so, dass er willensschwach war, daran gehindert war, es versuchte und es misslang, usw. Intention ist also eine vertrackte Sache, die nicht einfach das Tun (und welches Tun genau?) begleitet.

Wie ist nun diese Verwirrung zu lichten? Offensichtlich so, dass man das Geschehen verschieden beschreiben kann. Zunächst im engeren Sinne als Geschehen, das noch nicht auf Handeln oder Absicht verweist. Nämlich als Aktivitäten von Molekülen und Körperteilen, welche gar nicht beabsichtigt werden, zum Teil vielleicht nicht einmal beabsichtigt werden können. Ferner als Bewegungen, von denen man zwar im Alltag näher wissen kann, dass man sie ausführt, ohne dass man sich dabei beobachten muss. Man weiß, dass man den Finger bewegt, ohne hinzusehen. Aber meist plant man es nicht, nimmt es nicht einmal bewusst wahr, „weiß“ es nicht in einem sagbaren Sinne, sondern man weiß nur, wie man etwas tut (ohne dass man es notwendig beschreiben könnte) und tut es einfach. Es ist dies ein fortlaufendes Handeln, das beobachtet werden kann oder von dem Handelnde wissen können, dass sie es tun, ohne dass dies bereits das wäre, was sie als den Sinn ihres Tuns ansehen würden. Es kann aber, wenn man sich denn einmal darauf „besinnt“, den Sinn ergeben, dass es das Handeln ist, wodurch man dieses oder jenes tut. Man schreibt einen Computervirus, indem man Code eintippt, bzw.: dadurch, dass man… „Indem“ oder „dadurch dass“ ist aber nicht zu verstehen im Sinne eines Verhältnisses von Zweck und Mittel. Nicht wie in folgendem Beispiel: Dadurch, dass/indem ich hier diese Funktion im Code einbaue, ist der Virus schwer zu erkennen. Sondern „indem“ eher im Sinne von „und damit zugleich“. Denn es kommt nicht etwa das Schreiben des Virus zum Tippen dazu oder wird dadurch ausgelöst oder beabsichtigt, sondern es ist dasselbe, nur anders beschrieben. Aber, wird man fragen, was ist es dann „eigentlich“? Keins von beiden, bzw. eben beides, und nichts davon eigentlicher (höchstens würde man eine Beschreibung als detailreicher ansehen, also als Antwort auf die Frage: „Was tut er eigentlich genau?“ Aber manche Details betreffen dann nicht mehr das „eigentlich“ beabsichtigte Tun, sondern nur noch unbewusstes oder ohne komplizierte Apparaturen bzw. physiologisches Wissen zu erschließendes Geschehen). „Einen Virus schreiben“ wäre die Beschreibung jenes fortlaufenden Handelns als eine Handlung. Man beobachtet das Geschehen und fasst es unter den Begriff des Schreibens eines Virus. Selbst wenn diese „eine“ Handlung keine klare Grenze hat, etwa bezüglich der Frage, ob das Niedersetzen am Computer bereits dazugehört, wird hier eine Unterscheidung getroffen, ein Bereich des Geschehens herausgegriffen und als eine Einheit angesehen, welche von anderen durchaus zu unterscheiden ist: Schreiben eines Virus, nicht Geschirr spülen. Und das Vollbad drei Tage zuvor, wo die Idee des Virus noch nicht geboren war, wird mit dieser Beschreibung als Handlung nicht erfasst. Und „die Welt retten“ ist auch eine Beschreibung des Handelns als Handlung – eben sehr abstrakt, ohne die genau Angabe wodurch sie näher vollzogen wird, „indem er was tut?“ Der Unterschied besteht höchstens darin, dass K. das Entstehen des Virus sehr weitgehend selbst in der Hand hat, während die Rettung der Welt davon abhängt, dass weitere Ereignisse (nicht) eintreffen, die aber nach Meinung von K. derart sicher aus seinem eigenen Tun folgen werden, dass er dieses so beschreiben kann, dass er die Welt rettet. Die Rettung der Welt ist also in gewissem Sinne eine Folge seines Handeln, der Zweck, dem das Tun als Mittel dient, aber das Handeln ist durchaus richtig beschrieben, wenn man sagt, dass es eben selbst bereits das Retten der Welt ist. Indem nämlich der Virus geschrieben wird – dieser ist zwar Mittel, aber wenn man die Rettung als Handlung beschreibt, als dasjenige Tun, das K. ausführt und welches „die Welt retten“ genannt werden kann, so ist „die Welt retten“ und „ein Virus schreiben“ wieder dasselbe („indem“ im Sinne von „und damit zugleich“), und nichts davon eigentlicher. Denn mittels welchen anderen Handelns würde K. sonst noch die Welt retten, oder von wem könnte man sonst sagen, er rette die Welt? Eben K. tut es, indem er den Virus schreibt. Für jeden gängigen und nicht so gängigen Typ von Handeln, wie z.B. Zähneputzen, Computerviren schreiben, die Welt retten usw., existieren Kriterien, nach denen man sagen kann, dass ein Geschehen oder Handeln als die Handlung beschrieben werden kann. Diese Kriterien müssen dabei nicht notwendig bewusst sein, wenn man etwas als diese oder jene Handlung beobachtet und beschreibt. Man tut es einfach – auch das ein nicht notwendigerweise in seinen Details bewusstes und intendierte Handeln! Zugleich entsteht der Virus mit der Absicht, die Welt zu retten, ohne dass K. die gesamte Zeit daran denkt. Er hätte aber diese Auskunft gegeben, hätte man ihn währenddessen oder später danach gefragt.

Dass hier genau zwei Beschreibungen als Handlung gewählt wurde, ist natürlich willkürlich. Die Möglichkeiten sind praktisch unbegrenzt: K. macht sich wichtig, tut, wozu ihm seine Tante immer geraten hat, sichert sich einen Platz in den Geschichtsbüchern, kombiniert zwei klassische Ansätze in der Programmierung von Schadsoftware auf innovative Weise usw. Womöglich mit Absicht, aber vielleicht auch ohne, je nachdem, was zutrifft. Und man kann ohnehin etwas als Tun beschreiben, ohne es als absichtlich zu beschreiben. Denn eigentlich wusste er, was er tat, nämlich z.B. einen Virus schreiben. Und indem er genau das tat, was er tat (was man auch anders beschreiben könnte), tat er auch anderes, aber unwissentlich, ungewollt, z.B. seine Freunde enttäuschen, die ihn auf ein Bier in der Eckkneipe erwarteten – er enttäuschte sie nicht „auch noch“, als eine weitere, zusätzliche Handlung, sondern „damit zugleich“, aber z.B. ohne es zu wissen (weil man nicht verabredet war, sondern nur damit rechnete, dass er gewohnheitsmäßig vorbeikommen würde – ihm war diese Erwartung aber gar nicht so bewusst) oder entgegen seiner Absicht (weil er sich nämlich durchaus vorgenommen hatte, heute nicht so lange am Computer zu sitzen, aber dann merkte er ja, dass er die Welt retten müsste). Und man kann ein Handeln als eines mit einer Absicht beschreiben, ohne dass man sagen kann, dass damit wirklich eine Handlung vollzogen wurde, welches der Absicht entsprach. Er handelt soundso mit der Absicht (das, was er sich vornahm, nicht notwendig das, woran er die ganze Zeit über dachte), die Welt zu retten, rettete aber die Welt nicht (weil bestimmte Annahmen nicht eintrafen). Nur hinterher eine Absicht zu konstruieren, die vorher oder währenddessen nicht bestand, gilt als unzutreffend und zu unlauter. Wenn K. keine Ahnung hatte, dass sein Virus die Welt retten würde, dann kann man durchaus sagen, er habe die Welt gerettet, indem…, aber er dürfte nicht behaupten, dass das immer oder jemals seine Absicht war.

Handlungen sind also in dieser Hinsicht Beobachtungs- bzw. Beschreibungsweisen von Handeln, welche Handelnde selbst oder andere vornehmen. Keine Beschreibung, so zutreffend sie auch sein mag, kann ein Vorrecht gegenüber einer anderen zutreffenden beanspruchen – zumindest nicht im absoluten Sinne, sondern nur in Bezug auf ein bestimmtes Interesse, z.B. die Intention zu erfahren (da scheiden einige aus, aber es können mehrere bleiben: ein Virus schreiben und die Welt retten), möglichst vieles Details zu kennen, zu wissen, was K. denn eigentlich seinen Freunden getan hat, dass sie nun einschnappt sind, usw.

Das fortlaufende Handeln wird zerstückelt und unter ein Schema gefasst, das abstrakter ist, mal mehr mal weniger (so viele Arten, die Welt zu retten!) und erscheint dann, gemäß der Kriterien für das Erkennen eines Typs von Handlung, als eine Handlung dieses Typs. Beschreibungen als Handlung können Handelnde selbst angeben, z.B. indem sie vorher ankündigen oder sich vornehmen, so zu handeln, indem sie dies währenddessen im Sinn haben oder nachher so darstellen. Handelnde können sich auch der Details ihres Handelns bewusst werden, soweit das möglich ist. Und andere können Handeln als Handlung beobachten, vorher, nachher und währenddessen. Überdies können Handlungen als Handlungen mit Absicht beschrieben werden, müssen es aber nicht, sondern können auch als absichtsloses Tun beschrieben werden („die Welt retten“ verlangt nicht notwendig eine, wenn man irgendetwas tut, das zur Rettung der Welt führt, ohne notwendig dies zu bezwecken, man aber sonst weiß, was man tut; hingegen verlangt „ein Haus kaufen“ die Absicht, ein Haus zu kaufen). Dabei können vorherige und währenddessen vorliegende (wenn auch nicht immer bewusste, aber ein subjektives Kriterium für das Gelingen darstellende) Absichten unterschieden werden, ferner verwirklichte und unverwirklichte. Unverwirklichte sind dabei nicht notwendig geänderte, sondern auch solche, die man durchaus verwirklichen wollte, was aber nach den Kriterien der Beschreibung als eine bestimmte Handlung nicht gelungen ist – durch unvorhersehbare Geschehnisse, Willensschwäche usw. Das einfache Schema „eine Handlung, deren Sinn ihre Absicht ist,“ wird also zu einer Unterscheidung zwischen Handeln und vielfachen Perspektiven darauf, welche es auf verschiedene Weise als Handeln erscheinen lassen.

[Überwiegend entstammen die Grundideen dieses Beitrag der Abhandlung „Intention“ von G.E.M. Anscombe, welche man gemeinhin als Philosophin einordnen würde. Es kann nicht schaden, dachte ich, diese Gedanken noch einmal leicht ergänzt unter dem Titel „Soziologie“ anzupreisen.]

Schätzen und raten

Schätzen und raten sind zwei sehr interessante Vorgänge.

Schätzen hat offenbar damit zu tun, dass man etwas nicht genau weiß oder feststellen kann. Es reicht aber nicht, etwas nur nicht genau zu wissen. Wenn man z.B. gefragt wird: „In welchem Jahr wurde nochmal die Mauer gebaut?“, so kann man z.B. antworten: „Ich weiß es nicht genau – es könnte 1953 gewesen sein.“ Das kann geschätzt, geraten oder auf andere weise ungenau erinnert (gewusst) sein. Entweder es kommt einem die Jahreszahl 1953 in den Sinn, und das scheint einem ziemlich richtig zu sein. Aber diese Erinnerung ist mit einer Unsicherheit behaftet. Man unternimmt aber nichts weiter, sondern gibt die sofort „erinnerte“ Jahreszahl an, gesteht aber die Unsicherheit ein. Man vergleiche das mit einem Namen: „Ich glaube, der Mann hieß Meier mit e-i.“ Man weiß es nicht genau, aber man hat nicht geschätzt (und auch nicht geraten). „Schätzen“ nennen wir üblicherweise nur das Herbeiführen von unsicheren Angaben über Mengen, nicht von qualitativ verschiedenen Sachverhalten (also Namen, Gegenstände, eine von vier nicht in einer Abstufung stehenden Antwortvorgaben usw.), welche wir „raten“. Was ist aber Unterschied zwischen „Schätzen“ und anderen Arten, wie man zu unsicheren Angaben kommt? Man wird sich erinnern, dass auch die Feststellung mittels eines Maßbandes mit Unsicherheiten behaftet ist. Es besteht Unsicherheit in Form von Ungenauigkeit (Wenn man nahe beieinander liegende ganze Jahreszahlen zur Auswahl hat, kann man auch raten: Man ist unsicher zwischen 1953 und 1957, aber das ist deswegen eher Raten als Schätzen, weil das Ergebnis eher unsicher ist, da man irgendwie den Eindruck hat, die andere Zahl könnte auch stimmen, irgendwie erinnert man sich da an was. Man würde aber nicht unbedingt sagen, das Ergebnis sei ungenau, denn das sagt man eher, wenn man eine Größe angibt, von der sich die wahre Größe möglichst wenig entfernt. Die wahre Größe wäre aber entweder 1953 oder 1957, glaubt man. Es kommt einem aber nicht auf den Unterschied von vier Jahren an, sondern wirklich recht zu haben. Zumeist gilt einem hier die andere Zahl nicht als ungenau, sondern schlicht als falsch. Geht es dagegen eher darum, wie lange wohl die Mauer stand, kommt es einem vielleicht auf ein oder zwei Jahre nicht an und man schätzt das Datum der Errichtung eher). Ob ein Raum einen Millimeter länger oder kürzer ist, lässt sich ohne besondere Instrumente nicht leicht feststellen. Aber wir haben z.B. eine gewisse Länge mittels nachvollziehbarer Methoden (Maßband) im Rahmen der von ihnen erwartbaren Genauigkeit festgestellt. Wahrheit ist immer Wahrheit in der für den Augenblick ausreichend Genauigkeit (hinsichtlich größenmäßiger Abweichungen oder Details). Man würde einen um einen Millimeter zu geringen Wert nicht unbedingt als „falsch“, als einen grundlegenden Irrtum, vielleicht sogar eine bewusste Täuschung durch die mitteilende Person auffassen, sondern als eine zutreffende Feststellung. Der Raum ist „wirklich“ so lang, wie man mit dem Maßband gemessen hat. Man hätte keine Skrupel, die Angabe zu verwenden, um eine Quadratmeterzahl für eine Immobilienannonce zu errechnen, ohne sich als Betrüger zu fühlen.

Man kann aber auch schätzen. Bleiben wir vielleicht bei der Jahreszahl. Schätzen würde man das für bestimmte Zwecke. Etwa, wenn man sich spontan über ein Jahrzehnt unterhält (wie man sich da kleidete, wie man politisch dachte usw.) und überlegt, ob der Mauerbau jetzt Anfang oder Ende der Fünfziger stattfand, zur Einordnung. Dann kann man Dinge sagen wie: „Das war eben die Zeit, als die Mauer noch nicht stand/noch neu war/die Leute erregte“ usw. Die vorher-nachher-Unterscheidung ist hier aber gefährlich und spricht gegen eine Schätzung (wie ein Schrank, der nicht nur ungefähr in ein Zimmer passen sollte). Der Fall von Jahreszahlen zeigt, dass manche Größen für die gesellschaftlich üblichen Zwecke eher geschätzt werden können als andere (Zeitdauern oft eher als Jahreszahlen in bestimmten Epochen – man vergleiche aber den Mauerbau mit dem Bau eines ägyptischen Grabmals, das nur schwer zu datieren ist). Außerdem geht jede Menge soziales Wissen in die Schätzung ein. Jahrzehnte sind ja keine leeren Gefäße, sondern Stile, Ideologien, Lebensphasen, Medientechnologien (wie die Fernsehbilder aussahen und die Fotos, wie Tonaufnahmen klangen usw. – und an die erinnert man sich ja oft hinsichtlich der Jahrzehnte). Wir machen unsere Schätzung oft irgendwo fest und legen dann noch was drauf oder ziehen etwas ab, bis wir ein richtiges Gefühl haben, oder projizieren gedanklich einen Vergleichsmaßstab irgendwo hinein – hierfür braucht es aber typische Gelegenheiten, um aus Erfahrungen Ankerpunkte oder Maßstäbe zu erwerben.

Raten funktioniert auch nicht vollständig „ins Blaue“ hinein. Das mag eine Anekdote zeigen. In einer kleinen musikpädagogischen Stunde spielte ein Musiker ein Stück auf dem Cembalo und ließ Kinder raten, welches Tier in dieser Komposition nun dargestellt worden sei. Die Kleinen verstiegen sich zu den aberwitzigsten Vorschlägen, bis hin zu einem Koala. Aberwitzig aber nur aus Sicht des erwachsenen Musikkenners mit einem gewissen Gefühl für Lautmalereien in der Musik, einem Repertoire an bekannten Tierstimmen und natürlich gewissen Geographiekenntnissen. Ein Stück auf dem Cembalo, das bringt (natürlich nicht immer zu Recht, aber stilistische Merkmale legten das nahe) die Assoziation von Barockmusik auf. Entsprechende Komponisten greifen natürlich auf bekanntere mitteleuropäische Tiere zurück (die das Publikum auch erkennen muss, sonst ist der Witz weg). Ein etwa fünfmal wiederholter Ton im Staccato, dann ein plötzlicher Sprung in die Höhe und erneute Wiederholung – das klingt wie Hühnergackern. Vielleicht muss man auch nicht raten und erkennt „La poule“ aus dem dritten Buch von Rameaus pièces de clavecin. Aber falls man rät, dann läuft ja nicht wirklich so ab, dass man wie gerade beschrieben die Kriterien kombiniert, dass jedes davon einem der Reihe nach im Detail bewusst ist (Barock, mitteleuropäisches Tier, Abgleichen von Tierstimmen usw.). Ja selbst die Einsicht, dass „Koala“ keine sinnvolle Antwort sein kann, kommt einem ohne lange Schlussfolgerungen unmittelbar in den Sinn. Man grinst sofort.

Wir lassen uns beim Schätzen und Raten von Vorgängen bestimmten, die ohne unsere Kontrolle und ohne unser Bewusstsein „hinter unserem Rücken“ ablaufen, oder richtiger: tief in uns drin, oder eigentlich: irgendwo außerhalb unserer greifbaren Gedanken (denn den Ort wissen wir ja eigentlich nicht anzugeben, von woher das Ergebnis in unser Bewusstsein tritt oder sich plötzlich aussprechen lässt). Selbst wenn wir bewusste Anhaltspunkte verwenden, bleibt doch ein großer Teil unkontrolliert und beruht das Ergebnis dann doch nicht auf unabhängigen äußeren Prüfungen (wie Benutzung eines Maßbandes oder Nachschlagen im Lexikon).

Das zum Raten und Schätzen erforderte Wissen liegt also nicht notwendig (auch) aussprechbar vor: Beschreibe, wie ein Huhn gackert! (Das mag gelingen, ist aber etwas anderes, als das Gackern eines Huhns zu erkennen.) Vergleiche: Beschreibe, wie du das Gleichgewicht auf dem Fahrrad hältst! Es handelt sich also um implizites Wissen. Dieses ist zum Teil nicht begriffliches oder zumindest nicht im Augenblick greifbar bewusstes, aber betrachtendes Wissen (etwas erkennen, wenn man es hört; die richtige Kategorie von Tieren präsent haben, ohne diese im Augenblick genau bezeichnen oder beschreiben zu können). Zum Teil handelt es sich aber auch um genuin praktisches Wissen (Wissen, wie man es tut: Geschickt sein im Schätzen durch womöglich immer wieder korrigierte vorherigen Schätzungen und die Fähigkeit, Vergleichsmaßstäbe ohne bewusstes Drandenken anzulegen). Man erwirbt es nicht durch Mitteilung, sondern durch Übung, zum Teil auch durch Demonstration (die aber vom Erkennen ins nicht mehr bewusste Nachvollziehen übergehen muss). Schätzen und Raten sind interessante Vorgänge, weil sie uns etwas über unser Denken und Handeln sagen, das wir mehr oder weniger gut können, erlernt haben, aber nicht genau wissen, wie.

Darf man über Schönheit reden?

Was ich weiland that als Knabe,
Werd ich wahrlich immer thun,
Bis ich werd‘, im kühlen Grabe,
Neben meinen Vätern ruhn.

Immer meine besten Weisen
Minniglichen Frauen weihn,
Immer Minn‘ und Weiber preisen,
Und mich ihrer Schöne freun.

(L. C. H. Hölty, Minnehuldigung)

Darf man über Schönheit reden, Schönheit von Menschen? Nichts Unverfänglicheres als das, würde man meinen! Es geht ja nicht um Politik (oder andere Streitfragen, die man ab und an vielleicht höflichkeitshalber beiseite lassen möchte) oder darum, jemanden zu beleidigen, grob die Unwahrheit zu sagen oder was dergleichen womöglich verbotene Äußerungen sind; und in säkularen Gesellschaften darf man sich verhältnismäßig großzügig über Körperliches auslassen. Es wäre ja die allerfreundlichste Sache, scheint es, sich lobend über Schönheit zu äußern oder anderen Komplimente ob ihrer Anmutung zu machen!

Das Problem fängt aber schon damit an, wer da schreibt. Probleme, die man sich selbst macht, und Probleme, die einem anderen machen könnten, wenn man als (eher) heterosexueller (eher) Mann über Schönheit von Menschen äußert. Dachtet ihr zuerst an die Schönheit von Männern oder Frauen, an weibliche oder männliche Betrachtende, oder an die geschlechtsunabhängige Abstraktion von Idealen der Attraktivität, als ihr last, es gehe um menschliche Schönheit? Egal, jedenfalls steht der Betrachterstandpunkt vorliegender Erörterung fest: eine hoffentlich nicht zu extreme Form des male gaze, welcher theoretisierend mit sich selbst hadert. Man fragt sich unwillkürlich im zumindest oberflächlich sensibilisierten akademischen Milieu: Darf ich mich in diesem politisierten Gebiet soundso äußern? Was werden andere denken (berechtigter- oder unberechtigterweise)? Und ich will damit nicht über eine vermeintliche Diktatur politischer Korrektheit klagen, wie es in einigen konservativen Kreisen üblich geworden ist. Sondern nur gründlich und moralisch nachdenken. Der Vereinfachung halber, sofern nichts anderes angegeben, ist alles Folgende nach dem Muster formuliert: „Mann“ im üblichen, nicht zu spezifischen Sinne, findet „Frau“ (womöglich) schön.

Womit z.B. womöglich eine Asymmetrie angesprochen ist: Frauen eher, mit mehr Konsequenzen, zentraler, hinsichtlich der Schönheit zu beurteilen. Wogegen man natürlich Vorkehrungen treffen kann. Es wird dadurch ja nicht ausgeschlossen, sich auch über Frauen zu äußern. Und die scheinbare Symmetrie, wonach sich die Geschlechter vermeintlich natürlichweise immer aufeinander beziehen: Schönheit an Frauen sei, was Männern gefällt (und – womöglich mit abweichender Bedeutung? – umgekehrt). Müsste man als heterosexueller Mann nicht z.B. das interesselose Wohlgefallen an Männern mehr kultivieren (klassisch bezog sich dieses ja auf Frauen, die man nicht haben kann)? Als Übung vielleicht, aber wenn’s einen nicht interessiert? Gäbe es etwa eine moralische Verpflichtung zur Verfeinerung seiner ästhetischen Fähigkeiten und zur Würdigung bestimmter Objekte? (Was ausgeweitet ja auch auf die Frage führt, ob man ein Recht hat, ästhetisch gewürdigt zu werden. Dazu unten einige Andeutungen.)

Und dann gibt es so einige Oppositionen, Dilemmata, die man auflösen müsste. Ein erstes Gegensatzpaar: Einerseits ein scheinbar interesseloses Wohlgefallen, das mehr ist als, oder fast das Gegenteil ist von Körperlichkeit (und das vielleicht doch nur überlegenes Ästhetentum nutzen will, um sich, andere oder die Betrachtete selbst damit zu beeindrucken). Und als scheinbar unvereinbares Gegenstück so genanntes „vulgäres“ Begehren, ohne Interesse für mehr als den Körper und seine Fähigkeit oder Dienlichkeit, sexuelle oder andere Lust zu erregen oder zu erfüllen. Man müsste einsehen, wie beide Alternativen die bewunderte Person nur zum Teil wahrnehmen und müsste zur Probe je nach ästhetischer Kultur, in welcher man sich selbst und welcher sich die andere bewegt, die Arten der Betrachtung überkreuzen (also probeweise von „kultiviert“ nach „vulgär“ wechseln und umgekehrt, wobei diese Ausdrücke gerade ohne Wertung gedacht werden müssten – gewiss wechselt man da womöglich bereits häufiger, nur vielleicht noch zu schematisch, immer nur in der „richtigen“ Situation). Und, da das Problem ja bereits eines von Aktivität und Passivität ist, müsste nicht nur der Betrachter die Betrachtungsweise, sondern auch die Betrachtete die Selbststilisierung je nach bislang vorwiegendem ästhetischem Ideal wechseln, entweder in vollem Ernst zwecks Vielfaltsgewinn oder parodistisch zwecks Überwindung der Differenz zwischen den Ästhetiken? Bürgerliche Frauen müsste man also vulgär begehren bzw. sie zum Objekt eines solchen Begehrens machen (einvernehmliche, nicht erniedrigende Objektifizierung von Partnern – das hat schon Kant erlaubt), und sich auch vulgär begehren lassen. Denn in der bürgerlich-romantischen Liebe sei ja die ganze Person gewürdigt, behauptet man – „ganz“ heißt aber lediglich, sich genauestens mit Charakter und Welt des oder der anderen zu befassen, und nicht etwa, alle erdenklichen Rollen durchzuspielen, also noch die vulgärste. Frauen anderer Milieus müsste man dagegen distanziert bewundern und als geistige Wesen überhöhen (und noch ihren Körper entkörperlicht als reine Form statt als Leib und potenzielles Lustobjekt zu betrachten). Freilich kann man mit dieser Forderung wiederum den verschiedenen Typen von Frauen Gewalt antun, sie in neue Rollen zu nötigen. Wir stoßen dann nämlich auf das Dilemma von Aufrichtigkeit und möglicher Inauthentizität.

Dieses findet sich auch paradigmatisch in der leidigen Frage, ob sich Frauen für sich selbst oder für Männer schön machen. Man könnte hier von einer Gleichzeitigkeit von Aufrichtigkeit (man fühlt es wirklich so, sich nur für sich selbst schön zu machen) und Inauthentizität sprechen (man unterliegt mit dem Schönheitsideal nicht selbst ergriffenen Festlegungen, sondern letztlich beliebigen Prägungen – eventuell im historischen Verlauf eher von Männern festgelegt? Und insgesamt unterliegen die meisten, auch die Festlegenden, solchen nicht alternativlosen bisherigen Festlegungen wie z.B. auf langes, glänzendes Haar, bestimmte Tittenform, Hinterteile, roten statt grünen Lippenstift oder was auch immer relativ üblich ist). Auch hier kommen ja Subkulturen zur Hilfe oder stürzen einen in neue Dilemmata: Soll man sich zwecks einem Bruch mit dem Bisherigen auf (teil)rasierte Schädel, Tätowierungen an anderen als den üblichen verdächtigen Stellen, züchtige Trachten, Unisex-Outdoorbekleidung usw. verlegen? Was wäre damit gewonnen? Und dann halt ähnlich für vulgär und distanziert: Man fühlt sich ehrlicherweise nur in einer Betrachtungsweise wohl, oder eine fühlt sich zumindest in einer bestimmten Situation „richtig“ an – und zugleich ahnt man, dass diese Aufrichtigkeit nicht authentisch sein muss, keine freie, fast heroische Wahl, kein entschlossenes ästhetisches Projekt, sondern banal mit Kinderstube, Fernsehkonsum, Freundeskreis, ein wenig zeitgeistiger Geschlechterpolitik und vulgarisierter Romantik (d.h. der später popularisierten Form des Zeitgeistes jenes Zeitalters) zusammenhängen könnte.

Mit solche Aufweitungen und Versuchen, wenn nicht Freiheit durch Auflösung und Rekombination von Unterscheidungen, so doch eine gewisse Symmetrie herzustellen, sind wir natürlich noch nicht sonderlich fortgeschritten. Viele andere Richtungen sind noch denkbar. Und die Probleme werden nicht weniger. Hört das denn niemals auf?, möchte man fragen.

Noch eine andere Frage, ob man über Schönheit reden darf: Welchen Sinn hat ein Lob der Schönheit, wenn sie unverdient ist? Ist die Schönheit gut? Besteht nicht eine endgültige Spaltung und Unabhängigkeit zwischen dem Guten und dem Schönen, zumindest in modernen Weltbildern (es kann nicht einfach angenommen werden, dass sie zusammenfallen, und ihre Kriterien sind ohnehin verschieden)? Welchen Wert kann dann Schönheit von Menschen haben? Sie ist ja kein Verdienst und keine Pflicht, überhaupt (idealisiert gesprochen) keine Folge von Handlungen. Es geht hier also offenbar um ein Gutes, das wir in der Welt entdecken oder in sie hineinlegen (hineinlegen nicht im Sinne von handelnd schaffen, sondern Als-Schön-Ansehen), nicht ein Gutes, das wir überzeugt und entschlossen tun. Solches Gute wird nur im in einem weiteren Wortsinne gelobt, sondern eher gewürdigt. Das moralisch Gute, das lobenswert ist – aber nicht geschehen sollte, um gelobt zu werden – wird durch gleichzeitige Schönheit sicher nicht schlechter, würde man sagen. Aber Schönheit zu entdecken und zu loben kann eben nicht losgelöst vom Moralischen geschehen: Solches Lob wäre, moralisch unbedarft geäußert, womöglich ein vergiftetes, etwa herablassende einseitige Musterung und Definition der rechten Beschreibung des Körpers (nach dem Prinzip: Nur ich bestimmte, was wahr und bedeutend über ihn zu sagen ist). Bestünde womöglich in einschnürenden Komplimenten (die Betrachtete darf nichts tun, was das Schönheitsempfinden des Betrachters in seiner Ästhetenmacht stört). Ober wäre schlicht Lob für Dinge, die man nicht gelobt wissen will, weil man selbst ein gespaltenes Verhältnis dazu hat (wieder ein Dilemma: Gerade diese Dinge loben, um etwa ein „falsches Bild“, ein „gestörtes Empfinden“ zurechtzurücken oder das aufrichtig gefühlte Unbehagen respektieren, wenn sie nichts über ihren Bauch hören will?).

Schönheit, wie sie sich so findet, ist konsequent gedacht moralisch neutral (die vermeintlichen Grenzen dessen sind Äquivalente zum Fall Richard Wagner: Wüsste man nicht, dass diese Frau z.B. eine Verbrecherin oder Antisemitin ist, so würde man es ihrer Schönheit nicht ansehen; wenn man es aber weiß, mag es schwer fallen, sie schön zu finden). Man kann sich, ohne nicht auf irgendeine Weise metaphysisch „gläubig“ oder abergläubisch zu sein, nicht darauf verlassen, dass Schönheit und Moral gemeinsam vorliegen. Auch nicht, dass Schönheit gerecht verteilt ist. Wer preist aber die, welche man allgemein nicht so recht schön findet? Und wie? Der Verweis auf „innere Werte“ klingt da doch wie ein schwacher Trost, wenn es nur sonst nichts zu loben gibt. Gäbe es dann etwa ein Recht auf Schönheit oder muss nur hinsichtlich der Gesamtbilanz der Würdigungen die Lotterie des Lebens ausgeglichen sein, d.h. an jeder Person gerade so viel zu würdigen sein, dass sie sich glücklich schätzen kann, ungeachtet ob nun Schönheit oder was auch immer sonst gelobt wird? Das Recht auf Schönheit würde ja auch implizieren, dass die „Produktionsmittel“ demokratisiert werden müssten. Gleichverteiltes Lob hätte hingegen etwas Künstliches, ja fallweise Verdächtiges (man hätte den Eindruck, nur aus Gerechtigkeitsgefühl, oder in letzter Instanz aus Mitleid gelobt zu werden). Ein Recht auf ästhetische Würdigung reicht ein wenig an das Tabu heran, ein Recht auf sexuelle Befriedigung zu postulieren: Die Freiheit der Würdigenden bzw. Befriedigenden steht im Gegensatz zu den Bedürfnissen der Gegenseite (wobei man diskutieren kann, ob willentliche, wenn auch widerstrebende, womöglich nur aus moralischer Verpflichtung vollzogene sexuelle Handlungen bei allem Widerstreben noch eher denkbar sind sind als Schönfinden nur aufgrund des Willens dazu – die Frage eines ästhetischen Voluntarismus: Kann man schön finden wollen?).

Wir kommen wohl nicht so leicht aus dem Dilemma heraus, das eine moralisch und soziologisch immer verkopftere Ästhetik immer unspontaner, indirekter, komplizierter wird oder wirkt – es sei denn in der Hoffnung, aus der Übung und Herausforderung der ästhetischen Urteilskraft erwachse dereinst ein aufrichtiges und lustvolles neues Schönheitsempfinden ohne Machtasymmetrien, ergänzt um die Wertschätzung aller in ihren diversen Eigenschaften, mal distanziert und mal „vulgär“.

Geschlechtsteilchen

Die Biologie scheint heute die Wissenschaft zu sein, die uns sagt, was es mit dem Menschen so auf sich hat: Säugetier, großes Hirnvolumen, aufrechter Gang usw. Ein wenig Philosophie und Theologie halten manche für erlaubt, aber die Biologie ist im Zweifelsfall Garantin für Wahrheit (Gentest und Hirnscan sind etwa ultimative Beweise für Identität respektive Denken bzw. Fühlen). Natürlich hat sich die Soziologie bei der Biologie im Laufe ihrer Geschichte großzügig bedient, und das sogar mit abnehmendem Schaden und zunehmendem Nutzen: vom Sozialdarwinismus zu vernünftigen Theorien sozialer Evolution, aber auch bei manchen Methoden (ich bin ja selbst auch nicht unschuldig bei deren Weiterverbreitung). Manche irreführende oder unreflektiert Metaphorik bleibt, aber die Gesellschaft als Körper, eine Kultur als gesund oder ungesund zu bezeichnen, das ist sicher nicht mehr Stand der Sozialwissenschaft. Aber Biologie ist nicht alles (einige wollten immerhin in der Frühzeit der Soziologie die Rede von der „Sozialphysik“ etablieren). Vor allem, wenn daraus gar nicht erst Sozialwissenschaft wird, sondern es schlecht verstandene Biologie zur Erklärung sozialer Phänomene bleibt.

Nehmen wir etwa die Geschlechterunterscheidung. Müssen wir uns sie in sozialer Hinsicht vorstellen wie eine Art organische Substanz, eine relativ dauerhafte körperliche Sache, die ständig Lebensäußerungen hervorbringt – ein Trieb, Genprogramm, oder etwa so etwas wie Blutgruppe oder Schuhgröße? Wie wäre es stattdessen mit etwas Teilchenphysik? Es kommt mir dabei nicht so sehr darauf an, nun physikalisch korrekt zu argumentieren, sondern auf die Metaphorik.

In einem kurzen Augenblick kann es dazu kommen, dass in einem Gewirr von Teilchenkollisionen und Lichtblitzen ein Teilchen und ein Antiteilchen auseinandertreten. Sie sind klar unterscheidbar, wenn man die richtigen Messinstrumente hat. Andernfalls bekommt man nichts mit. Kurz darauf sind sie auch schon wieder weg, vernichten sich in Energie, die an anderer Stelle weiterwirkt. Das ganze Ensemble ist höchst instabil, fällt ohne besondere Maßnahmen, ohne Energiezufuhr sofort wieder in sich zusammen. So im Alltag: eine winzig kurze Beobachtung. Die Unterscheidung „Mann oder Frau“ tut sich meist unwillkürlich auf. Sie ergibt nur Sinn, wenn die andere Seite auch existiert, zumindest als Erwartung: Dieser Mensch ist eine Frau, ist kein Mann, und tut etwas. Und das ist z.B.: eher männlich. Oder es ist: Wie man in der CDU halt so denkt und redet, oder: typisch für Hipster, oder: schlechter Service. Und weg ist die Unterscheidung, in sich zusammengefallen zugunsten einer neuen. Denn Gedanke folgt auf Gedanke, und über kurz oder lang sind sie instabil – wiederholen sich zwar und können eine Weile bleiben, aber das Denken geht weiter, neue Unterscheidungen müssen das gerade Gedachte ablösen. Natürlich kann man aus einer Unterscheidung sehr viel machen, wenn man entsprechende Energie zuführt, d.h. entsprechend motiviert ist: lange Reden über Geschlechterunterschiede führen, sich über Genderforschung aufregen, sich über die recht triviale Paradoxie auslassen, dass Forschung, welche Unterschiede aufheben oder anders sehen will, diese erstmal immer wieder herstellt, usw. Muss man aber nicht. „Die Gedanken sind frei,/wer kann sie erraten?/Sie fliehen vorbei,/wie nächtliche Schatten“, heißt es bekanntlich.

Wie unterscheidet man Männer und Frauen? Man würde vielleicht naiv antworten: biologisch (da eben das Denken eingeschliffen ist, die Biologie erhelle das Wesen des Menschen). Somit anhand der Genitalien, anhand der Gene, vielleicht anhand der sekundären Geschlechtsmerkmale, aber das ist schon trügerisch. Flachbrüstige oder Männerbrust, Damenbart und Stimmbruch hin oder her, der Beweis liegt in der Hose, denkt man (oder in den Genen). Die eigentliche Antwort lautet aber, wie in der Teilchenphysik: Man beobachtet höchst indirekt. Zum Beispiel bei Personen in Winterkleidung aus einiger Entfernung von hinten. Wer kann schon mit Sicherheit ausschließen, dass man sich bei der gut aussehenden Frau in eine Penisträgerin verguckt hat? Oder indem man sich fragt, ob ein ausländischer Name unter einem Artikel im Internet nun männlich oder weiblich sei. Die Leserinnen und Leser dieses Blogs, welche den Verfasser schon nackt gesehen haben, dürften sich an ein bis zwei Händen abzählen lassen. Alle anderen müssen auf Schlussfolgerungen und Wahrscheinlichkeiten vertrauen. Meinen Chromosomensatz kenne selbst ich nicht, Hormonspiegel wurden bei mir noch nie gemessen, meine Fruchtbarkeit wurde meines Wissens auch noch nie unter Beweis gestellt.

Wir müssen für unsere Unterscheidungen jede Menge Messinstrumente mitschleppen. Dass sie inzwischen gut funktionieren, bedeutet nicht, dass sie nicht labil sind und schwierig zu konstruieren waren. Sie sind aufwändig hergestellt und eingestellt. Kinder müssen das erst lernen: was und wie Männer und Frauen „sind“, und was davon sie selbst (selbst wenn man darüber reden möchte, was Personen körperlich „sind“, so heißt noch nicht, dass sie es wissen im eigentlichen Sinne des Wortes „wissen“). Jugendliche müssen bei Dr. Sommer in die Lehre gehen. Noch als Erwachsene glauben sie an ein Rätsel, glauben, dass im Geschlecht irgendein tiefes Geheimnis des Menschseins liege (statt ihren Spaß zu haben oder es sein zu lassen). Und dann sind die Messinstrumente doch manchmal irritiert: strange matter. Tops und bottoms. Charm und spin. Gay und straight, cis und trans oder Geschmacksrichtungen wie vanilla.

Und die beobachtete Person zerfällt ja und kann sich neu zusammensetzen, wie die Teilchen. Man verbindet sie mit Haushalt, Sex, Ehepartner, Schuhen, Karriere, Zielgruppen für Slipeinlagen, Schwulenbars, Brustkrebs, Zehen, an denen man lutschen könnte, usw., aber nicht mit allem zugleich.

Aber sind nicht Geschlechter anders als Teilchen, die man erst herstellen muss, laufen nicht Männer und Frauen herum? Es laufen Personen herum, die gebär- und zeugungsfähig sind, die solche und solche Chromosomen haben, diese oder jene Hormonspiegel, einen Bartansatz, kurze Röcke an, Sommersprossen, einen Finger zu wenig, Fussel im Bauchnabel, einen sitzen, Nachtschicht, die Krätze, ein SPD-Parteibuch in der Schublade, sich einer geschlechtsangleichenden Operation unterzogen, Heuschnupfen usw. Ich habe ja nicht Körper oder Dinge mit Teilchen verglichen, sondern Unterscheidungen, welche auftauchen und zerfallen. Unterscheidungen von Körpern, Namen, Äußerungen, Handlungen usw. Und umgekehrt: Männer und Frauen müssen erst mittels Energie auseinandertreten. Man muss so beobachten und nicht anders (oder: Man muss nicht so beobachten, sondern kann auch anders). Oder so: Sie müssen hergestellt werden, mit Energiezufuhr. Die Teilchen müssen hergestellt werden, kleine Körper mit ihren Körperhaltungen, Körpermodifikationen, Bekleidungen, kosmetischen und medizinischen Behandlungen. Selbst wenn die Körper schon allerhand mitbringen – sozial wesentlich ist die Beobachtung (und die Beeinflussung der Körper, indem man sie sozialen Kraftfeldern aussetzt).

Man sollte nur wissen, was man tut und seine Messinstrumente kalibrieren oder auch mal austauschen, seine Manipulationen an den Teilchen bedenken oder auch mal variieren. Und öfter mal darauf hinarbeiten, dass andere Unterscheidungen aufblitzen.