Was hält die Gesellschaft zusammen? (1)

von Benjamin

Bist du noch ganz bei Trost, diese Frage hier beantworten zu wollen? – Naja, eigentlich beantworten will ich sie ja nicht, sondern nur einige gängige Vorstellungen nennen, insbesondere die außerwissenschaftlich verbreiteten, und einige vor allem zweifelnde und differenzierende Gedanken dazu äußern, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Also warum nicht Krieg aller gegen alle, reiner Egoismus, Zufälligkeit oder Beliebigkeit aller Handlungen, Unverständnis jedes anderen, Unordnung und Chaos, reine Eigenbrötlerei oder robinsoneske Selbstgenügsamkeit, oder was sonst das Gegenteil von Zusammenhalt, Integration, sozialer Ordnung wäre?
Man hat z.B. vorgeschlagen: Werte. Dass die Gesellschaft durch Werte geordnet werde, klingt im Fach nach 50-er-Jahre-Soziologie. Hingegen findet man diese Vorstellung, wenn auch meist indirekt, in vielen Reden und Kommentaren ausgedrückt. Gewiss, wenn wir alle genau dieselbe Vorstellung von der Familie, der guten Bildung, der Rolle des Nationalstaates in der Welt, der Freiheit der Meinungsäußerung usw. hätten, dann würde die Gesellschaft einigermaßen gut funktionieren. Es wäre nur dann nicht mehr dieselbe, sondern eine von Klonen. Denn weil Werte gerade ohne Beipackzettel kommen, werden die Wechselwirkungen und die Dosierungen in der jeweiligen Kombination sehr unterschiedlich beurteilt. Das Problem sind also nicht unbedingt die Werte. Bei einigen wird man recht viel Zustimmung im Abstrakten erlangen können, etwa dass Familien eines gewissen Schutzes bedürfen (bei anderen schon nicht mehr: Nation, Patriotismus, Leitkultur? Und wie definiert man eigentlich eine Familie, und wie nützt man ihr am meisten?). Das Problem sind ja die Wertabwägungen, die Entscheidungen, welche Werte Vorrang haben sollen. Die Forderung nach „mehr Werten“ hat dann schon was Humoristisches: Noch mehr Werte?! Niklas Luhmann konnte darüber herrlich spotten: Das wäre ja wohl das letzte, was wir bräuchten, noch eine Vervielfältigung derjenigen Werte, die wir schon so nicht unter einen Hut bekommen. Natürlich könnte manchen Personen durchaus der Wert des einen oder anderen Wertes mehr einleuchten (banalerweise: dem Verbrecher der Wert von Eigentum, körperlicher Unversehrtheit usw.), aber es scheint schon fraglich, ob das Problem auf dieser Ebene sinnvoll formuliert ist: Wie hat man sich das vorzustellen, die Vermehrung der Werte in den betreffenden Bevölkerungskreisen? Dass viele Soziologen wiederum recht energisch den Wertbegriff ablehnen, ist dann aber auch wieder ein Kuriosum, das sich zu einem beträchtlichen Teil daraus erklärt, nicht altmodisch sein oder reden zu wollen. Denn man kann es sich zumindest vorstellen, dasjenige „Werte“ zu nennen, woran wir als strebenswerte Ziele festhalten, woran wir also eine antreibende oder verpflichtende Bindung empfinden, oder vor dessen Kompromittierung wir ehrfurchtsvoll zurückschrecken – selbst wenn „Wert“urteile nicht auf diesen einen Mechanismus reduzierbar sind.
Viel zu idealistisch, sagt der selbsternannte Realist, das mit den Werten – die gesellschaftliche Ordnung beruht auf Gewalt! Und gewiss, wir reden vom Gewaltmonopol des Staates, und sind nicht Verstöße gegen die Ordnung mit Zwangsanwendung bedroht? Wenn einige aber einwenden, die Erziehung beruhe wahrscheinlich bei uns heute weniger auf Gewalt, im langfristigen historischen Vergleich seien Strafen heute maßvoll, es komme seltener zu willkürlichen Zwangsmaßnahmen usw., so wird eingewandt, letztlich habe sich die Gewalt nur verlagert: psychische Gewalt in der Erziehung, Macht über das Bewusstsein auf der Grundlage von Bildung und Medien, ökonomische Zwänge auf den Märkten usw. Andere wiederum beharren darauf: Das sei doch keine Gewalt im eigentlich Sinne, diese sei eben nicht mehr die Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung oder es nie so richtig gewesen (was insoweit bedenkenswert ist, dass vergangene Herrschaftsformen zwar drakonische Strafen vorsahen, jedoch häufig nicht in der Lage waren, diese systematisch in der Fläche anzuwenden), bzw. es sei nicht die Gewaltandrohung, die mich davon abhält, mich an der Nachbarschaft selbst oder ihrem Besitz zu vergreifen. Hierzu aber später; jedenfalls reagiert auf diese Kritik an der Weitung des Gewaltbegriffs nunmehr der Gewalt-Theoretiker mit dem Vorwurf, dass wer diese fortdauernde Omnipräsenz von Gewalt nicht anerkenne, die bestehende Gesellschaft rechtfertige. Freilich ist das aber erstens eine Definitionsfrage, wie weit oder eng man seine Begriffe wählt. Weite Begriffe haben den Nachteil, dass man damit keinen Unterschied machen kann, der einen Unterschied machen könnte. Wenn alle Gesellschaften gleich gewaltsam sind, wie unterscheidet man sie dann? Letztlich nur mit Differenzierungen, mit deren Hilfe man anschließend feststellen kann, dass sie recht ähnlich oder verschieden sind. Entweder muss man doch Formen von Gewalt unterscheiden (und sie dann wieder untereinander vergleichbar machen, damit man sehen kann, wo es mehr und wo weniger Gewalt gibt – wie hat man sich das vorzustellen?) oder man muss Gewalt von anderen Sachverhalten unterscheiden. Zweitens ist doch die Frage, wer da die bestehende Gesellschaft rechtfertigt. Wenn man bestritte, dass es weder Gewalt noch andere kritisierbare Unfreiheiten, Ungleichheiten, Zwänge, Leiden usw. gebe, dann wäre das eine seltsame Sache. Und mit der stellenweise zurückgegangenen Gewalt müssen ja nicht alle andere kritisierbaren Verhältnisse ebenfalls weggefallen sein. Wenn man aber umgekehrt nahelegt, die gegenwärtige (moderne mitteleuropäische Teil-)Gesellschaft sei trotz eines grundlegenden Formwandels der Gewalt noch immer ähnlich gewalthaltig, dann droht man doch auch den Eindruck zu erwecken, die Summe der Gewalt sei immer konstant, nur die Form ändere sich (wie auch immer man die Gewaltformen ineinander umrechnet) – woraus man schließen könnte, daran sei ohnehin nichts zu ändern. Letztlich rechtfertig aber keine der Sichtweisen die Gesellschaft mehr oder weniger, sondern es handelt sich primär um Fragen einer sinnvollen Beschreibung der Gesellschaft und der Rolle der Gewalt darin, unter Annahme einer bestimmten Definition davon. Boshaft formuliert: Man müsste eben mehr bieten, als die These, dass Gewalt alles zusammenhält, unter der Bedingung, dass alles, was die Gesellschaft zusammenhält, Gewalt heißen soll. (Z.B. die These, dass die Friedlichkeit unserer Gesellschaft teilweise auf einen beständigen Ressourcenfluss von anderswo zurückgeht, der unter Verhältnissen erarbeitet wird, die wir bei uns nicht tolerieren würden und die dort zu Unfrieden und Gewalt führen.)
Wir könnten aber ja eine besonders sanfte „Gewalt“ als die heute bei uns vorherrschende Form betrachten, Ordnung zu schaffen, nämlich die Einflüsse auf unsere Haltungen, womöglich gar unsere Persönlichkeit, die von Kulturindustrie und Propaganda ausgehen (man kann auch je schönere Begriffe wie Medienangebote, Kulturgüter, Werbung, Öffentlichkeitsarbeit usw. einsetzen). Mit den Varianten, dass dies aktiv geschehe, es sich also um gezielte Manipulation handele, oder dass ohnehin alle Bereiche ein ähnliches (Un-)Bewusstsein durchdrungen habe, so dass es keiner Abstimmung mehr bedürfe, damit das kulturelle Angebot letztlich auf eine große Vereinheitlichung hinauslaufe. Nun befindet sich diese These offensichtlich an der Grenze zur Verschwörungstheorie oder hat diese bereits überschritten. Davon scheint sich die Soziologie abgrenzen zu müssen, oder die Verschwörungstheorie sublimiert formulieren, also derart stilisiert, dass sie dem wissenschaftlichen Diskurs angemessen sich präsentiert. So wären wir bei zwei Forschungssträngen, wovon einer Verflechtungen zwischen mächtigen Akteuren untersucht, die sich auch auf interessensdienliche Medienangebote, politische Kampagnen oder die Formung der Populärkultur ausdehnen, während die andere Forschungsrichtung solche Muster der vor allem medial vermittelten Kultur analysiert, die vielen Angeboten auf einer recht abstrakten Ebene gemein sind und ein bestimmtes Bild der Gesellschaft und sinnvoller menschlicher Bestrebungen zeichnen. Also einerseits Netzwerke der Kontrolle und Abstimmung und andererseits Grundbotschaften der industriell produzierten Kultur. Sobald man aber von solchen Mechanismen ausgeht, und nicht mehr von der sehr platt vorgestellten manipulativen Herstellung gehirngewaschener Konsumenten, lässt auch die Erklärungskraft des Ansatzes nach, so wichtig man Massenkultur und überredende Kommunikation für die Abstimmung der Einstellungen werten mag. Schon der naive Kulturindustrie-Forscher selbst ist aber ja ein Gegenbeleg für eine Allmacht dieser Vorgänge, wenn er diese unbeeindruckt analysieren kann (wir vereinfachen natürlich übermäßig und tun damit der eigentlichen Kulturindustrie-Forschung unrecht). Wir kennen natürlich auch die These von einer Fragmentierung der Gesellschaft in Lebensstil und Subkulturen, und einer massiven Differenzierung des kulturellen Angebots derart, dass davon keine Gemeinsamkeiten mehr ausgingen. Die einen bedauern das als Verlust der Integration, die andere würden sich darüber freuen, glauben aber nicht recht daran, dass die Kulturindustrie-, Vermassungs- oder verwandte Thesen tot sind. Wenige weisen darauf hin, wie ordnend eine gemäßigte Differenzierung sein kann (worunter man die heutige auch durchaus fassen kann, denn die Vielfalt ist ja keineswegs ohne Muster, sondern es gibt ganz gewaltige Typisierungen sowie Ballungen, Konzentrationen des Publikums und des Angebots): Die Kultur spiegelt demnach nur die Struktur der Gesellschaft wider – oben und unten, links und recht, alt und jung, progressiv und konservativ, nach Beruf und den verschiedensten Freizeitinteressen usw. Teils spiegelt sie, wie es die Art der hier vorherrschenden kulturschaffenden Personen und Organisationen ist, die Gesellschaft mit gebremster Konfrontation, also mittels recht friedlicher, ja oft geradezu konsequenzfreier oder selbstzweckhafter Kritik, teils so, dass man friedlich in seinen verschiedenen Welten aneinander vorbeilebt, teils so, dass man den Eindruck gewinnt, der benachteiligte Rest der Gesellschaft bleibe schon an seinem Platz und das sei gerechtfertigt oder unabänderlich und einigermaßen erträglich.
Aber haben wir es hier nicht wieder mit einem schwachen Mechanismus zu tun? Denn Kultur ist ja mehr als industrielle Massenkultur. Und ist nicht oft eben nackte Gewalt dann doch überzeugender als alle Propaganda? Ohne die Einschränkungen im Detail durchzugehen, mag uns die Beobachtung genügen, dass zumindest manche außerwissenschaftlichen Theoretiker der Kulturindustrie-These gerne auf „die Gehirne“ verweisen, so als habe damit die Greifbarkeit der Erklärung sichergestellt, die Verankerung im Materiellen und damit vermeintlich einzig Realen. „Kultur“, selbst in Verbindung mit Industrie, scheint zu schwach; das Gehirn erst verbürgt offenbar die Massivität des Einflusses.

(Fortsetzung folgt)