Synästhetische Soziologie

Versuche und Unterweisungen, die Gesellschaft mit Sinn und Verstand zu begreifen

Kategorie: Großtheorie

Warum es uns andererseits nicht egal sein sollte, ob Relotiusʼ Geschichten falsch sind

Natürlich ist es nur in gewisser Hinsicht egal, ob Relotiusʼ Geschichten falsch sind (bei der Diskussion meiner und anderer Leute Thesen in einem Kolloquium konnte ich das noch einmal deutlich manchen). Man könnte mein Argument noch mal beispielhaft so zusammenfassen: Um zu verstehen, wie er die Redaktionen und Jurys dermaßen in den Bann ziehen konnte, müssen wir verstehen, was Jurys und Redaktionen eben so in den Bann zieht und warum. Wenn wir wissen wollen, wie er mit seinen Erfindungen durchkommen konnte, müssen wir herausfinden, was insgesamt in Redaktionen gegengeprüft wird und was nicht und warum. Oder auf einen anderen Gegenstandsbereich bezogen: Wir brauchen keine Forschung zur Verbreitung von „Fake News“, wenn wir ohnehin eine Forschung zur Verbreitung von Dingen auf sozialen Medien haben, wie eine Kollegin betonte. Bei allen solchen Untersuchungen müssen wir unsere Haltung zur Wahrheit und Falschheit von Aussagen einklammern, natürlich ohne dass wir sie aufgeben müssen. Im Gegenteil, sie können uns ja durchaus motivieren und die Relevanz unseres Gegenstandes und unsere kritische Stellungnahme zu sozialem Geschehen begründen.

Jedenfalls sollte mein Argument nicht beiseite gewischt werden mit der Schelte, mit der früher auch der so genannte radikale, in Wirklichkeit aber erkenntnistheoretisch etwas platte und performativ selbstwidersprüchliche Konstruktivismus in unserem Fach versehen wurde. Die Antwort lautete damals sinngemäß: Aber wo kommen wir da hin?! Was ist dann überhaupt noch wahr?! Soll denn alles erlaubt sein, kann man jetzt einfach alles erfinden?!

Die mit dem Symmetrieprinzip gefordert Urteilsenthaltung ist aber eben paradoxerweise notwendig, um bestimmte Urteile klar fällen zu können: Wir müssen unser eigenes Urteil über die Wahrheit einer Aussage ausklammern, um ein Urteil fällen zu können, welches die beste Erklärung dafür ist, dass andere diese Aussage glauben oder nicht. Die Urteilsenthaltung, der Relativismus führen also nicht in bodenlose Zweifel, sondern zu handfesten Erkenntnissen, auf die wir uns (vorläufig) als wahr festlegen.

Diese Lage führt zu einer paradoxen Verkehrung der Lager: Ein Erzpositivist wie Bloor konnte dann in die Nähe irgendwie radikaler Postmoderner gerückt werden. Die Erzpositivisten bei uns im Fach stürzen sich auf die Forschung zu „Fake News“, obwohl sie eigentlich konsistenterweise nicht nur werturteilsfrei, sondern überhaupt mit Blick auf die fraglichen Nachrichten urteilsfrei (im Sinne von: symmetrisch) forschen müssten. Und es ist paradox, dass Forschung, die sich des Urteils enthält, manchmal provokativer und kritischer ist als eine, bei der klare Urteilskriterien, ja sogar die Urteile bereits im Vorhinein feststehen.

Aber natürlich bin ich überzeugt von der Legitimität, ja der zwingenden Notwendigkeit normativer Forschung. Die Wissenschaft kann nicht alleine einen Typus von Aussagen beackern, nämlich Realitätsbeschreibungen, sondern sie sollte sie sollte auch normative Fragen mit der ihr eigenen Gründlichkeit systematisch und methodisch bearbeiten.

Ich muss gestehen, dass ich es nun nicht sonderlich interessant finde, die Richtigkeit journalistischer Aussagen im Rahmen einer normativen Qualitätsforschung zu erheben und zu vergleichen, wie jemand nahelegte. Journalistischen Beiträgen hinterherzurecherchieren ist vielleicht eher Aufgabe von entsprechenden Fachleuten, aber man kann dies natürlich auch als eine legitime Fragestellung in der Kommunikationswissenschaft ansehen. Ähnlich die Analysen zur Verbreitung so genannter Fake News. Hier erklärt die Zuschreibung der Unwahrheit zwar nichts und Festlegung der Stichprobe kann methodisch gefährlich werden, aber die Forschung kann hier mit ihrer datenanalytischen Kompetenz zu einer Problemdiagnose beitragen, indem sie die Dynamik der Verbreitung aufzeigt. Wichtiger wäre mir aber z.B. eine gründliche Diskussion und Operationalisierung von Diskurskriterien, etwa wie Ansprüche auf Wahrheit und Wahrhaftigkeit eingelöst werden sollten, eingelöst werden oder nicht. Das würde erst einen normativen Standard liefern, den man an inner- und außerjournalistische Beiträge anlegen könnte.

Gerade auch eine kritische Forschung, die grundlegender und normativer ansetzt mit ihren Erklärungen und Funktionszuschreibungen, muss sich bei der Analyse bestimmter Zusammenhänge des Urteils enthalten, um nicht zu Fehlschlüssen und Pseudoerklärungen zu gelangen, so sehr ihre Kategorien ansonsten normativ aufgeladen sein mögen.

Meiner Auffassung nach inspiriert der Fall Relotius zu I. politökonomischen Erklärungen und entsprechender Kritik und II. zu anerkennungstheoretischen normativen Forderungen (ohne dass ich hier zur klassisch z.B. bei Fraser und Honneth diskutierten Frage Stellung nehmen möchte, in welchem Verhältnis beide Arten der Kritik stehen).

I.

Es entspann sich zunächst in besagtem Kolloquium eine Kontroverse, ob die Fälschung völlig konträr zur Logik des Journalismus oder die natürlich Fortsetzung seiner Logik sei. Zunächst scheint klar, dass erfundene Aussagen sicher nicht konform zu den Normen des Journalismus und seinem Ansehen schädlich sind. Aber das natürlich nicht falsche Beharren auf Faktentreue im Detail blendet doch auf bequeme Weise die umfassendere Frage aus, welche Realität der Journalismus insgesamt konstruiert. Dass Relotius der platten Lüge überführt werden konnte, entlastet ferner von der Frage, ob die ideologischen Implikationen seiner Geschichten nicht auch problematisch waren.

Und vor allem stellt sich ja trotzdem die Frage, ob es nicht systemimmanente Gründe gab, warum er erfand, und ob es völlig beliebig war, was er in welchem Zusammenhang erfand. Die Erklärung sollte jedoch keine allzu platte Kommerzialisierungsschelte sein. Es gibt nämlich eine teilautonome Ökonomie eines elitären Journalismus, der im Grenzfall auf zweckfreie Diskursanregung, ja -erregung oder auf Bestaunen seines Stils und seines narrativen Aufbaues statt auf reinen Massenkonsum und unmittelbare Reichweitenmaximierung abzielt (und in dem dann die exotisierende Reportage oder auch die von jeder Betroffenheit und Perspektivübernahme entlastete Diskussion à la „Oder soll man es lassen?“ gedeihen). Erst indirekt über ein ähnlich gestimmtes oder (lustvoll) empört klickendes Publikum ist er auch kommerziell einträglich, aber teilweise vom Markt abgeschirmt. Seine Währung ist eher das kulturelle Prestige, ja die innerjournalistische Anerkennung (etwa in Form von Preisen oder des seltenen Lobes des Chefredakteurs).

Es handelt sich im Grenzfall um l‚art pour l’art, etwa um eine Kunstform der Provokation (mein eigener Vortrag war ja auch ein wenig eine solche Glosse eines privilegierten Schönredners oder -denkers – trotzdem muss sich die Forschung gerade vor Fehlschlüssen und epistemologischen Problemen hüten, wenn es um viel geht, etwa um die Wahrheit oder menschenfeindliche Ideologien. Relevanz und Engagement ersetzen ja keine systematische Theoriebildung und methodische Strenge…) oder eine Kunstform des Erzählens. Trotz augenscheinlicher gesellschaftlicher Relevanz des jeweiligen journalistischen Themas gewinnen die Atmosphäre, die Stilmittel, die tieferen Narrative die Oberhand über die wirkliche Beschäftigung mit dem Gegenstand bzw. die Begegnung auf Augenhöhe und die Widerständigkeit des sozialen Sachverhaltes.

Eine Kollegin wies überdies außerhalb des Kolloquiums darauf hin, dass gewisse Felder anfällig sind für einen Personen-, ja Wunderkinder- oder Geniekult. Hier zeigen sich nach ihrer Auffassung Parallelen zu jüngeren Fälschungsskandalen in der Wissenschaft (wo ja die Unwahrheit zu verbreiten ebenfalls systemfremd, die Währung der Reputation und der Drang nach sensationellen Neuigkeiten und nach „Geschichten“, die zu schön sind um wahr zu sein, aber ebenfalls tendenziell systemimmanent sind). Der Hype um eine Person gewinnt womöglich früher oder später Macht über die Betreffenden selbst, die dann liefern müssen und entweder glauben, anders als durch Fälschung nicht mehr liefern zu können, oder vor Entdeckung sicher zu sein. Und zugleich scheut das Feld davor zurück, einen Betrugsverdacht überhaupt zu schöpfen oder, wenn doch, ihn zu äußern und ihm nachzugehen.

II.

Welchen Schaden hat Relotius nun angerichtet? Ein Kollege betonte energisch, die relevanteste Frage sei doch die, in welchen Diskursen der Fall eingewoben und als Munition gegen die etablierten Medien gewendet werde (aber auch zur Reinwaschung des regelkonformen, professionellen Journalismus in Abgrenzung zu den Betrügern herangezogen).

Nun scheint klar, dass der Fall den Lügenpresse-Rufenden in die Hände spielt. Wie sollte er auch nicht? Aber auch hier ist es interessant, einmal von der Frage zu abstrahieren, wer nun mit welcher Kritik recht hat, und die Einflüsse und Bedingungen zu erörtern, welche dafür sorgen, dass der Fall einerseits gewissen Lagern Rückenwind verlieht, andere aber gerade darin bestärkt werden, dass sich Verallgemeinerungen über den Journalismus verbieten und er gerade besonders verteidigt werden müsse.

Ein ökonomisch und risikotheoretisch ausgerichteter Beitrag im Kolloquium kam zu dem Schluss, ein materieller Schaden sei den falsch Dargestellten (so es sie denn gab, oder den in ein schlechtes Licht gerückten Gruppen) nicht direkt entstanden – höchstens schwer greifbar auf Umwegen (was noch ein Grund sein könnte, warum es keine Anreize gibt, solche Vorkommnisse mit viel Aufwand zu verhindern bzw. unwahrscheinlicher zu machen, so führte er aus).

Es entstand stattdessen vor allem Schaden der Anerkennung bei den Betroffenen. Sie wurden in ihrer gemeinsamen Eigenart und persönlichen Identität nicht ernst genommen und nicht als vollwertige Gegenüber anerkannt. Eine solche anerkennungsbezogene Kritik der Medien muss freilich von der rechtspopulistischen Medienkritik abgegrenzt werden. Auch sie fordert letztlich Anerkennung, jedoch auf eine sehr ausschließende Weise. Sie behauptet ja letztlich, dass es innerhalb eines Landes nur eine wesentliche Perspektive und eine vor allen anderen anerkennungswürdige Identität gebe: die des „wahren“, weil angestammten und einer traditionellen Kultur treuen Volkes. Dies müsse sich dann auch in den Medien äußern, die ansonsten mit allerlei Beschimpfungen belegt werden, wenn sie dem nicht Folge leisten.

Freilich nutzt der Rechtspopulismus vor allem auch Normen der Demokratie und des Journalismus, um die Presse unter Druck zu setzen: Regeln der Ausgewogenheit und neutralen Berichterstattung zielen eigentlich auf Pluralismus, aber letztlich geht es im Rechtspopulismus vor allem um den eigenen Vorteil und die Konstruktion eines Opfermythos, während er anderer politische Lager und die Identitäten und Geltungsansprüche von Minderheiten eigentlich als illegitim ansieht.

Das bringt uns dazu, auch unser eigenes öffentliches Wirken zu reflektieren. Wir müssen exklusive Anerkennungsforderungen zurückweisen und dürfen nicht naiv in Diskurse hineingehen. Sonst legitimieren wir eigentlich nicht diskursbereite Gruppen und Akteure, welche „Kritik“ und Gründlichkeit simulieren (etwa durch Ausführlichkeit, scheinbaren Klartext oder einseitige Spiele des Zweifels), aber die sich in höchst asymmetrischer und manipulativer Weise auf diskursive Regeln berufen: Viele, die es schon immer gewusst haben wollen, was sich jetzt beim Spiegel gezeigt habe, tolerieren weitaus gravierende Normverletzungen, wenn sie die eigene Seite betreffen, geben sich aber als die gründlichen und mutigen Skeptiker, wenn sie raunende Fragen ohne konkrete Anhaltspunkte formulieren, und lassen gar Triumphgeheul vernehmen, wenn tatsächliche Verfehlungen der verfeindeten Seiten offenbar werden. Sie sprechen marginalisierten Gruppen oder auch nur abweichenden Parteien die Legitimität ab, fordern aber von diesen als gleichrangig, ja letztlich als unterdrückt anerkannt zu werden. Wir können nicht alle abschreiben, die den Medien misstrauen, auch weil diese ihnen letztlich ebenfalls teilweise die Anerkennung versagt haben. Aber der Versuch, sie zu erreichen und einen Diskurs über die Begründetheit dieser und jener Medienkritik zu führen, darf nicht bedeuten, dass man die Forderung aufgibt, dass alle Seiten den jeweils anderen diejenige Anerkennung zukommen lassen muss, die sie selbst verlangen.

Warum es uns egal sein sollte, ob Relotiusʼ Geschichten falsch sind

I.

Zum Falle Relotius sagte ich neulich in meinem Medienethik-Kurs, dass er ethisch wenig Diskussionsbedarf hergebe – zumindest der grundlegende Tatbestand der Unwahrhaftigkeit liegt auf der Hand und es sind keine besonderen Rechtfertigungen absehbar. „Medienethik“ wäre hier nur die Diskussion abschreckender Beispiele, welche zwar vielleicht der moralischen Erziehung angehender Medienschaffender dienen kann, aber kein theoretisches Handwerkszeug zur Lösung echter Dilemmata liefert. Ethik sollte Reflexionstheorie der Moral sein, welche gängige Vorstellungen auch zu kritisieren erlaubt und manchmal zu kontraintuitiven Folgerungen kommt, zumindest jedoch auch etwas anspruchsvollere Probleme zu diskutieren erlaubt.

Vielleicht ergeben sich entfernter liegende ethische Herausforderungen, aber eine Medienethik und kritische Theorie der Medien haben vielleicht größere Aufgaben, etwa eine politökonomische und anerkennungstheoretische Kritik der Medien, welche die Verschwörungstheorien der „Lügenpresse“-Rufenden ebenso umschifft wie den platten Ökonomismus, nicht nur müden Kulturpessimismus aufwärmt, nicht in elitärem Dünkel auf das Publikum oder die Medienverdrossenen herabschaut, sie aber auch nicht zu durchweg kritischen Geistern verklärt, nicht die oft vagen journalistischen Normen nachplappert, die doch manchmal so höchst ausgrenzend sein und bedenkliche Weltbilder reproduzieren können, während sie den Berufsstand und seine Praxis legitimieren usw. Das soll aber hier nicht Gegenstand sein.

Die Anhängerschaft des kritischen Rationalismus wiederum wird ohnehin fordern, Werturteile aus der Untersuchung journalistischer Tätigkeiten und sogar der Verfehlungen rauszuhalten. Ob das vollständig möglich ist, wäre eine andere Sache. Interessant ist freilich, dass nach meiner Beobachtung gerade einiger der „Positivistischsten“ im Fach in gewisser Weise darauf beharren, ihre Gegenstände zu beurteilen. Sie untersuchen z.B. nicht etwa nur, welche Nachrichten überhaupt geglaubt, verbreitet usw. werden, sondern sie untersuchen heute gerne falsche Nachrichten – also solche, die sie selbst als falsch beurteilen (und ich will diese Einstufung hier überhaupt nicht kritisieren – meist wird man zustimmen können, dass es sich um Falschmeldungen handelt): nicht unbedingt Einzelfälle wie Relotius, aber etwa die vieldiskutierten „Fake News“ in ihrer Masse, ihre Verbreitung, Glaubwürdigkeit, Bekämpfung usw.

Dass die interessierenden Nachrichten falsch sind, ist natürlich kein Werturteil im engeren Sinne, aber eben ein persönliches Urteil über den Gegenstand, das nicht unbedingt nur die Relevanz begründen soll, sondern auch in die Definition des Gegenstandes eingeht. Alleine die Annahme, Irrtümer seien erklärungsbedürftiger als wahre Überzeugungen, ist bedenklich, und dass es eine gute Idee für die Stichprobenziehung sei, seine Grundgesamtheit als „alles was (in einem Bereich) falsch ist“ festzulegen, halte ich für eine erkenntnistheoretisch und methodisch gefährliche Idee.

Man stelle sich vor, jemand hätte sich vor längerer Zeit die Frage gestellt: Woher kommt der Trend zu dieser Art Reportagen, warum werden sie geschrieben und veröffentlicht, wer liest die, warum gewinnen die Preise usw.? Und dabei hätte man die Reportagen von Relotius als Fallbeispiel herangezogen. Man hätte Erklärungen gefunden, Theorien entwickelt oder geprüft, Befunde veröffentlicht usw. Dann stellt sich aber raus: Diese Reportagen waren ja falsch! Muss man jetzt die ganze Forschung wegwerfen? Nein, denn die Erklärungen für die Veröffentlichung und Rezeption bzw. Wirkungen stimmen ja nach wie vor! Relevant ist ja vor allem, wie andere diese Texte wahrgenommen haben. Gänzlich irrelevant für die Erklärungen ist, was man heute darüber weiß bzw. was ich als Forscher weiß oder (sicher) zu wissen glaube. Man darf sich also auch nicht irre machen lassen, wenn man den Fall aus der heutigen Sicht analysiert, und dem Gefühl nachgeben, dass man jetzt irgendwie anders herangehen müsste. Nur die Relevanz scheint vielleicht eine andere, erst jetzt kommt man auf die Idee, dass es da etwas zu forschen gebe (und das kann ein Problem sein, denn es kann ein seltsames Bild entstehen, wenn man nur auf bestimmte problematische Dinge achtet und nicht die unbeachteten problematisiert bzw. eine Sache einmal in ihrer Breite erforscht).

Das Argument gilt auch dann, wenn die zeitlichen Verhältnisse andere sind. Nehmen wir an, ich interessiere mich dafür, warum Leute „Fake News“ glauben (wie auch immer ich sie im Detail definiere – jedenfalls geht es um Nachrichten, die nach meiner sicheren Überzeugung falsch sind). Muss ich dann nicht auch fragen, warum die Leute Nachrichten glauben, die ich für richtig halte? Zumindest müsste das keinen Unterschied für die Erklärung machen. Wenn Leute Nachrichten glauben, die ich wahr finde, dann kann ich das ja nicht damit begründen, dass sie eben wahr sind. Das erklärt nichts und außerdem glauben manche Leute auch Dinge nicht, die ich wahr finde, und rufen dann „Lügenpresse!“ Ich muss eben davon ausgehen, was die Leute glauben, und dann nach den tatsächlichen Gründen suchen. Meine Überzeugung – so wichtig es sein mag, Überzeugungen zu haben – hilft da nicht weiter.

Man könnte natürlich sagen: Ich untersuche Vertrauen nur anhand von Nachrichten, die ich falsch finde – das ist im Moment relevanter („postfaktisches Zeitalter“ usw.). Das ist aber gefährlich, denn das ist eine seltsame Stichprobe. Ich muss also generell nach Gründen fragen, warum Leute etwas glauben (das werden natürlich unterschiedliche Gründe sein, einige da wichtiger, andere dort, andere werden keine Rolle spielen). Meine Überzeugung, was wahre und falsche Nachrichten sind, ist aber natürlich nicht unkorreliert mit den Eigenschaften, Quellen usw. von Nachrichten. Wenn ich nun die Gründe für Glaubwürdigkeit anhand von Nachrichten untersuche, die ich falsch finde und die andere glauben, so könnte das ein verzerrtes Bild liefern, da dies eben bestimmte Arten von Nachrichten mit bestimmten Eigenschaften sind. Selbst wenn ich nur Aussagen über Nachrichten mit genau diesen Eigenschaften treffen will, dann sollte ich das trotzdem nicht nur anhand der von mir für falsch befundenen tun, auf deren Grundlage ich nicht unbesehen verallgemeinern sollte. Denn dann bliebe womöglich die Frage: Warum glauben Menschen andere Nachrichten mit ähnlichen Eigenschaften nicht (die ich aber z.B. glaube und deshalb nicht untersucht habe)?

„Fake News“ sind also kein sinnvoller Forschungsgegenstand, zumindest wenn es einem um Glaubwürdigkeit geht, da ich nach Erklärungen suchen muss, ob Leute etwas glauben oder nicht, ob ich es nun glaube oder nicht. Außerdem bin ich stets verleitet, andere Erklärungen heranzuziehen, je nachdem, ob ich etwas für wahr oder falsch halte, denn das Falsche kann man nur aus irrationalen, verqueren Gründen glauben, so neigt man vielleicht zu denken, während das Wahre ja einleuchtet – oder meine besondere Einsicht eben nicht allen gegeben ist!

Hier muss man also auf so genannte Symmetrieprinzip verweisen (das aus der Wissenschaftssoziologie bzw. Wissenschaftsgeschichte kommt). Es besagt, dass die Erklärung dafür, ob eine wissenschaftliche Theorie oder irgendeine Aussage von anderen akzeptiert wird, nicht davon abhängig sein kann, ob die Aussage richtig oder falsch ist bzw. ob ich, der das erklären will, die Aussage richtig oder falsch finde. Oder anders formuliert: Wenn ich erklären will, warum andere eine Aussage glauben oder nicht, dann muss ich das auf die grundsätzlich gleiche Weise erklären, ganz gleich, ob ich die Aussage nun richtig oder falsch finde (bzw. ich darf in beiden Fällen keine Art von Gründen ausschließen). Oder noch anders: Meine eigene Haltung zum Wahrheitsgehalt einer Aussage darf keine Rolle in dieser Erklärung spielen, darf kein Faktor in dieser Erklärung sein. Das schließt natürlich nicht aus, dass diejenigen Gründe, die mich von der Richtigkeit überzeugt haben, auch andere überzeugt haben und deshalb deren Haltung zu einer Aussage erklären. Ihr Urteil kann jedoch auch von ganz anderen Dingen beeinflusst worden sein, die für mich völlig irrational erscheinen. Sie könnten (aus meiner Sicht) etwas Richtiges aus den falschen Gründen glauben. Und das Symmetrieprinzip verlangt eben auch, Überzeugungen mit gleicher Ernsthaftigkeit zu erklären, ob ich sie nun richtig oder falsch finde, und nicht etwa, entweder nur die Irrtümer oder den Sieg der Wahrheit für erklärungsbedürftiger zu halten.

II.

Der Fall Relotius ist auch nur eine Geschichte, das hat uns die Aufarbeitung durch den Spiegel gezeigt, die den gleichen Stil pflegte wie die fragwürdigen Stücke. Man kann aus Sachverhalten unterschiedliche Geschichten machen, bzw. unterschiedliche Sachverhalte rund um ein Thema herausheben, um eine Geschichte daraus zu machen – diejenige Art der Geschichte eben, die man sich vorstellt, deren Moral von der Geschichte man vermitteln will oder die einem unbewusst als Vorlage dient: Ist Relotius ein Bösewicht oder ein tragischer Held; ist es ironisch, dass jemand Dinge erfinden musste, damit man eine tiefere Wahrheit erkennt; oder ist sein Fall ein Realsatire auf den deutschen Journalismus, der gerne seine Vorurteile bestätigt sieht bzw. dem es auf eine schöne Schreibe ankommt und dem die soziale Wirklichkeit und menschliche Schicksale eigentlich egal sind? Das wären verschiedene Geschichten, die man erzählen oder auf die man anspielen könnte.

Es ist eine Frage der moralischen Wertung, nicht so sehr der sachlichen Richtigkeit, ob Relotius ein tragischer Held ist (viele würden aber halt sagen: Er ist es nicht, weil wir unter „Helden“ normalerweise eher moralisch integre Personen verstehen). Und es ist eine Frage der Urteilskraft, nicht so sehr der Richtigkeit im Detail, ob er und seine Geschichte in das Schema der Tragödie passt (viele würden aber halt sagen: Man muss sich das schon sehr zurechtbiegen, sehr selektiv hinschauen, um darin eine Tragödie zu erkennen). Die Geschichte, die wir in Ereignissen erkennen bzw. die Form, in der wie sie erzählen, ist also nicht so einfach wahrheitsfähig, sondern es geht um Wertungen (was wichtig und was richtig ist, was wir auswählen und wer Held oder Schurke ist oder etwas dazwischen, ob es sich um ein happy ending handelt oder nicht…) und um die Wahl des Erzählschemas (ob es für uns eine Tragödie, Farce, Komödie usw. ist oder nichts davon). Manches bleibt eine Frage der faktischen Richtigkeit (denn wie auch immer die Geschichte verläuft – sie zu erzählen heißt nicht einfach, sie in jeder Hinsicht zu erfinden), aber letztlich beruht die Geschichte auf Weltbildern. Was die Geschichte ist, die man in einer Sache sieht, hängt davon ab, ob man das Gute und Böse in Menschen sehen will, wohin man glaubt, dass die Gesellschaft und die Welt steuern und steuern sollten, ob man glaubt, dass die Welt so eingerichtet ist, dass das Gute letztlich belohnt wird oder das Chaos siegt, usw.

Wer glaubt denn noch an so was?, werdet ihr fragen! Erstens wahrscheinlich mehr als es eingestehen werden. Vielleicht würden wir es nicht so aussprechen, aber es zeigt sich an unseren Urteilen und Handlungen. Und zweitens ist auch der Glaube, dass man das alles nicht wissen könne, ein nur ein weiteres mächtiges Weltbild, das unsere Geschichten prägt.

Der Klassiker zur Frage, welche Geschichten wir nicht nur erfinden, sondern welche wir auch über die Wirklichkeit erzählen, welche Formen der Erzählung wir dabei wählen und welche Ideologien sich darin ausdrücken, ist das Werk von Hayden White.

Nun wurde viel über Whites Ansatz diskutiert, aber einige Ideen scheinen mir von seiner Analyse zu klassischen Werken der Geschichtsschreibung auf den Journalismus übertragbar, obwohl wiederum die Analyse journalistischer Produktion unter dem Gesichtspunkt der Narrativität auch keine neue Idee ist.

Manche journalistischen Beiträge erzählen tatsächlich chronologisch und mit erkennbarem Aufbau eine Geschichte, andere sind immerhin narrativ in dem Sinne, dass das Beschriebene konkret, bildlich vorstellbar ist. Hinter vielen Beiträgen steht auch eine implizite Geschichte, die als bekannt vorausgesetzt werden kann und nicht im Detail erzählt wird: Das Beschriebene ergibt Sinn im Rahmen einer historischen Erzählung, etwa der Erzählung von der Stimme für Trump, die sich rächt, weil er den Interessen der kleinen Leute schadet, oder der Geschichte, wie die politische Korrektheit um sich greift, wegen der man heute nichts mehr sagen darf, oder der Erzählung, dass die SPD niemals gewinnen kann, egal was sie tut, usw.

Und man erkennt die Ideologien, die mal offener, mal versteckter den Geschichten zugrunde liegen, nämlich daran, ob diese expliziten oder impliziten Geschichten gut oder schlecht ausgehen, wer darin gut und böse ist usw. Man erkennt, welches Bild sie von der Welt vermitteln, also dass z.B. nichts Gutes von Dauer ist oder dass hinter allem letztlich die gleiche Antriebskraft liegt; dass alles unvorhersehbar ist, aber meist doch gut läuft, wenn man sich nur auf die Eigeninitiative der Menschen verlässt; oder dass Nationen harmonische Ganze sind oder sein könnten usw. Das vermitteln uns journalistische Texte stets nebenbei oder sogar eindringlich, mal ganz gewollt oder mal eher unreflektiert.

White hebt gerade auch diejenige Formen der Erzählung heraus, die nicht erkennbar gut oder schlecht verlaufen, die betonen, dass sich etwas nicht in eine klassische tragische Form oder in eine Geschichte vom Sieg des Guten fügt. Der scheinbar naive Glaube an die Erzählbarkeit wird negiert, was jedoch eine ebenso grundlegende Vorstellung über die Geschichte impliziert wie andere geschichtsphilosophische Überzeugungen. Übertragen auf den Journalismus bedeutet das, dass auch die bewusst un-narrative Darstellung, die keine offenkundige „Moral“ hat, einer Überzeugung entspringt, wie Wirklichkeit „richtig“ darzustellen sei: nämlich so, dass das Leben keine Geschichten erzählt, zumindest keine klassischen. Das wirkt schön auf- oder abgeklärt, irgendwie moderner als die alten märchenhaften Erzählformen.

Was wir also von Hayden White lernen können, ist uns bewusst zu machen, welche Geschichte man erzählt oder erzählt bekommt und ob es nicht eher die Moral von der Geschichte, die zugrunde liegende Ideologie ist, die sich richtig anfühlt, obwohl wir nicht wissen (können), ob alles faktisch stimmt – oder vielleicht ahnen wir sogar, dass etwas unplausibel oder zumindest überhaupt nicht repräsentativ für ein Phänomen, sondern nur für unsere Vorurteile darüber ist, aber es fühlt sich doch irgendwie wahr an. Und selbst wenn wir versuchen, keine Geschichte zu erzählen, dann nehmen wir damit Stellung gegen all die möglichen Geschichten, die man erzählen könnte – oder erzählen eben doch eine, die uns ganz tief im Hinterkopf als Vorlage dient.

Ich will nun gar keine detaillierte Analyse liefern, welche Geschichten Relotius erzählt hat. Er hat auch nicht unbedingt nur eine Geschichte erzählt, ein Weltbild bedient, auch wenn es im Zweifelsfall oft eher dasjenige war, das gängigen Vorurteilen entsprach. Entweder den allgemein vorherrschenden oder denjenigen, die früher mal bei der taz und ihrem Publikum, später jedoch auch bei der NZZ, der Weltwoche oder dem Cicero irgendwie ankamen. Jedenfalls auch ein Weltbild, das den Jurys gefiel oder ihnen zumindest nicht aufstieß, sondern aufgrund des ganzen Erzählstils bekömmlich war.

Vielmehr will ich nur die These vertreten (die ja gar nicht so neu ist), dass die Attraktivität von Relotius‘ Beiträgen auf ihrer narrativen Form und den damit implizierten Weltbildern beruht. Daraus folgt aber, dass die Auseinandersetzung mit diesem Fall sich nicht nur auf Fragen der Wahrheit und Falschheit im Detail beschränken kann, sondern neben den Redaktionsstrukturen und grundlegenderen journalistischen Normen und Arbeitsweisen auch die Werthaltungen, Relevanzzuschreibungen, Ideologien usw. reflektieren muss, welche der Plausibilität und Attraktivität einer Geschichte zugrunde liegen. Denn diese können mindestens ebenso fragwürdig sein wie erfundene Details, wenn es etwa um gewalttätige Balkanbewohner mit archaischen Ehrvorstellungen, Trump-wählende Hinterwäldler oder einen Jungen geht, der durch Graffiti den Syrienkrieg ausgelöst haben soll (welch ein Geschichtsbild!).

Bayern und die Moderne

Wer unter diesem Titel billige Späße oder Polemik über das rückständige Bayern erwartet oder Hurra-Lokalpatriotismus, kennt mich schlecht (ähem, naja…). Stattdessen gibt es aus aktuellem Anlass eine kurze Bemerkung über die Theorie der modernen Gesellschaft. Vielleicht mit ein bisschen Polemik.

Die bayerische Politik wird von Zeit zu Zeit von Absonderungs-Fantasien heimgesucht. Irgend eine Gruppe soll von der Normalbevölkerung getrennt verwahrt werden. Einst waren es die HIV-Infizierten, in jüngerer Zeit die Asylsuchenden und Geflüchteten, und nun sollen auch die psychisch Kranken mit besonderer Gründlichkeit untergebracht und gesichert werden. Die Begründung lautet immer, dass man nur so den besonderen Problemlagen der Betroffenen gerecht werden, die staatlichen Abläufe vereinfachen und den Rest der Gesellschaft schützen oder besondere Belastungen oder Gefahren von ihm fernhalten könne.

Damit hat man die gesellschaftliche Moderne maximal genau zur Hälfte verstanden. Denn sie beruht in der Tat auf Differenzierung, oder wenn man will: Spezialisierung. Insbesondere gibt es auch eine Fülle staatlicher und gemeinnütziger Einreichtungen (oder Abteilungen derselben), die jeweils auf spezifische Problemlagen von Personengruppen reagieren – auch wenn diese Probleme natürlich immer noch schematisch in Kategorien eingeteilt werden müssen, also z.B. Arbeitslosigkeit, Todesfälle bei Haustieren, Unternehmensgründung, Unfälle in den Bergen, Drogenabhängigkeit usw. Aber Moderne besteht genau darin, dass eine Person nicht von genau einer einzelnen Institution zur Gänze erfasst werden kann. Totale Institutionen wie das Kloster, das Gefängnis, die geschlossene Abteilung psychiatrische Kliniken usw. neigen heutzutage auch zu einer Abschwächung ihres ganzheitlichen Anspruchs: Auch sie wollen und können nicht wirklich das gesamte Leben ihrer Klientel bzw. Mitglieder regeln (sie konnten es sicher nie vollständig, da es immer noch andere soziale Bezüge gab, aber heute wird das schwieriger und vielleicht illegitimer denn je). Und vor allem sind sie eine Ausnahme, nicht der Normalfall der modernen Gesellschaft, in der praktisch alle an den verschiedensten sozialen Aktivitäten, also Familienleben Bildung Wirtschaft usw., teilnehmen und das teilweise auch als Recht aufgefasst wird. Niemand ist nur und als einzige Eigenschaft geflüchtet, nur von Zwangsgedanken betroffen, nur gehörlos, sondern will sich z.B. ein Eis kaufen, die Zeitung lesen, seine Tante anrufen, anderen seine Meinung über den Ministerpräsidenten sagen, an einem Gottesdienst teilnehmen usw. Eine Politik, die Personen nur unter einem Aspekt erfasst, z.B. als krank, mit einer „Lernbehinderung“, mit geduldetem Aufenthaltsstatus usw., und daraus alle oder die meisten weiteren Entscheidungen bezüglich dieser Personen ableiten will, andere Bedürfnisse und Ansprüche nur als notgedrungen zu erfüllende oder gar rechtlich nicht bindend betrachtet, so eine Politik wird also der Komplexität der Moderne nur halb bzw. zu einem winzigen Bruchteil gerecht – nämlich zu genau zu dem Bruchteil, den diese einzelne Eigenschaft an den gesamten Eigenschaften der jeweiligen Menschen ausmacht, so bestimmend sie im Einzelfall für das Leben einer Person sein mag. Und diese Fokussierung auf einzelne Eigenschaften ist eine selbsterfüllende Prophezeihung, wenn alle Lebensäußerungen mit Blick auf diese beschränkt oder auf diese hin gedeutet werden: Man droht immer mehr nur noch die typische Person mit dieser Eigenschaft zu werden und sogar Widerstand wird als Zeichen dafür genommen, dass man eben so ist.

Natürlich ergibt sich aus dieser Beschreibung der Gesellschaft nocht nicht direkt, welche Politik gemacht werden soll. Das ist nicht nur eine Frage der Gesellschaftsdiagnose, sondern eine der Wertsetzungen. Aber die Neigung zur Absonderung abweichender Gruppen deutet auf ein bestimmtes Gesellschaftsbild, das die soziale Welt immer nur so begeift, dass die Bevölkerung nach jeweils nur einem Gesichtspunkt eingeteilt wird, statt als Geschehen, in das alle auf je verschiedene Weise eingebunden sind, so dass Einzelne jeweils an den unterschiedlichsten Aktivitäten, Kulturen, Sprachen, Themen, Problemen usw. teilhaben können. Und jenes Gesellschaftsbild ist asymmetrisch: Alles wird aus Sicht derer betrachtet, die dazugehören, nicht der „anderen“. Die drinnen sind Subjekte der Politik, die anderen Objekte; die drinnen sind der Maßstab, dem sich die anderen anpassen müssen, wenn sie nicht abgesondert werden wollen; die drinnen haben die Tradition, die herrschende oder „Leitkultur“, die konventionellen Sitten, die medizinische Norm usw. auf ihrer Seite, die anderen weichen ab, lösen gar die Maßstäbe auf und bringen alles in Unordnung.

„Bayern“ ist hier natürlich nur ein Symbol für ein allgemeineres Phänomen, für jegliche Gesellschaftsvorstellung und Politik, welche die Welt aus der Innensicht einer angestammten, normgemäßen Gruppe betrachtet und alle anderen Menschen nach ihrer jeweils vermeintlich hervorstechendsten Eigenschaft als Problem behandelt. Umgekehrt könnte „Bayern“ – allerdings nicht das reale oder gar vergangene, sondern ein utopisches – für jene Gemütlichkeit und regelrechte Idylle stehen, an der man alle gerne teilhaben lässt.

Was ist Rechtspopulismus? 42 Antworten

  1. Rechtspopulismus: so lange welche aus dem Volk herausdefinieren, bis man selbst das Volk ist.
  2. Rechtspopulismus: die ethnische Zugehörigkeit als das Wesen von Menschen zu betrachten, als ihre Natur, selbst wenn es um Kultur geht (das Wesen eines bestimmten Straftäters ist dann nichts anderes, als ein muslimischer Straftäter zu sein, was im Rechtspopulismus schon fast eine Tautologie ist).
  3. Rechtspopulismus: das Denken in Kategorien kultureller Homogenität nicht nur mit Bezug auf das eigene Land. Sondern auch die Vorstellung, die einzig wahre Lesart des Korans identifiziert zu haben und daraus das Wesen des Islams insgesamt ableiten zu können, genauso aus den Verlautbarungen und Entscheidungen theokratischer und diktatorischer Regierungen die Kultur der jeweiligen Bevölkerung.
  4. Rechtspopulismus: das Denken, welches eine Sicht auf ein Ereignis, eine Anekdote als das Wesen der Sache betrachtet, als Ausdruck des großen Ganzen, ja als identisch mit diesem (ein nicht aufgestellter Weihnachtsbaum ist die Islamisierung, ein korrupter Politiker ist das verkommene Establishment), und eine lange Aufzählung von Einzelfällen als den letzten Beweis für das eigene Weltbild (eine Statistik dagegen wenn nötig als Verschwörung und Propaganda).
  5. Rechtspopulismus: die Vorstellung, dass man nicht rassistisch, sexistisch usw. ist, wenn man bekundet, es nicht zu sein, und dass alleine die eigene Intention einer Äußerung bestimmt, ob sie diskriminierend ist und sich die Angesprochenen angegriffen fühlen dürfen (man darf Schwarze N… nennen, wenn man es nicht böse meint, aber andere dürfen einen nicht Nazi nennen, wenn man versichert, keiner zu sein).
  6. Rechtspopulismus: ein Autoritarismus, der Liberalität und Pluralismus als Unterdrückung und Diktatur umdefiniert und der Gegenseite ein schlechtes Gewissen einredet, nicht tolerant genug zu sein gegenüber der rechtspopulistischen Weltanschauung und Klientel.
  7. Rechtspopulismus: die Kunst, persönlich angegriffen zu fühlen, ohne selbst zu betroffen zu sein, wenn jemand oder etwas gegen „unser“ Land, „unsere“ Kultur, die heterosexuelle Ehe und Familie usw. ist oder irgendwo anders im Land viele Ausländer wohnen – aber ohne das Leiden andernorts in der Welt und das Erleben Diskriminierter anzuerkennen. Die Kunst, eine höchst abstrakte und verdünnte Gefahr als konkret und unmittelbar darzustellen: Islamisierung, islamistischer Terror.
  8. Rechtspopulismus: sich selbst die in Jahrzehnten, ja Jahrhunderten aufgebaute Infrastruktur, die ererbten und in einer globalisierten Welt kollektiv erarbeiteten Ressourcen als Leistung zuschreiben. Anderen nicht gönnen, daran teilzuhaben, weil sie dieses Land nicht „aufgebaut“ haben.
  9. Rechtspopulismus: die Vorstellung, vor allem dem eigenen Umfeld, einer umgrenzten Gemeinschaft, Seinesgleichen gegenüber zu Solidarität verpflichtet zu sein, den Fremden und Entfernten aber nicht. Also vor allem der eigenen Familie, seinen Haustieren, Volksgenossen und Brudervölkern (was auch die seltsame Forderung erklärt, die Opfer des Kriegs in Syrien sollten zuerst im saudiarabischen Unrechtstaat unterkommen).
  10. Rechtspopulismus: die Idee, dass Weiße, Männer, Heterosexuelle inzwischen in Wirklichkeit diskriminiert werden (weil viele davon durchaus in einem System benachteiligt sind, an dessen Spitze vor allem weiße heterosexuelle Männer stehen, und weil sie merken, dass sich das ändert).
  11. Rechtspopulismus: die paradoxe Bewunderung für die Nationalisten anderer Länder, von denen einem nichts geschenkt würde, wäre die ersehnte Staatenordnung erst einmal errichtet.
  12. Rechtspopulismus: Geflüchtete, Zugewanderte, ja sogar Staatsangehörige von Menschen mit Rechten zu „Gästen“ umzudefinieren, die keine Ansprüche zu stellen haben, sondern stets ihre Dankbarkeit gegenüber den Hausherren zu erweisen haben.
  13. Rechtspopulismus: Sexismus, sexualisierte Gewalt, Homophobie, Antisemitismus stets als von außen kommend zu definieren und ansonsten die Betroffenen selbst verantwortlich zu machen, weil sie zu provokant, fordernd, gar unterdrückerisch aufgetreten seien (der diktatorische Feminismus, die „Schwulenlobby“ usw.).
  14. Rechtspopulismus: selbst wenn man aufzeigt, dass die Wahl der jeweils Ausgegrenzten völlig beliebig ist und sich historisch und kulturell völlig umkehren kann (z.B. früher die Polen, die italienischen Gastarbeiter, ja die Vertriebenen; hierzulande und in den USA gelten Menschen aus Asien als fleißige und ordentliche Muster-Zugewanderte, in Australien als unintegrierbar) – man glaubt, diesmal ganz und gar zwingende und vernünftige Gründe zu haben, warum die Muslime keinesfalls zu uns passen und gefährlich seien. Die historischen Parallelen werden verneint (die Vertriebenen waren ja Deutsche und „haben das Land aufgebaut“, die Italiener stammen ja „aus der gleichen christlichen Kultur“, nur dass das damals eben ganz anders gesehen wurde, die Grenze eben woanders lag).
  15. Rechtspopulismus: die kuriose Ungleichzeitigkeit, die Grünen zu gefährlichen Radikalen zu erklären (das ist so 80er!), während alle, die im linken und linksliberalen Milieu was auf sich halten, über diese ihrer Meinung nach weichgespülte Partei schimpfen und die Kraftlosigkeit oder den Ausverkauf der linken Bewegungen überhaupt beklagen.
  16. Rechtspopulismus: die EU als alles beherrschende Diktatur zu beschreiben (sogar die Krümmung von Gurken und Bananen wird mit eiserner Härte durchgesetzt, hört man! Und überhaupt ist sie eine einzige Verschwörung zur Zerstörung der Nationalstaaten und ihrer Völker…), während sie sonst in der allgemeinen Auffassung als zerstritten und machtlos gilt angesichts der nationalen Interesse, Sonderwege und Krisen.
  17. Rechtspopulismus: das Beharren darauf, dass es bei allem letztlich nur zwei Seiten gebe: die eigene und alle anderen, die etablierten Parteien, die gesamte Politik, die Medien usw., die alle gleich seien; und dass es nur eine Art von Kritik und Alternative gebe (dass es z.B. sonst keine wirkliche Kritik an der Zuwanderungspolitik der Regierung gebe, wobei man z.B. so manche linke und liberale unterschlägt oder einfach der anderen Seite zuschlägt).
  18. Rechtspopulismus: das Vage, Doppeldeutige und Drumherumreden in einem Stil praktizieren, der den Eindruck der schonungslosen Offenheit und Ehrlichkeit vermittelt.
  19. Rechtspopulismus: der Versuch, die Politik abzuwählen (und am besten gleich auch die Gerichte, die Medien und alles).
  20. Rechtspopulismus: die Opfer tatsächlicher (Re-)Islamisierung in anderen Staaten als Beleg für die Gefährlichkeit des Islam überhaupt zu nehmen – und sich dann selbst als größte Opfer zu stilisieren, gar noch den Opfern die Aufnahme zu verweigern – weil es Muslime sind. Die emanzipatorischen Bewegungen in diesen Ländern und ihre internationale Unterstützerschaft zu ignorieren und die schärfsten Attacken auf den Islam mitunter von Personen aus jenen Ländern vortragen zu lassen.
  21. Rechtspopulismus: das eigene Streben nach ökonomischer Deregulierung und den Kampf gegen Umverteilung und bedingungslose Sozialleistungen entweder vor Teilen der Klientel zu verschweigen oder das als Politik im Sinne der ehrlichen, hart arbeitenden kleinen Leute darzustellen, gegen die fremden Sozialschmarotzer (oder sehr selektiv den Sozialstaat ausbauen: nur zur Förderung traditionalistischer Lebensformen Einheimischer).
  22. Rechtspopulismus: eine Ideologie, die einerseits sehr reduziert ist (Wir gegen Die), so dass sie vielfach anschlussfähig ist. Man kann allerlei hinzufügen, aber auch offenhalten, viele Gruppen ansprechen (man kann „uns“ und „die“ in verschiedenen Varianten definieren, natürlich nicht beliebig, und viele einzelne Gegnerschaften und Forderungen daran anschließen, z.B. für Steuersenkungen, für höheres Kindergeld, gegen „Genderwahn“ usw.). Aber andererseits auch das Problem, wenn man sich festlegen muss oder auf viele idiosynkratische Details der eigenen Politik festgelegt hat, und nun unklar ist, wer auf der eigenen Seite steht (soll man z.B. mit Rechtsextremen, dem allzu „sozialistischen“ Front National usw. kooperieren?).
  23. Rechtspopulismus: das flexible Weltbild, in dem man es immer noch schafft, eine böswillige Elite zu identifizieren, wenn man selbst regiert oder an der Regierung beteiligt ist (z.B. die supranationalen Institutionen, die Medien, die illegitime Opposition, usw.).
  24. Rechtspopulismus: die Empörung, wenn andere auch in den Grenzen des Nationalstaats und in kulturellen Unterschieden und Hierarchien denken, es einem selbst aber nicht durchgehen lassen, wenn man das noch auf die Spitze treibt. Das Andocken an den ganze normalen Nationalismus vieler, an den Überdruss der Vergangenheitsbewältigung, an die Rechtfertigungen eigener ethnischer Privilegien, an die verbreitete gedankenlose und pauschale Verachtung der Politikerinnen und Politiker, usw.
  25. Rechtspopulismus: die Sehnsucht nach einer guten alten Zeit, die es nie gab – als alle noch frei und unbeschwert waren und ihren Platz kannten, als noch hart und ehrlich gearbeitet wurde und es allen wirtschaftlich gut ging, als noch Tradition und christliche Moral herrschten und man sagen durfte, was man dachte, als die Politiker noch echte Typen mit Durchsetzungskraft waren und immer auf die Stimme des Volkes hörten, als es noch richtige Bauern und Industrie gab und es noch überall schön und sauber war (noch nicht durch Graffiti und Windräder verschandelt), als Ehen und Familien noch hielten und Frauen noch Frauen sein wollten und durften, usw.
  26. Rechtspopulismus: eine ins verschwörungstheoretische reichende Feindschaft gegenüber den Medien pflegen – eine Verschwörungstheorie, die nicht falsifizierbar ist, da man Medienberichte und feuilletonistische Thesen, die dem eigenen Weltbild entsprechen, immer trotzdem dankbar ins eigene Weltbild integriert bzw. als Beleg dafür anführt, sondern aber alles als Lüge und Propaganda abtut.
  27. Rechtspopulismus: die Kunst, die Medien und die politischer Gegnerschaft auf zweierlei Weise vor sich her zu treiben: mittels Provokationen, auf die diese nicht nicht reagieren können, und mittels des Vorwurfs, einem nicht ausreichend Respekt und Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, so dass diese einen noch mehr beachten und weniger hart anfassen sollen.
  28. Rechtspopulismus: die von den Linken gelernte Strategie, bei günstiger Gelegenheit bestimmte Kategorien aufzubringen und möglichst so selbstverständlich werden zu lassen, dass ihnen alle folgen müssen (Kulturkampf und demografische Krise des einheimischen Volkes statt z.B. Klassenkampf, Neoliberalismus oder Kampf um Anerkennung von Lebensformen. Man muss von bestimmten Personen nur noch als Muslime, nicht z.B. als Arbeiter sprechen und denken können, oder nur wenn die Differenz zu Nichtmuslimen gewahrt bleibt).
  29. Rechtspopulismus: die Beteuerung, konservativ oder liberal zu sein, aber ohne die Macht in die Hände sachkompetenter oder vertrauenswürdiger Eliten legen zu wollen, wie es bürgerliche Vorstellung war, und oft ohne anderen Gruppen die gleichen bürgerlichen Rechte zugestehen zu wollen.
  30. Rechtspopulismus: die Gleichsetzung des durch vermeintlich gleichartige Abstammung oder Kultur definierten Volkes mit dem Volk als Quelle demokratischer Legitimation und Subjekt bürgerlicher Rechte, also von ethnos und demos.
  31. Rechtspopulismus: ein aufgemöbeltes völkisches Denken, das allzu sehr nach Rassentheorie klingende Volksbegriffe vermeidet und das sich zu Demokratie und Freiheitsrechten bekennt (freilich bedeuten Freiheit und Demokratie in letzter Zuspitzung eher, dass sich der Volkswille im Plebiszit Bahn bricht, sich gegen das Fremde und die Feinde des Volkes wendet und sich in einer starken Führungspersönlichkeit repräsentiert findet, als dass verschiedene Standpunkte und Interessen in eine ergebnisoffene Diskussion treten und in einen Konsens oder Kompromiss münden).
  32. Rechtspopulismus: der zur eigenen Weltsicht sehr gut passende Missmut über das Alltagsgeschäft der Parlamente (wenn man darin vertreten ist), nachdem man einige demonstrative Aktionen erledigt hat.
  33. Rechtspopulismus: die Freiheit des Ausdrucks zu verstehen als Repräsentation und Stärkung des Volkscharakters und Volkswillens (Medien, Kunst und Schule sollen die eigene Geschichte vor allem als Quelle von Stolz und Stärke erzählen, sollen auf diejenige einheitliche Perspektive verpflichtet werden, welche sich vermeintlich aus der Sicht des eigenen Volkes ergibt).
  34. Rechtspopulismus: die Enttäuschung mancher Kleingewerbetreibenden und Mittelständler niedergehender, aber auch anderer Branchen, welche ihre wirtschaftlichen Probleme der Politik zuschreiben und dabei auch nichts dagegen haben, wenn man sie auf Europa, die durchzufütternden Sozialschmarotzer oder die Konkurrenz auf dem Ausland schiebt.
  35. Rechtspopulismus: das Angebot an die absolut Frustrierten oder Dauer-Unzufriedenen ohne besondere politische Urteilskraft, die da oben zu ärgern, ja einen Brandsatz ins politische System zu werfen (das zu verstehen oder in dem mitzuwirken einem die Ressourcen fehlen) – eine Gruppe, der die Beschimpfungen als Nazis und dergleichen lange egal sind oder diese mit Stolz trägt.
  36. Rechtspopulismus: die Ideologie einer Zweckkoalition Altkonservativer, langjährigen Europaabgeordneter, Unternehmer, Adliger, neurechter Publizisten, Evangeliker, Erben, wissenschaftlich randständiger Professoren und (rausgeworfener) Zeitungskolumnisten, welche glaubt, diesmal den Durchbruch mit ihren jeweiligen politischen Plänen zu schaffen, indem sie den Enttäuschten jene Weltsicht anbietet und entsprechende Massenaufmärsche begrüßt (sich freilich den Stil und die Parolen jenes wahrgenommenen Pöbels nicht zu eigen machen will).
  37. Rechtspopulismus: der Wunsch nach der harten Hand in dem Glauben, selbst nicht betroffen zu sein.
  38. Rechtspopulismus: vielleicht eine von mehreren möglichen politischen Haltungen der Diktaturerfahrenen: Man weiß, dass man denen da oben und dem Fernsehen nicht trauen kann, aber auch, dass die einem das Denken und Handeln nicht vollkommen vorschreiben können (auch wenn es die zwischenzeitlich Herrschenden auch noch geschafft haben, einem einige der Vorzüge der letzten Diktatur wegzunehmen). Man kann sich den politischen Wandel nicht anders vorstellen, als dass man verzweifelt an die da oben appelliert oder sie zum Teufel schickt und sich nach jemandem sehnt, der oder die für einen steht und sich mit viel Macht für einen einsetzt (damit die Macht auch endlich einmal auf der eigenen Seite steht).
  39. Rechtspopulismus: Politik zum Konsumieren, aber als stellvertretende oder kurzzeitige Rebellion derer, denen es verwehrt ist, selbst Politik zu machen, denen die Mittel fehlen, im eigentlichen politischen Spiel mitzuspielen. Darum die Freude an denen, welche in einem Fernsehspektakel auf das Spielbrett kacken.
  40. Rechtspopulismus: das Versprechen, auch einmal auf der Seite zu stehen, die den Durchblick hat, kritisch sind, nicht die der dummen Schafe, selbst Widerstand zu sein, heldenhaft der Verfolgung zu trotzen, und sei es nur stellvertretend, durch Identifikation mit einigen Figuren, die das vorzuleben scheinen.
  41. Rechtspopulismus: eine Sammlung von polarisierenden Typen, die auf viele in anderen Lagern als unglaublich schleimig, widerlich oder falsch wirken, aber für die Anhängerschaft höchstes Charisma und höchste Faszination ausstrahlen: spaßige Originale mit einem Glas Bier in der Hand, (vermeintlich oder tatsächlich) sagenhaft reiche Machos, die sich als Entertainer zum Affen machen und Loser mit Häme überschütten; strahlende Schwiegersöhne und Töchter; diabolische bunte Hunde; Oratoren, welche das Abendland und tausend Jahre Geschichte beschwören; national gesinnte Opas im Tweedjacket usw.
  42. Rechtspopulismus: die Verachtung für die Geistes- und Sozialwissenschaften, welche aufzeigen, wie vielfältig Lesarten, Deutungen und kulturelle Praktiken sind, kritische Theorien entwickeln, danach streben, sich in anderen hineinzuversetzen, dem simplen Biologismus widersprechen, und deshalb pauschal als Ideologie und unproduktiv, je destruktiv verurteilt werden müssen.

Ergänzungen willkommen.

Der Sinn der Spiele

„In einem Land, in dem ein Olympiasieger 20.000 Euro Prämie bekommt und ein Dschungelkönig 150.000 Euro, sollte sich niemand über fehlende Medaillen wundern.“

Markus Deibler, ehemaliger Schwimmer, auf Facebook

Viele, die darunter kommentierten, wägten nun ab, wie dem deutschen Sport am ehesten zu helfen sei: durch Belohnung und Förderung von Spitzenleistungen oder durch Unterstützung des Breitensports, oder ob nicht bereits genug getan werde, usw. Nur selten drang eine andere Frage durch, welche eine Soziologie der gesellschaftlichen Felder stellen würde: nach dem Sinn des Spiels überhaupt.
Der von mir fast jederzeit gerne angerufene Soziologe Pierre Bourdieu hat ja beschrieben, wie es in der Gesellschaft verschiedene Felder gibt, in denen nach je eigenen Regeln um eigene Ressourcen gerungen wird. Er hat das mit unterschiedlichen Spielen verglichen, die ebenfalls je ihre eigenen Regeln, Gewinne und Einsätze aufweisen. Und es braucht jeweils eine Grundmotivation und Grundkompetenz, einen Sinn für das Spiel: das Spiel muss einem sinnvoll erscheinen, man muss eine Ahnung haben, worum es geht. Und das muss einem etwas wert sein; das Spiel muss wert sein, dass man es spielt. Wenn man nun aber im Spiel drin ist (teilnehmend oder gebannt zusehend), ergibt die Frage nach seinem Sinn – wenig Sinn. Er leuchtet unmittelbar ein und wird in der Regel nicht ständig in Frage gestellt. Von außen betrachtet kann man allerdings fragen: Was tun die da und warum tun die das? Soziologie kann dann darin bestehen, sich einmal verwundert die Augen zu reiben, sich gar einmal dumm zu stellen, um dann zu verstehen, was die Beteiligten schon wissen, aber doch nicht richtig: Denn sie „wissen“ bereits, dass das alles Sinn ergibt, aber selten können sie es auf den Punkt bringen. Das ist auch gar nicht nötig, denn es läuft ja – es sei denn, etwas läuft nicht zufriedenstellend, wie im vorliegenden Fall, aber selbst dann ist die Frage oft eher, wie man das wieder hinbekommt, und nicht so sehr, welchen Sinn das Ganze hat. Interessant ist natürlich, in welchen Momenten die Spielenden den Sinn des Spiels in Frage stellen (Ist es das alles wert für eine wissenschaftliche Karriere? Muss ich diese Mittel einnehmen, um in dieser Sportart erfolgreich zu sein? Sind alle Mittel recht oder muss ich mich all diesen Anfeindungen aussetzen, um in der Politik etwas zu bewegen?).
Nun zurück zu den Prämien für Medaillen. Das eine ist die Frage, ob man vom Sport leben kann, die andere, ob man durch höhere Prämien mehr motiviert würde (funktioniert so der Sport?). Die noch grundlegendere Frage ist aber: ob man davon leben können sollte, ob es legitim ist, dass der Staat diese Aktivität unterstützt. Was sind eigentlich die Kriterien, aufgrund derer wir Bratschistinnen im Opernorchester, Speerwerfern, Redakteurinnen beim Bayerischen Rundfunk, Kassierern beim Museum, Religionslehrerinnen usw. staatlicherseits das Auskommen garantieren? Und warum scheint es uns unmittelbar einzuleuchten, dass der Sieg im Dschungelcamp bzw. die erfolgreiche Bespaßung des Publikums im Ringen mit dem Ekel vor Kakerlaken keine vergleichbare Leistung darstellt? Oder ohne Wertung und historisch gefragt: Wie haben es bestimmte Felder geschafft, dass ihre Tätigkeit als so bedeutend angesehen wurde, dass es legitim erscheint, dass die Allgemeinheit sie über den Staat finanziert? (Man kann umgekehrt natürlich auch fragen, welchen Wert der olympische Geist streng nach Coubertin haben muss, woher die ebenfalls häufige Ablehnung des einkommensträchtigen Profisports kommt.)
Welche Gründe könnte man im Falle des Spitzensports aufbieten? Vielleicht, dass er indirekt auch zum Breitensport motiviert, etwa aus Gründen der Volksgesundheit. Das scheint aber vielleicht etwas zu indirekt, ebenso wie die Assoziation von Fitness mit Sicherheitskräften nicht unbedingt ausreichen kann, um die Anstellung beim Militär, bei Polizei, Grenzschutz usw. zu rechtfertigen. Ich habe aber einmal bewusst dieses Wort gewählt: Volksgesundheit, denn eine andere Begründung, die oft mitschwingt, ist eine auf die Nation, das Volk bezogene. Die Sportlerinnen und Sportler repräsentieren letztlich eine Nation, ein Volk, und der Staat muss dafür sorgen, dass das Land sich nicht blamiert. Der Sport erweist die Tüchtigkeit des Volkskörpers, den Zustand des Staatswesens und der Nation. Eigentlich würde man das eher autoritären Ländern zuschreiben, für die der Sport ein propagandistisches Mittel ist und keine Frage des individuellen Enthusiasmus, und denen oft fast jedes Mittel recht ist, um die Überlegenheit des eigenen Systems, des Landes und des Regimes zu beweisen. Aber offenbar scheint es manchen unmittelbar einleuchtend, dass Deutschland im Wettbewerb der Nationen (nicht mal so sehr im Wettbewerb der Systeme, wie in Zeiten des Kalten Krieges) sportlich mithalten muss.
Auch hier stellt sich die Frage: Warum sollte man eigentlich für eine Nation starten, warum sind die Wettbewerbe oder ist die Berichterstattung darüber wesentlich nach Ländern organisiert? Warum gilt uns der völlig ungleiche Wettbewerb zwischen Staaten mit völlig verschiedener Einwohnerzahl, Wirtschaftskraft und sportlicher Tradition als irgendwie sinnvoll? Wieso sehen wir die Position im Medaillenspiegel als Problem des Staats und Gemeinwesens insgesamt? Warum schreibt sich das für viele so leicht, dass „wir“ uns nicht wundern müssen, gegenüber Ländern wie … zurückzubleiben, keine Medaillen in … mehr zu gewinnen, wenn wir so wenig ausgeben, fördern usw.? Das wäre eine zentrale und kritische Frage einer Soziologie des sportlichen Feldes – und einer Soziologie des Staates. Denn dieser, so hat Bourdieu es beschrieben, kann sich in die Einsätze und Gewinnen verschiedener Felder einmischen, deren Wert mitbestimmen, und man kann mit Umweg über den Staat den Wert des eigenen Tuns zu steigern versuchen. Man muss sich das nicht unbedingt als opportunistisches Gewinnstreben vorstellen, sondern als authentischen Ausdruck der ganz fraglosen Haltung, dass die eigene Tätigkeit etwas wert sei, dass das Spiel einen Wert hat, welcher der Allgemeinheit einleuchten müsse. Im Falle des Sports treffen aber verschiedene Sinnzuweisungen aufeinander: nationale Größe, Unterhaltungswert, individuelle Aufopferung sowie der Diskurs über die Legitimität staatlicher Aktivitäten und den Nationalismus.

Der Geltungsbereich des Grundgesetzes. Verwirrte Reichsbürger und übereifrige Bundesbürger – Teil 2

Wir haben im ersten Teil gesehen, dass die ReichsbürgerInnen übertrieben rechtsgläubig sind, aber die Verfassung nicht anerkennen. Wenden wir uns nun dem umgekehrten Fall zu, wo das Grundgesetz sozusagen eine übermäßige und ihm damit fremde, widersprechende Geltung erlangt. Es geht um die Forderung, Zugewanderte sollten sich „zum Grundgesetz bekennen“, etwa per Unterschrift. Man könnte nun sagen, das sei keine große Sache, denn die im Grundgesetz niedergelegten Menschenrechte sollten allgemeines Kopfnicken auslösen. Man kann sich aber fragen, wie denn das Grundgesetz gilt und ob man ihm mittels dieses Rituals nicht „zu viel Geltung“ zuschreibt. Das mag unproblematisch erscheinen, wenn man das GG schätzt, offenbart jedoch auch Bedenkliches.

Denn das GG ist zunächst einmal eine Verfassung. Als solche schreibt es fest, wie die wesentlichen Institutionen des Staates funktionieren, wie Gesetze rechtmäßig zustande kommen können (nämlich auf der Grundlage demokratischer Verfahren) und wie der Staat nicht in die Belange der Bevölkerung eingreifen darf (nämlich nicht unter Verletzung ihrer grundlegende Rechte). Die Verfassung legt also vor allem Rechte gegenüber dem Staat fest: demokratische Mitwirkung und Abwehr von Grundrechtseingriffen.

Die Verfassung an sich verpflichtet die Bevölkerung zu wenig. Die Beseitigung der verfassungsmäßigung Ordnung darf man nicht anstreben, aber sonst darf man ziemlich viel. Man kann sogar diskutieren, ob man sich zur Einhaltung der Gesetze verpflichtet. Eigentlich gibt man mit der Zustimmung zu einer Verfassung nur zu erkennen, dass man bestimmte Gesetzgebungsverfahren für sinnvoll hält und die Durchsetzung der so entstandenen Gesetze in den Grenzen der Grundrechte im Prinzip akzeptiert – eine wirkliche Selbstverpflichtung seitens der StaatsbürgerInnen findet nicht explizit statt.

Man kann nun natürlich einwenden, mit der Verpflichtung „auf die Verfassung“ sei nicht so recht die Verpflichtung auf irgendwelche Prozeduren des Staates Bundesrepublik Deutschland gemeint oder die Bewunderung eines Staats, der Grundrechte schützt, sondern die Verpflichtung auf irgendwelche Werte, die eigentlich im Grundgesetz drinstecken: Toleranz gegenüber allen Religionen, Gleichberechtigung der Geschlechter, Verbot der Diskriminierung aufgrund der Geschlechteridentität und sexuellen Orientierung, usw. (übrigens vor allem diejenigen Aspekte, die erst unter Zögern, zum Teil auch erst in nachträglichen Änderungen ins Grundgesetz geschrieben wurden, unter allerlei Hadern und Widerstand).

Selbst wenn man solche Werte oder Normen für universell hält und Konsens darüber wünschenswert wäre, so handelt es sich zugleich um den Versuch, in Bereiche hineinzuregieren, welche die Verfassung gerade schützen soll. Der Staat verfolgt zwar diejenigen, welche die verfassungsmäßigen Ordnung abschaffen wollen, oder diejenige „Intoleranz“, die strafrechtlich relevant ist. Aber nicht jede Intoleranz, jeder Sexismus, jede Homophobie wird staatlicherseits verfolgt und die Bevölkerung zu diesem Zweck ausgeforscht – denn das verbietet gerade jene Verfassung. Man weiß ja, dass sich im „Privaten“ allerlei Menschenfeindliches verbirgt und der Staat (wie auch die Zivilgesellschaft) hat es zunehmend als Problem gesehen und eingegriffen. Aber eben in den Grenzen der freiheitlichen Ordnung, im Rahmen der Trennung von Verfassung, Gesetz und persönlicher Lebensführung.

Nun wird mit jener Unterschrift gar nichts vorgeschrieben und ausgeforscht. Aber es wird vielleicht die Idee vermittelt, man würde es im Prinzip gerne und es schwebe einem eine einheitskulturell integrierte Nationalgesellschaft vor. Ich glaube, das ist die Grundidee hinter diesem Wunsch, dass Zuwandernde die Verfassung unterschreiben: Eine immer noch sehr hartnäckige Vorstellung lautet nämlich, eine Gesellschaft werde durch gemeinsame Werte zusammengehalten. Wer kommt, müsse diese anerkennen. Darin stecken einige Annahmen, die bei näherer Betrachtung sehr problematisch sind.

Erstens, dass eine Gesellschaft ein Nationalstaat sei. Die Gesellschaft hört aber nicht an der Grenze auf, denn sonst wäre es nicht Teil der Gesellschaft, wenn ich mit jemandem im Ausland telefoniere oder Waren aus China kaufe. Nun, man könnte natürlich sagen, man telefoniere von einer Gesellschaft in eine andere (ist das Gespräch dann etwas „Gesellschaftliches“?). Das scheint eine rein sprachliche Haarspalterei zu sein, ob man von einer Weltgesellschaft oder mehreren Gesellschaften spricht. Aber dieser Eindruck der Beliebigkeit ist schon Ausdruck, dass wir bestimmte Dinge nicht hinterfragen. Staaten sind nur ein soziales Faktum unter vielen und es besteht kein Anlass, alles soziale Geschehen danach einzuteilen, ob es innerhalb eines Staates geschieht oder über seine Grenzen hinweg. Und das ist eben nicht nur eine Frage der Beschreibung, sondern damit geht ja meist einher, dass man dann unterschiedlich über Sachverhalte urteilt, je nachdem, ob sie Grenzen überschreiten oder nicht. Wenn z.B. die eine, einzige Gesellschaft über Werte integriert ist oder sein soll, dann können wir nicht einfach darauf beharren, dass bei uns halt diese und jene Werte gelten und im Rest der Welt andere oder dass das egal ist, weil uns das nicht betrifft, so lange die Menschen mit diesen Werten nicht zu uns kommen. Wir geraten nämlich bewusst oder unbewusst immer in Wertkonflikte mit den Menschen in anderen Ländern, z.B. darüber, wem welche Ressourcen zustehen. Damit kann es nicht ausreichen, Zuwanderende auf „unsere“ Werte zu verpflichten (bzw. sie zur Anpassung zu nötigen oder einfach nicht reinzulassen), sondern wir müssen uns den Wertentscheidungen stellen, die insgesamt in der Weltgesellschaft anstehen.

Zweitens ist es aber ganz entscheidend, was man unter Werten versteht und wie sie genau die Gesellschaft zusammenhalten sollen. Werte können einerseits sehr genaue Vorstellungen darüber enthalten, was zu verwirklichen ist, wonach man im Leben und Handeln zu streben hat. Sie können aber auch sehr abstrakt sein und das Zusammenleben so regeln, dass es nicht zu Konflikten kommt oder Konflikte zwischen Lebens- und Handlungsweisen geschlichtet werden können (ohne dass sie im Einzelnen vorschreiben, wie gelebt oder gehandelt werden soll). Sie können auch, was vielleicht in der Mitte liegt, schützenswerte Güter darstellen, die anderen nicht genommen oder verwehrt werden dürfen, die man sich aber nicht notwendig selbst zu eigen machen muss (etwa die Gründung einer Familie, die nicht verboten oder hintertrieben werden darf, aber wozu man nicht verpflichtet ist). Ein- und derselbe Wert kann, verschieden verstanden, auf sehr unterschiedliche Weise eine Gesellschaft prägen bzw. man kann Personen auf sehr unterschiedliche Weise darauf verpflichten.

Manche Werte sind eher Vorstellungen des guten Lebens, die für einen selbst leitend sind, aber darum noch nicht anderen vorgeschrieben werden können. Andere können vielleicht darauf verpflichtet werden, sie zu respektieren, aber nicht sie zu übernehmen. So ist es z.B. ein entscheidender Unterschied, wie man das Religiöse als Wert begreift: Als Freiheit, eine oder keine Religion zu haben, und als Pflicht, diejenige der anderen zu respektieren, weil sie ein bedeutender Teil ihres Lebenssinns ist – oder ob es darum geht, die Vorherrschaft einer historisch dominanten Religion zu sichern (selbst wenn man formuliert, es gelte nur eine durch diese Religion geprägte Kultur zu bewahren, ohne dass man dazu notwendig religiös sein müsse oder der Staat religiös geprägt – nimmt man diesen Wert Ernst, müssten sich im Zweifelsfall konkurrierende kulturelle Praktiken dieser Bewahrung unterordnen. Womöglich müsste gar eine Tradition bewahrt werden, die für die Leben vieler gar nicht mehr sinnstiftend ist, nur weil sie eben die Tradition ist). Will man aber dann letztlich einen säkularen Staat, der keine Lebensweise bevorzugt, wird unserer vielbeschworenen „Kultur“ letztlich ein dünnes Gerüst sehr formaler Regeln des Zusammenlebens, das heute nicht mehr sonderlich spezifisch für irgendeine Weltregion, irgendein Land, eine Ethnie usw. ist. Es ist nicht mehr spezifisch für „uns“ im Gegensatz zu irgendwelchen von woanders. Die anderen, die Vertreter anderer „Kultur“ oder die Gegner der unsrigen, sind unter uns, waren schon immer unter uns, und wir sind überall.

Das GG bzw. die gelebte politische und Rechtspraxis haben die Trennung zwischen Werten des guten Lebens und Normen des Zusammenlebens nicht perfekt vollzogen, aber im Wesentlichen ist es eine Verfassung für eine pluralistische Gesellschaft. Sie schützt nicht einzelne Lebensweisen oder erklärt sie zu einem Wert, der verwirklicht werden soll, sondern ein wesentlicher Wert, oder besser eine Norm ist der Schutz der verschiedenen Lebensweisen, so lange sie sich nicht gegenseitig die Berechtigung streitig machen und andere geschädigt werden – und zwar zunächst mal der Schutz gegenüber dem Staat und nur mittelbar über das Strafrecht gegenüber anderen.

Diese Normen der Verfassung sind abstrakter als man vielleicht denken würde. Selbst so etwas Grundlegendes wie Demokratie bedeutet nicht unbedingt für alle das Gleiche. Verwirklicht wurde eine Mischung, die vieles erlaubt. Man kann nach Parteiprogramme wählen oder charismatischen Führungspersönlichkeiten, kann Regierungen ausprobieren und sie dann wieder abstrafen oder abstrakten Utopien folgen, kann taktisch, aus Protest oder nach Gesinnung wählen. „Demokratie“ ist also eine dehnbare Sache und wohl nicht ohne Absicht so verwirklicht worden.

Inwieweit alle wirklich die Abstraktheit dieser Normen verinnerlicht haben, ist eine andere Frage. Man würde eher sagen: Viele haben ihr eigenes, spezielleres Verständnis davon, aber können sich mit den bestehenden Regelungen abfinden. Ein immer noch ganz substanzieller Anteil der Bevölkerung nimmt an Wahlen teil, aber wohl aus höchst unterschiedlichen Motiven (was erst mal nichts Schlechtes sein muss). Aber vielleicht hätten manche noch lieber eine andere Demokratie. Viele habe so ihre Vorstellungen von den Grundrechten und glauben, dass das ganz ordentlich umgesetzt ist, aber nicht alle finden alle Grundrechte gut, sondern manche hätten gerne die Todesstrafe, ein Minarettverbot und sofort eine Volksabstimmung darüber, oder ein Verbot dieses ganzen Genderquatschs, weil ja längst Gleichbereichtigung der Geschlechter herrsche, ja der weiße deutsche Mann heute sehr übel unterdrückt werde. Diese Wünsche werden aber nicht unbedingt umgesetzt – man regt sich dann auf oder lässt es bleiben. Das liberale Prinzip der Nichtschädigung (die Lebensweise ist freigestellt, solange andere keinen gravierenden Nachteil davon haben) hält auch manchmal nicht lange: Viele wollen dann doch in das Leben anderer hineinreden und -regieren oder werden sogar gewalttätig.

Was die Gesellschaft aber dann wohl doch noch auf positive Weise zusammenhält, ist das zumeist zivilisierte Austragen von Gegensätzen. Am ehesten wird die Gesellschaft vielleicht geordnet durch Normen der Zivilisiertheit oder des Taktes, oder weniger vornehm ausgedrückt: Man ignoriert sich und lässt sich in Ruhe, geht sich gegenseitig nicht mehr auf den Geist als nötig ist (so dass man gar nicht so sehr zusammenhält als sich raushält).

Dazu kommt noch, dass man aufeinander angewiesen ist und sich dabei – aus Eigeninteresse oder weil es müßig ist – nicht immer dafür interessieren kann, welche Werte die anderen vertreten. Man braucht keine gemeinsamen Werte (zumindest nicht die aus den Sonntagsreden), damit man in der Bäckerei Brötchen bekommt, sondern nur bestimmte Interessen, eingelebte Gewohnheiten und konventionelle Alltagsnormen. Man muss nicht alles aushandeln und sich nicht komplett offenbaren. „This is why spies, thieves, liars, revolutionaries, and impostors are able to order pizza.“ Das ist zwar sehr prosaisch, aber wohl das, was die moderne Gesellschaft weitgehend ordnet. Die Werte, von denen so viel die Rede ist, werden nur in großen Debatten hervorgeholt oder vielleicht eher noch benutzt, um bei ohnehin Einverstandenen zufriedenes oder begeistertes Kopfnicken und Klatschen auszulösen, oder sie manchmal für eine gewisse Veränderung zu mobilisieren.

Umgekehrt bedeutet Integration mehr als Verinnerlichung irgendwelcher „Werte“, um dann mit guter Gesinnung, aber tatenlos und isoliert zu Hause zu sitzen, sondern dass alle an den so vielgestaltigen alltäglichen und nützlichen Beziehungen und Tätigkeiten teilhaben können, die unsere Gesellschaft prägen (Arbeit und Geld für Brötchen haben, Freunde finden, usw.). Und man ist selbst dann zu Hilfe gegenüber anderen verpflichtet, wenn diese nicht die eigenen Werte oder Normen teilen, denn das Recht auf Rettung in der Not oder ein menschenwürdiges Leben ist nicht abhängig von Wohlverhalten und rechter Gesinnung.

In manchen Bereichen sind also Konsens oder kulturelle Gleichsinnigkeit faktisch zu einem gewissen Grad vorhanden, in anderen auf sehr abstrakter Ebene wünschenswert und vielleicht zu wenig vorhanden, in anderen ist die Gleichsinnigkeit womöglich sogar zu stark ausgeprägt, wo mehr Liberalität angebracht wäre. Man kann jedenfalls nicht einfach davon ausgehen, dass eine Nationalgesellschaft faktisch wertmäßig integriert sei oder dies in jeder Hinsicht sein müsse – der Traum von der sittlich-moralischen Gemeinsamkeit kann schnell in einen Alptraum der kulturellen Homogenität, einer provinziellen, stagnierenden, einengenden und ausgrenzenden Nationalgemeinschaft übergehen. In einer solchen beäugt man ständig die Lebensweise anderer kritisch, will sie regeln und angleichen und betrachtet das Fremde argwöhnisch.

Mit dem Verweis aufs Grundgesetz macht man es sich dann eben leicht: Man muss sich nicht so genau auf die Werte festlegen. Denn was eint denn die Deutschen wirklich bzw. was passiert, wenn man die abstrakten „Werte“ aus der Verfassung rausholt und zur Grundlage des Zusammenlebens erklärt? Darin steht z.B., dass der Staat Ehe und Familie schütze. Heißt das, dass die gemischtgeschlechtliche Ehe (so wurde „Ehe“ zumindest im Grundgesetz bisher verstanden) ein Wert ist? Was ist da genau der Wert und was bedeutet er für die Bevölkerung? Selbst wenn das eine üppige Förderung und eine Bevorzugung gegenüber anderen Lebensformen durch den Staat begründen würde, wie sollen sich Privatpersonen verhalten? Muss ich diesen „Wert“ gar in meiner inviduellen Lebensführung verwirklichen? Oder handelt es sich nicht doch nur um ein Abwehrrecht gegenüber dem Staat – etwa dass Geschehnisse im engsten Kreis nicht ausgeforscht oder Familienmitglieder nicht in Strafverfahren gegeneinander ausgespielt werden dürfen?

Oder eben Demokratie. Was heißt das für uns alle? Mehr Demokratie wagen – die Demokratisierung aller Gesellschaftsbereiche? Mitbestimmung im Unternehmen, in der Religionsgemeinschaft, in der Universität…? So wünschenswert das manche fänden – das Grundgesetz gibt das nicht so einfach her. Betrifft die Bevölkerung nicht letztlich nur das Verbot, die verfassungsmäßige Ordnung zu beseitigen, und dass sie ein Wahlrecht hat, wie auch immer sie es nutzt? Muss man das per Unterschrift bestätigen, oder kann man sich das nicht denken (und, trivialerweise, wird das diejenigen abhalten, welche diese Ordnung beseitigen wollen)?

Nebenbei, was aber hier nicht das Hauptthema ist, miss man natürlich mit zweierlei Maß: Bei Deutschen drängt man auch nicht auf die private Verwirklichung bestimmter Werte, wenn man sie denn benennen kann. Man verpflichtet sie auch nicht eigens in einem Akt darauf. Man kann für Wert und Gesetzestreue werben, auch staatlicherseits. Man muss auch keinesfalls Sexismus, religiöse Intoleranz usw. als schützenswerte „Kultur“ ansehen. Verfassungsfeindliche Bestrebungen sind schlicht verboten, und zwar allen. Aber man muss sich vor Augen führen, wie die einheimische Mehrheitsgesellschaft wirklich integriert ist und ob man daran ernsthaft etwas ändern und will. Und Gesetzesverstöße werden im Nachhinein individuell in Prozessen behandelt. Prävention wiederum kann man nicht durch Rituale ersetzen.

Und auch der Blick auf die Zuwandernden unterstellt ihnen eine Art Einheitskultur. Oder man hält Sexismus, Homophobie usw. zumindest für ausreichend wahrscheinlich, dass man eine ganze Gruppe unter der Verdacht stellt – so als verstoße das nicht gerade gegen die Ordnung, die es zu verteidigen gelte.

Die Frage ist dann, ob man nichts Wichtigeres zu tun hat, als Geflüchteten nach allen Strapazen ein Dokument zur Unterschrift vorzulegen, das eigentlich eine Regelung zum Staatsaufbau ist, aber irgendwie „unsere“ gemeinsamen Werte enthalten soll, während Alltagssexismus, -rassismus und Islamophobie unter den Einheimischen wie unter manchen Zuwandernden prächtig gedeihen, Unterschrift hin oder her (und von einem freiheitlichen Staat zu einem gewissem Maße toleriert werden müssen, auch wenn Staat und Zivilgesellschaft sehr deutlich „kulturell“ gegenarbeiten müssen). Wenn man die Verfassung sehr liebt, kann man das für ein schönes Willkommensritual halten, mit der man in die Gemeinschaft der verfassungspatriotischen Menschen aufgenommen wird, man kann es aber auch zynische Symbolpolitik nennen, die auf einem Generalverdacht beruht.

Diese Art der Verfassungsdeutung verwechselt also Staatsordnung und Gesellschaftsintegration, während die im ersten Teil diskutierte Form gesellschaftliche Legitimität mit staatlich vermittelter Legalität verwechselte. Beide sind vielleicht ein Zeichen eines konventionellen Glaubens an das Recht (selbst noch bei denen, die das System verabscheuen), und an staatliche Ordnung (selbst wenn man eine andere herbeiphantasiert), oder zumindest dass sie gut das Wesentliche an der Nation ausdrückt. Beides speist sich vielleicht aus der Sehnsucht nach mehr Glanz und Pomp, Folklore und Nationalgemeinschaft angesichts der aus gutem Grund eher prosaischen, pedantischen, aber zumeist unaufdringlichen, liberalen Rechtskultur (über deren Paradoxien, blinde Flecken und Ungerechtigkeiten wie dann ein andermal reden können).

Körbe und Gründe

Wissen wir immer die Gründe unserer Urteile? Keineswegs – wir kennen ja alle die Rede vom Bauchgefühl. Gerade über die Vorstellungen darüber, was welchem Geschlecht zusteht, für es typisch ist und wie die Geschlechter zueinander stehen, legen wir nicht immer Rechenschaft ab (und täten wir es, kämen wir womöglich zu ganz anderen Ergebnissen, oder dazu, dass das ganze Spiel Unsinn ist). Es erscheint uns, oder vielen oder meistens, als natürlich. Damit meine ich nicht einmal: biologisch begründet. Die ganzen biologischen Begründungen sind nachgeschoben. Die Geschlechterverhältnisse nehmen wir oft (selbst wenn wir das Gegenteil anstreben) als natürlich wahr. In dem Sinne, dass es eben so ist, selbstverständlich; es uns gar nicht in den Sinn kommt, dass es anders sein könnte, Punkt (es ist ein praktischer, kein theoretischer, reflektierte Sinn, den alles dann für uns ergibt, also einer, der sich in Alltagshandeln und alltäglichen Urteilen ausdrückt, nicht im Grübeln und in überlegten Äußerungen). Keine weiteren Begründungen, denn das würde ja schon bedeuten, dass es Gründe bräuchte, dass man sich und andere davon überzeugen müsste oder es zumindest etwas Rätselhaftes hätte, dass man nachforschen müsste.

Rätselhaft sind dann aber die Gründe unserer Urteile – nicht die bewussten, nennbaren Gründe, also etwa die Argumente, das sei von Natur aus so, weil…, oder das sei eine Frage der Erziehung, gehe auf den Einfluss von Germany’s Next Topmodel zurück, usw. Sondern die Grundlagen dessen, dass wir etwas für selbstverständlich halten. Ich gebe einige Beispiele und lade ein, gemeinsam nachzuforschen, welche diese Gründe sein könnten. Die Methode wird die der schrittweisen Variation sein. Wir ändern bestimmte Merkmale und schauen, ob sich unser intuitives Urteil ändert.

Was ganz Banales. Ist euch schon mal aufgefallen, dass fast ausschließlich Frauen Körbe an ihren Fahrrädern haben? Ich hab’s mal auf dem Heimweg (per Fahrrad, ohne Korb, aber ich besitze einen) beobachtet. Praktisch alle Radfahrenden mit Korb waren Frauen, praktisch kein Mann fuhr ein Rad mit Korb. Bei den abgestellten Damenrädern hatte die Mehrheit einen Korb, von den Herrenrädern nur wenige (die Zuordnung zu Personen ist nicht ganz eindeutig, aber man davon ausgehen, dass zumindest Damenräder überwiegend von Frauen genutzt werden und sehr viele Herrenräder von Männern). Körbe sind ja praktisch, aber Männlichkeit und Weiblichkeit ist meist keine Frage des Funktionalen. Wir können ja den praktischen Sinn des Fahrradkorbs ausloten und sehen, ob wir ihn darauf reduzieren können.

Wir können uns mal Folgendes fragen: Wären die Frauen unter euch ratlos, wohin mit ihrer Handtasche, hätten sie keinen Fahrradkorb? Was, wenn sie keine Handtasche hätten? Erscheint es euch allen sinnvoller, einen Korb fest zu montieren (was Vorteile hat, aber mit dem Nachteil, dass man gewisse sperrige Gegenstände nicht transportieren kann – das müsste ja beide Geschlechter betreffen!) oder ihn immer abzunehmen? Wie urteilen Männer und Frauen ästhetisch über Räder mit Körben (sind Körbe sportlich, spießig, heimelig…)?

Aus alledem können wir dann erschließen, ob der Korb eine Fortsetzung der Handtasche ist (und uns fragen, was an der Handtasche in unserer Kultur „weiblich“ ist), ob Frauen eher mit kleinteiligeren Transporten verbunden werden, welche ästhetischen Maßstäbe mit Rädern von Männern und Frauen und mit Männlichkeit und Weiblichkeit überhaupt assoziiert sind.

Ganz anderes Thema. Eine jüngere, attraktive, aber nicht übermäßig reiche Frau, die eine Beziehung mit einem älteren, wohlhabenden Mann unterhält. Ich darf einmal unterstellen, dass vielen das irgendwie – ja wie eigentlich vorkommt? Es ist nichts Neues, aber irgendwie nimmt man es doch nicht als normal und gut hin. Was genau stört einen daran, wenn es einen denn stört? Wir können versuchen, das herauszufinden, indem wir verschiedene Elemente variieren und überlegen, ob die Bedenken der Bedenkentragenden dann wegfallen würden. Was, wenn sie immer ihre Rechnungen selbst bezahlt? Wenn sie keinen Sex hätten? Er der verwitwete Vater ihres verstorbenen gleichaltrigen Mannes wäre? Sie seine Chefin wäre (wenn auch eine weniger gut bezahlte, vielleicht irgendwas Öffentliches oder Gemeinnütziges, und sein Vermögen wäre geerbt, usw.)? Sie sich in eine Chat sehr intim kennengelernt haben, wobei Alter und Vermögensverhältnisse keine Rolle spielten?

Keine Antworten? Nein, ihr müsst diesmal mitforschen. Ich habe ja schon die Fahrräder beobachtet und mir die Fragen ausgedacht, jetzt könnt ihr auch mal was tun.

Herrchen und Hundeleben

Als hobbymäßiger Tierethiker wundere ich mich öfter, dass Rechtspopulistische (und Rechtsextreme) so entschieden für Tierschutz einzutreten scheinen. Natürlich kann man Tiere mögen oder sich mehr Rechte für sie wünschen, und das steht nicht unbedingt mit anderen Einstellungen in Verbindung. Mir scheint es jedoch einen überzufälligen Zusammenhang zu geben, dass gerade jene, welche sich abweisend bis aggressiv gegen Geflüchtete äußern, gleichzeitig oft ihre Abscheu über Tierquälerei und oft auch ihren Wunsch nach harten Strafen dafür kundtun. Umgekehrt gilt der Zusammenhang natürlich nicht unbedingt: Wer sich für Tierschutz, Tierrechte usw. einsetzt, ist oft auch liberal oder links eingestellt.

Mir geht es natürlich nicht darum, Menschen gegen Tiere auszuspielen, also nahezulegen, man solle sich doch um die Geflüchteten kümmern statt um die Tiere. Aber zugespitzt fällt doch auf, dass Kriegsopfer und Armutsflüchtlinge nach der Auffassung vieler Ausländerfeindlicher doch bleiben sollen, wo sie sind (bzw. die erbärmlichste Unterbringung erdulden müssen zum Beweis, dass sie keine Wirtschaftsflüchtlinge sind), dass aber Tierheime in den gleichen Ländern als unzumutbar gelten. Oder man ist empört über die Diskriminierung einiger Hunderassen als gefährliche Kampfhunde… Oder man freut sich, wenn eine Hund und eine Katze kuscheln… Usw. Es geht darum, hinter diesem etwas polemisch übersteigerten Widerspruch den inneren Zusammenhang zwischen rechtem Tierschutz und der Ablehnung von Geflüchteten zu verstehen.

Ich würde mit meiner Erklärung bei einer streng partikulären persönlichen Moral ansetzen – der Grundhaltung, dass man Menschen Wohlwollen und Fürsorge abgestuft danach schuldet, wie nahe sie einem stehen. Moral ist dann nicht universell, Rechte und Pflichten kommen Menschen dann nicht allgemein und unbedingt zu, selbst in den anonymsten Beziehungen, unter völlig Fremden. Sondern die Moral bleibt unverallgemeinert, stellt vor allem auf den Schutz von, und die Aufopferung für diejenigen ab, zu denen eine persönliche, eine partikuläre Beziehung besteht, oder zumindest eine, die analog dazu gedacht wird. Im Gegenteil, Fremde werden als bedrohlich empfunden und ihre Ansprüche gehen gegen null, ja es scheint, als müssten ihnen noch Privilegien genommen werden, sie noch irgendwelche Zumutungen einstellen.

Wie passt das nun zu denjenigen Haltungen, die damit erklärt werden sollen: der Ablehnung von Geflüchteten und der Empörung über die Misshandlung von Tieren? Fürsorge, die Pflicht zum Beistand, wird nach dieser Haltung denjenigen geschuldet, die einem emotional nahestehen, wichtiger aber noch: denjenigen, die natürlicherweise dem Schutz der eigenen Person unterstellt zu sein scheinen. Wie es auf der Seite eines rechten Tierschützers hieß: „Kinder und Tiere sind Schutzbefohlene“ (abgebildet sind kleine Kinder, Hunde und eine Katze; nebenbei arbeitete man sich insbesondere an sexualisierten Vergehen ab: „Gegen Pädophilie und Zoophilie“ – ich kann diesen Aspekt aus Gründen des Umfangs hier nicht weiter erläutern. Die Formulierung von den Schutzbefohlenen kehrt bei anderen wieder, ich beziehe mich hier aber nicht unbedingt so sehr auf den organisierten rechtsradikalen Tierschutz, sondern auf eine Denkweise, die sich z.B. in den Facebook-Posts kleinbürgerlich-rechtspopulistischer Herrchen, Frauchen und Zuwanderungsgegner äußert). Auf der einen Seite scheint es für Personen, die so denken, eine natürliche Bindung zwischen Eltern und Kind sowie zwischen Mensch und Haustier zu geben. Ungeachtet aller historischer Wandlungen des Verhältnisses von Eltern und Kindern und zwischen Mensch und Tier stellt man sich vor, dass es eine selbstverständliche Beziehung zwischen ihnen gibt und dass daraus die einzigen wirklichen Verpflichtungen beruhen.

Interessanterweise sind Kinder und Haustiere auch diejenigen, deren Ansprüche man nicht nur akzeptiert, sondern deren Ansprüche einem auch kontrollierbar erscheinen (prototypisch der gehorsame Hund), die einem also nicht ohne Weiteres bedrohlich vorkommen können (zumindest der eigene Hund ist immer ungefährlich) – anders als etwa die Forderungen (bzw. Rechte) vollkommen Fremder, deren Maß und Ziel man nicht einschätzen kann und begreifen will. Man kann seine Kinder und Hunde (in subjektiv wohlwollender Weise) disziplinieren, im Gegensatz zu all den anderen draußen. Über sie hat man mangels entsprechender Position und politischer Ermächtigung keine Gewalt. Vielleicht spielt also dieses Verhältnis von scheinbar natürlicher Verbindung, Abhängigkeit und Kontrolle eine wichtige Rolle in der rechtspopulistischen Moralität, die sich schützen will vor überbordenden Ansprüchen Fremder, der (vermeintlichen) Zerstörung der traditionellen Lebensform und einer Infragestellung der eigenen labilen Position in der Gesellschaft.

Es geht bei der Moral demnach darum, wer zur Familie gehört. Man soll Facebook nicht mit der Realität überhaupt verwechseln und nicht für repräsentativ halten, aber meiner unsystematischen Beobachtung nach findet man bei den rechtspopulistischen Postenden viel mehr Haustiere und insbesondere Hunde als Nutztiere (der eigentlich rechtsextreme Tierschutz kritisiert zwar auch die Nutztierhaltung und wirbt teilweise sogar für vegane Lebensweise, aber andere Gruppen richten sich gegen angebliche oder tatsächliche Misshandlung von Haustieren). Das würde doch sehr die vorstehende Deutungen unterstützen.

Jedenfalls lässt sich das Prinzip der partikulären Moral, der Fürsorge für Seinesgleichen, auf weitere Kreise ausdehnen, die fallweise auch noch sozusagen zur Familie gehören (außer insoweit sie auch schon wieder anfangen, lästige Ansprüche zu stellen, wie Sozialleistungen, Lohnerhöhungen, die zu Preissteigerungen, und Streiks, die zu Zugausfällen führen, rücksichtsvolle Sprache usw.). Deutschland – nicht unbedingt das reale ganze, aber ein ideales Land des Deutschtums – ist dann so eine große Familie (man stellt sich unter einiger Verbiegung der Geschichte ja als uralte Abstammungsgemeinschaft vor). Daraus ergeben sich zwei Arten von Argumenten. Das erste möchte ich einmal als das Obdachlosen-Argument bezeichnen: Statt um die Geflüchteten möge man sich doch um Notleidende in Deutschland kümmern – man vergeht sich sonst gegen die notleidende Verwandtschaft zugunsten dubioser Fremder. Das zweite wäre das Saudi-Arabien-Argument: Allenfalls sollte man christliche Kriegsopfer aufnehmen, wenn überhaupt, und sonst sollen sich „die“ muslimischen Staaten um „Ihresgleichen“ kümmern (natürlich muss man dazu großzügig die Differenzen zwischen muslimischen Glaubensrichtungen und die Unterdrückung in so manchem Land ignorieren. Wobei ich gerne zugestehe, dass sich bestimmte Länder in anderer, konstruktiver Weise engagieren könnten, als sie es bisher tun). Beide Argumente laufen darauf hinaus, dass man jede Person für die Ihren, und in Übertragung auch jede Nation für die „eigenen“ Probleme (ihrer Einwohner- oder Nachbarschaft) verantwortlich macht. Moral hält sich an das persönliche Umfeld, und Politik an die Grenzen des Nationalstaates oder vage konstruierter Kulturkreise. Nicht Menschheit und allgemeine Menschlichkeit, sondern die gefühlte Wirklichkeit einer familiär-fürsorglichen Menschennatur leitet die Urteile.

Neben dieser Verantwortungszuschreibung gilt es auch sonst, die Ansprüche der Fremden an einen einzudämmen: Sie dürfen auch von sich aus nur in Nachbarländer fliehen, sonst sind sie maßlos und verwandeln sich von Kriegs- in Wirtschaftsflüchtlinge (durch diese magische Verwandlung kann man sich ihrer schnell entledigen), und sie müssen mit weniger Geld zufrieden sein als Deutsche (von denen sich einige offenbar aus ihrer subjektiv oder objektiv prekären Situation heraus ständig vergewissern müssen, dass niemand bessergestellt wird als sie, und beständig nach Belegen und Empörungsgründen suchen, wonach doch andere unverdient bevorzugt werden, und die absurdeste Behauptung über überversorgte Eingewanderte bereitwillig glauben, weil das offenbar ein tiefes Bedürfnis der Sinnstiftung erfüllt).

Aber man setzt sich ja gerade auch für fremde Tiere ein (bzw. empört sich zumindest über deren Schicksal, wenn man auch bei Tieren im Ausland womöglich anderen die Verantwortung überlässt). Wir müssen da verschiedene Verallgemeinerungsstufen von Moral beachten, neben der bereits genannten Volksgemeinschaft: Viele machen noch die Verallgemeinerung mit, dass auch andere „Schutzbefohlene“ haben oder potenziell Nahestehende sind (andere haben auch Kinder und alle Hunde existieren in gewisser Weise nur in Bezug auf den Menschen und bedürfen seines Schutzes). Manche haben sich aber nicht zu der Verallgemeinerung vorgearbeitet, dass alle Menschen und Wesen moralische Ansprüche stellen können oder man sie ihnen zugestehen muss. Für Personen mit einer derart unverallgemeinerten Moral sind alle anderen für sich selbst verantwortlich, müssen von ihresgleichen versorgt werden oder müssen sich Wohlwollen erst durch Wohlverhalten und Leistung verdienen, während die eigenen Angehörigen und Volksangehörigen in der Regel unverdiente Fürsorge verdient haben.

Das hängt damit zusammen, dass einem der eigene Besitz auch nahesteht, dass man sich selbst für ehrlich und fleißig (oder zumindest arbeitswillig) hält und glaubt, dass einem schon deshalb die Früchte der Arbeit (oder der Lohn für die grundsätzliche Arbeitsbereitschaft) zustehen, welche man nicht teilen müsse. Es wird also in allen Bereichen moralisch zwischen den Meinen bzw. dem Meinen und den anderen unterschieden, deren Probleme einen nicht angehen und die keine Ansprüche an einen haben, schon gar nicht auf den eigenen Lohn und Besitz.

Anderer Leute Kinder und Haustiere bzw. streunende Tiere aus Haustierarten werden dann als Opfer bevorzugt wahrgenommen und Untaten gegen sie wird eine besondere Abscheulichkeit zugeschrieben. Das wird oft damit rationalisiert, dass Kinder und Tiere „unschuldig“ seien – das ist zwar immerhin kein moralischer Verdienst, hängt aber wieder mit der oben diskutierten Auffassung zusammen, dass die Ansprüche anderer von deren moralischer und anderer Leistung abhängt. Wer sich einmal schuldig gemacht hat, verliert in dieser Denkweise dann auch jegliche Rechte (auf menschenwürdige Unterbringung und Versorgung, Resozialitation, gar auf das Leben), wohingegen Vergehen gegen die moralisch „Reinen“ besonders abscheulich sind (Leben der Opfer sind sozusagen unterschiedlich viel wert). Bestimmte Täter sind dann eine nicht mehr zu verstehende Personifizierung des Bösen, widernatürliche Unmenschen, die das quälen, was man ja ganz von selbst lieben müsste. Dann ergeht man sich nicht selten in Bestrafungs- und Gewaltphantasien, in denen man anderen typischerweise dieselben Qualen wünscht, wie sie zugefügt haben, oder die Todesstrafe fordert (vgl. den rechten Slogan „Todesstrafe für Kinderschänder“, womit auch der Bezug zur Sexualität wieder da wäre).

Die Fokussierung auf diesen Opfertypus der Nahestehenden lenkt dann weg von den sonstigen Leiden Verfolgter, Vertriebener und erwachsener Kriegsopfer. Wenn die Flüchtenden ohnehin als fremd, nicht nahestehend und potenziell betrügerisch, damit als moralisch nicht recht anspruchsberechtigt angesehen werden, dann werden noch Begründungen für ihre Unwürdigkeit nachgeschoben, welche sich vor allem auf ihren Umgang mit Familienangehörigen beziehen: Der erwachsene männliche Flüchtling habe seine Familie im Stich gelassen, statt das Vaterland zu verteidigen (Frauen gelten dabei tendenziell auch als Schutzbefohlene eines solchen „Deserteurs“), oder sie wahlweise auf der Flucht in Gefahr gebracht, oder sie nutzen Kinder als Druckmittel zur Erlangung einer Aufenthaltsberechtigung. Bzw. wenn Kinder zu Schaden kommen, müssen umgekehrt die natürlichen Beschützer schuld sein, nicht etwa diejenigen (Mit-)Schuld tragen, welche die gefährlichen Bedingungen erst geschaffen haben.

Wenn man fremde Kinder dagegen nicht mit den eigenen gleichsetzt, sondern mit ihren angeblich von niederen Antrieben bewegten Eltern zusammenwirft, dann erscheinen sie gar als Waffe in einem Übervölkerungskampf und als gefährliche Fremdkörper in Kindergärten und Schulen. Hingegen kommt einem nicht die Überlegung in den Sinn, dass man selbst ja wohl auch dahin flüchten würde, wo es den eigenen Kindern nicht zuletzt wirtschaftlich am besten ginge – ob man sie nun gleich mitnimmt oder ihnen die Gefahren der Flucht zunächst erspart in der Hoffnung, sie auf einfacherem Wege nachholen zu können.

Es besteht also eine Abstufung: Geflüchtete kann man noch gelten lassen, wenn sie Familienmenschen sind, man sorgt sich nur um ihre Kinder und macht sie für deren Schicksal alleine verantwortlich, oder fürchtet und verabscheut sogar die Kinder selbst. Eine schlimme Stufe der Abscheu besteht z.B. auch darin, Muslime als Sodomiten und tierquälerische Schächter und Geflüchtete als potenzielle Vergewaltiger anzusehen. Dann sind sie also in keiner Weise mehr einem selbst ähnlich, sonder neigen zu schlimmsten Vergehen gegen Kinder und Tiere.

Bei fremden Hunden ist es hingegen umso leichter, sie positiv und als schutzbedürftig zu sehen, als sie keine Nationalität, keine Religionszugehörigkeit, keine Kultur haben, sondern Gattungswesen oder Individuum sein können, das immer und unbedingt Fürsorge verlangt. Demgegenüber sind die Kinder der Geflüchteten ambivalent: Sie haben Teil an der bedrohlichen Fremdheit oder sind noch davon unbefleckt, werden aber Opfer der Falschheit ihrer Angehörigen. So kann es sein, dass sie gleich mehrfach vor die Hunde gehen, in ihrem Herkunftsland, auf der Flucht oder durch die beschränkte Moral der hiesigen Tierlieben.

Es ist interessant und stimmt hoffnungsvoll, dass diese partikuläre Moral ambivalent ist: Verachtung den Fremden, den Geflüchteten gegenüber, weil sie sich nicht um ihre Familie zu sorgen scheinen (und sogar ihre Kinder können wie beschrieben auf zweierlei Weise gesehen werden), aber man kann sie vielleicht auch als Familienmenschen sehen, mit denen man mitfühlt, weil auch sie Nahestehende haben. Das ist noch nicht die universelle Moral, welche die Rechte aller anerkennt, aber vielleicht eine Brücke dahin.

Wie haben Sie das gemacht, Herr Luhmann?

Ich war einmal auf einer Tagung über Gesellschaftstheorie, da wunderte sich ein nicht unbekannter Soziologie vor Publikum, dass es da an seiner Fakultät so eine Sozialwissenschaft für Arme gebe, wo man sich wundere, welches Interesse die habe und aus welchen Motiven man die studiere: die Kommunikationswissenschaft, die ja letztlich eine Sozialwissenschaft für angehende Kabelträger beim Fernsehen sei.

Aber zur Sache: Wie macht man eigentlich soziologische Theorien?

Die Antworten darauf sind enttäuschend. Der größte Teil der Literatur, die nicht Forschungsergebnisse darstellt, sondern wissenschaftliche Arbeitsweisen beschreibt, erstreckt sich auf empirische Methoden (die einigermaßen willkürlich von den zu prüfenden oder zu erstellenden Theorien abgetrennt werden) oder auf das wissenschaftliche Schreiben (und auch das oft nicht sehr hilfreich). Literatur über Theoriebildung, gar Theoriearbeit ist meist sehr begrenzt.

Vielfach gilt Theoriearbeit als etwas Außerwissenschaftliches, was dem alltäglichen Zufall oder individueller bzw. kollektiver Genialität überlassen ist – eine Haltung, welche die Soziologie in anderen sozialen Bereichen niemals durchgehen lassen würde. Man hält es aber einfach nicht nötig, die eigene Theorieproduktion zu reflektieren, so lange sie funktioniert und man auch so Eindruck schindet, Schülerinnen und Schüler rekrutiert, denen die eigene Theorie und Arbeitsweise auch so in Fleisch und Blut übergeht, und man diejenigen kritisieren kann, die es offenbar nie begreifen (also nicht der eigenen Schule anhängen).

Oder die Vorstellung von Theoriearbeit ist übermäßig idealistisch: Durch systematische Kritik oder Vergleiche bestehender Theorien entstünden neue.

Die Begrenzung äußert sich auch in der Art der behandelten Theorien bzw. den berücksichtigten Wegen. Entweder besteht Theoriearbeit aus dem Herumdeuten an Klassikern oder ihrer Rekombination (meist wird das aber auch nur im Rückblick für einzelne Theorien beschrieben: X. überwand den Gegensatz zwischen Marx und Weber und kombinierte die Elemente soundso und soundso in seiner Theorie… Wie man dabei aber vorgeht, erfährt man nicht). Andere sind der Meinung, Theorien bestünden nur in Erklärungen: A führt zu B, oder etwas umfangreicher: A und B führen zu C, C führt zu D usw. Aber eben nur nach diesem Schema – und das ist ja nicht falsch, solche Theorien gibt es, und man möchte nicht einmal ihren Nutzen bestreiten. Aber so stellt man keine Theorien à la Parsons, Luhmann, Bourdieu, Habermas usw. her. Wie aber?

Die Frage nach der handwerklichen Verfertigung von Theorien zu stellen und sich nicht auf seine Position als genialer Gesellschaftstheoretiker zurückzuziehen, das kann vielleicht nur einem Kabelträger der Sozialwissenschaft einfallen, der den großen Regisseur unverfroren fragt, welcher sich in seiner unergründlichen Genialität sehr gefällt: Wie haben Sie das eigentlich gemacht? Oder etwas weniger unterwürfig: Wenn die Kommunikationswissenschaft nicht groß in der Theoriebildung ist, hat die Soziologie aber auch darin versagt, sich selbst Rechenschaft darüber abzulegen und andere zu lehren, wie man Theorien bildet.

Man müsste das mal für gängige soziologische Theorien durchgehen: Welche Kniffe, Strategien, Wendungen, Operationen, oder wie man das nennen soll, wurden angewandt, um zu diesen Theorien zu kommen? Man kann das natürlich nicht immer genau herausfinden, sofern man die Leute nicht befragen oder ihre Arbeitsweise nicht anhand von Notizen, Entwürfen usw. rekonstruieren kann. Aber man kann das teilweise aus den Publikationen herauslesen.

Ich gebe mal Beispiele für solche Strategien. Eine ganz einfach, mit der man mal beginnen könnte, ist die Umkehrung. A führt zu B. Oder nicht eher B zu A? Wenn die erste Annahme nicht so befriedigt, aber irgendwie doch ein Zusammenhang zu bestehen scheint, probiert man es mal andersherum. Machen Computerspiele gewalttätig oder nutzen aggressive Personen eher gewalthaltige Computerspiele (oder nichts davon)?

Oder eine andere gängige Strategie: die Frage nach latenten Funktionen. Ein gesellschaftliches Phänomen (z.B. ein Ritual oder eine Norm) wird vordergründig mit einem bestimmten Zweck erklärt, der aber nicht so recht einleuchtet, oder die Beteiligten können nicht einmal so recht einen Grund dafür vorbringen. Man stellt also aus der Beobachterperspektive eine Theorie darüber auf, welche bindende, motivierende, stabilisierende Wirkung das Phänomen hat, oder wie es sonstwie für eine soziale Gemeinschaft und ihre Strukturen förderlich ist, ohne dass diese Funktion deutlich ins Bewusstsein tritt. Mittels der Operationen: Identifikation des Phänomens, Unterscheidung zwischen manifester und latenter Funktion, Identifikation weniger beachteter Wirkungen des Phänomens für den sozialen Zusammenhang, und der Analyse, ob die Wirkungen erhaltend und reproduzierend wirken, bildet man also eine Theorie über das Phänomen.

Ein wenig komplexer, Luhmann-Stil. Wir beginnen mit einer Unterscheidung, die wir in der Gesellschaft beobachten. Es wird z.B. offenbar zwischen Recht und Unrecht unterschieden (vor allem, und das ist ja praktisch tautologisch, im Rechtssystem). Nun nehmen wir diese Unterscheidung und wenden sie auf sich selbst an: Ist die Unterscheidung von Recht und Unrecht selbst rechtens? Seltsame Frage, wird man sagen. Aber wir können überlegen, ob sie sich nicht wirklich in der Gesellschaft stellt. Ja! Wenn ein Gesetz verabschiedet wird, das festlegt, was rechtens und unrecht ist, will man vielleicht auch wissen, ob es überhaupt rechtens ist, ein solches Gesetz zu erlassen. Um das zu entscheiden, gibt es dann Verfassungen, wo drinsteht, wie Gesetzgebung vonstatten gehen muss, um rechtmäßig zu sein. Oder wenn ein Gericht entscheidet, ob eine bestimmte Handlung rechtens war, dann muss die Entscheidungsfindung selbst wiederum auf legale Weise ablaufen, nach Strafprozessordnung etwa. Man kann also mittels der Anwendung von Unterscheidungen auf Theorien kommen, wie die Gesellschaft solche unendlichen Regresse (ist es recht, dass recht ist, dass es recht ist…) unterbricht.

Oder nehmen wir Bourdieu: Partikularisierung des Universellen, Soziologisierung der Philosophie. Das muss man auch erklären. Die Philosophie hat so manche Dinge beschrieben, die als allgemeinmenschlich, universell, allgültig, essenziell für das Dasein überhaupt dargestellt wurden. Bourdieu hat Philosophie studiert, war aber nie mit diesen Absolutheitsansprüchen zufrieden, wollte aber wiederum nicht einfach alles über Bord werfen. Er hat verschiedene Dinge mit phiosophischen Theorien angestellt, aber eins davon bestand darin, das scheinbar Universelle als etwas Partikuläres darzustellen: eine Denkweise, die unter bestimmten sozialen Bedingungen gedeiht (partikulär ist) und sogar von dieser sozialen Perspektive aus so selbstverständlich erscheint, dass sie mit dem Wesen der Dinge (dem Universellen) schlechthin gleichgesetzt wird. Bourdieu hat also gefragt: Wer vertritt eigentlich wirklich so eine Ästhetik wie Kant, wie hat sie sich historisch entwickelt? Oder z.B.: Ist nicht Heideggers Auslegung des „Seins des Daseins“ überhaupt in Wirklichkeit die beschränkte und reichlich abschätzige Weltsicht der gelehrten Erzkonservativen vor, nach und während der Nazizeit? Aus welchem Umfeld, aus welchen Quellen speist sich ein solches Gedankengebäude, was erklärt seinen Erfolg und auch die Gegnerschaft anderer? Die Theoriebildung funktioniert also so, dass man das scheinbar Universelle als das Partikuläre begreift und nach den Bedingungen sucht, unter denen es als universell erscheinen kann.

Ich hab mal ein wenig angefangen, das systematisch für einen Gesellschaftstheoretiker durchzugehen, nämlich Niklas Luhmann, und dessen Theoriebildungsoperationen zu systematisieren. Das Ergebnis mag man in einem Aufsatz nachlesen und stelle ich gerne zur Diskussion.

Fletchers (unwahre oder wahre, oder egal?) Visionen

Wenn man sich Verschwörungstheorien unbefangen nähert, kommt man womöglich auf die Idee, sie nach einer einfachen Leitfrage wissenschaftlich untersuchen zu wollen: Wer glaubt den so was Absurdes? (Man könnte diese Perspektive die pejorativ-normative auf Verschwörungstheorien nennen: Ich lege fest, was richtig ist, und untersuche das als falsch Verurteilte.) Die offensichtliche Falschheit vieler Vorstellungen, die als Verschwörungstheorien bezeichnet werden, gibt erst den Anlass zu ihrer Analyse – es erscheint rätselhaft, erklärungsbedürftig, warum Leute davon überzeugt sein können. Da muss es nicht mit rechten Dingen zugehen. Das Falsche, Unmoralische, Gefährliche versetzt in Erstaunen, während das Richtige selbstverständlich erscheint – es leuchtet uns ja ein, bedarf also keiner weiteren Erklärung.

Aber ist nur das Falsche erklärungsbedürftig? Da das Richtige offensichtlich nicht von selbst einleuchtet, kann die Richtigkeit einer Theorie ja auch nicht die Erklärung dafür sein, dass sie für richtig gehalten wird. Man ist zwar womöglich geneigt zu glauben, dass die Wahrheit sich durchsetzt, dass die Welt vernehmbar zu einem spricht und man sie im Prinzip richtig erkennen kann, wenn man nur recht zuhört. Aber trotzdem immer diese Irrtümer! Wenn es Bedingungen gibt, unter denen das Falsche geglaubt wird, dann muss es auch Bedingungen geben, unter denen das Richtige geglaubt wird. Ja, mehr noch: Dass etwas allgemein für richtig gehalten wird oder dass ich es selbst für richtig halte, erklärt überhaupt nicht, warum andere es für richtig halten. Sie können es natürlich aus denselben Gründen wie ich oder z.B. die Mehrheit in der Wissenschaft für richtig halten, aber auch aus völlig anderen. Mein Fürwahrhalten erklärt nicht das Fürwahrhalten der anderen. Und warum halte ich denn selbst etwas für wahr? Weiß ich es denn überhaupt so genau? Oder wäre da genauer nachzuforschen? (In der Wissenschaft wie außerhalb. Und was wissen wir denn über die tatsächliche wissenschaftliche Praxis, über all die entscheidenden Kniffe und Annahmen, die nicht in den Lehrbüchern oder den Abhandlungen über Wissenschaftstheorie stehen? Zum Glück heute einiges, dank der Wissenschaftssoziologie, die sich nicht damit zufrieden gegeben hat, dass die Wissenschaft eben irgendwann die Wahrheit herausfinden wird.)

Will ich wissen, warum Leute etwas für wahr halten, so ist das also unabhängig davon, ob ich es für wahr halte. Mich interessieren die Gründe und Ursachen, welche es auch immer sein mögen und wie wenig sie mir selbst auch einleuchten mögen, und nicht der Abgleich mit dem, was ich für richtig halte. Selbst für mich persönlich gilt: Ich mag feststellen, dass ich geirrt habe, oder an einer Überzeugung festhalten, aber ich könnte ungeachtet dessen untersuchen, was mich jeweils dazu gebracht hat, etwas zu glauben. Ich trete sozusagen einen Schritt zurück von meiner Überzeugung, dass etwas wahr oder falsch ist, klammere sie vorübergehend ein, und interessiere mich nur dafür, wie jemand darauf kommt, etwas für wahr oder falsch zu halten.

Diese Vorgehensweise könnte man die symmetrische Perspektive auf Verschwörungstheorien nennen, gemäß dem so genannten Symmetrieprinzip in der Wissenschaftssoziologie (dargelegt v.a. in David Bloor, Knowledge and social imagery), wonach es eben im Prinzip durch die gleichen Arten von Ursachen erklärt werden soll, warum für wahr und falsch gehaltene Theorien für wahr oder falsch gehalten werden. Dann wäre z.B. zu fragen: Was sind denn typische Gründe, aus denen man Verschwörungstheorien für richtig hält? Wie wird mit Belegen, wie mit Gegenargumenten umgegangen, wie verallgemeinert und differenziert, usw.?

Und außerdem könnten sie sich ja als wahr erweisen (zumindest in Teilen) – würde sich dadurch etwas an der Erklärung ändern? Wenn nun etwa herauskäme, dass Geheimdienste uns alle überwachen?! (Natürlich haben übliche Verschwörungstheorien in der Regel eine andere Vorstellung von der Art, Vorgehensweise und dem Nutzen massenhafter Überwachung, während eine soziologische Analyse herausarbeiten würde, welche teilweise paradoxen Folgen ein riesiger Überwachungsapparat haben kann.)

Ein kurzer Einschub, um einem gängigen Einwand gegen diese Perspektive zu diskutieren: Zerfließt in solch einer Betrachtung nicht alles, gehen Wahr und Falsch nicht in einem großen Relativismus unter, erscheint nicht alles irgendwie wahr, alles eine irgendwie berechtigte These? Keineswegs, denn das Prinzip der Symmetrie bedeutet erstens, dass man wahre und falsche Theorien auf die grundsätzlich gleiche Weise erklärt – was bedeutet, dass man weiterhin durchaus eine sehr starke Auffassung haben kann, welche man für wahr hält. Dieses Fürwahrhalten wird einen wie gesagt nur nicht weiterbringen bei der Erklärung dessen, was andere denken. Zweitens bedeutet das noch mehr, dass man bei einer solchen symmetrisches Analyse sogar Bestimmtes für wahr halten muss. Denn um etwas zu verstehen und zu erklären, braucht man bestimmte Festlegungen für einen selbst: Man muss festlegen, welche Gegenstände man analysieren will (und damit darauf, dass sie existieren), welche Methoden man für angemessen hält, was man selbst für richtiges Schlussfolgern und für plausible Argumente und Belege hält, und was man am Ende als Ergebnis seiner Untersuchung gelten lassen will.

Zumindest braucht es diese Festlegungen für den Zweck genau der aktuellen Untersuchung – es spricht nichts dagegen, sie dann zu revidieren, bei anderen Anlässen auszuwechseln oder gar selbst zum Gegenstand der wissenschaftssoziologischen Analyse zu machen (das Symmetrieprinzip erlaubt es gerade, auch die Entstehung und Durchsetzung der von einem selbst vertretenen Paradigmen und Theorien zu analysieren).

Ich muss also gründlich unterscheiden zwischen meinen eigenen (vorübergehenden und pragmatischen oder grundsätzlichen und bis auf Weiteres unverrückbaren) Festlegungen, dann den Aussagen über meinen Gegenstandsbereich (Verschwörungstheorien und ihre Deutung und Erklärung) sowie eventuell dem Gegenstandsbereich der Vorstellungen, die ich untersuche (also den Bezugsgegenständen von Verschwörungstheorien – und hier ist also es wichtig zu unterscheiden, dass ich gerade über Verschwörungstheorien forsche, nicht über 9/11, Chemtrails, die BRD GmbH oder die Illuminaten selbst. Wenn ich die Wahrheit darüber wissen will bzw. mich für meine Arbeit der Wahrheit darüber versichern muss, wäre das eine ganz andere Forschung bzw. müsste ich ganz andere Forschungen anderer aufarbeiten als bei der eigentlichen Forschung über Verschwörungstheorien).

Was bedeutet das nun weiter für Verschwörungstheorien? Ihre Analyse geht in einer allgemeinen Wissenssoziologie auf. Natürlich nicht unterschiedslos, aber nach der grundsätzlichen Vorgehensweise. Wie vorgehen, wenn nun Wahrheit und Falschheit nicht das entscheidende Abgrenzungskriterium sein kann (als alleiniges konnten sie ohnehin nie dienen, weil sonst ja auch ein geozentrisches Weltbild, die Äthertheorie usw. von vornherein eine Verschwörungstheorie wären und Ptolemäus ein Verschwörungstheoretiker – selbst wenn solche Vorstellungen in Verschwörungstheorien eine Rolle spielen, müsste noch etwas dazukommen)? Man müsste also Kriterien der Form, nicht der Wahrheit heranziehen: Welche Arten der Erklärung liefern Verschwörungstheorien typischerweise (etwa indem sie bevorzugt Geschehnisse auf Handlungen Weniger, auf Koordination und Macht zuschreiben), welche Begründungen geben sie für ihre Geltung an? Man kann dann weiter betrachten, welchen Themen sich Verschwörungstheorien bevorzugt zuwenden und welchen im Vergleich z.B. die Wissenschaft, der Journalismus, die Literatur usw. Ferner kann man danach fragen, wer denn die Theorie jeweils entwickelt, vertritt und verbreitet und welche Funktionen sie einnimmt. Gewisse Verschwörungstheorien gehören z.B. in esoterische Gedankengebäude, wo sie den Einsatz alternativer Heilverfahren oder bestimmte Glücksversprechungen legitimieren. Andere ordnen sich in populistische oder neurechte Weltbilder ein und laufen zum Teil auf eine konservative Revolution hinaus, welche die teilweise im Geheimen herrschenden und die Bevölkerung mit traditionszersetzender und widernatürlicher Propaganda manipulierenden Eliten beseitigen möchte.

Ob man nun bei diesem Vergleich zu dem Ergebnis kommt, Verschwörungstheorien seien eine Kategorie für sich, mit abgrenzbaren Eigenschaften, oder eben nicht – man kann auf jeden Fall auch immer noch die Perspektive einnehmen, das „Wissen“ (im symmetrischen Sinne) über die Verschwörungstheorien zu untersuchen: Was ist für wen eine Verschwörungstheorie, wann gilt das für jemanden als erwiesen, wie erklären sich Leute deren Entstehung und Funktion, usw.? Man hat es dann mit einer Analyse des Labellings des „Wissens“ anderer als Verschwörungstheorie zu tun, also einer Beobachtung dritter Ordnung: Jemand hat eine Vorstellung, jemand anderes ordnet diese als Verschwörungstheorie ein, und man selbst schaut drauf und beobachtet, wie diese Einordnung vonstatten geht. Und dabei könnte sich einmal mehr erweisen, dass Verschwörungstheorien richtig sind, denn eine Funktion des Labels „Verschwörungstheorie“ ist ja in der Tat, entsprechende Vorstellungen als offensichtlich unwahr abzuqualifizieren, ja für indiskutabel zu erklären – wie es Verschwörungstheretiker selbst gerne feststellen! Dem zuzustimmen impliziert aber wie dargelegt nicht, diese Vorstellungen insgesamt für richtig (oder auch nur für falsch) zu halten.