Unvorstellbar

von Benjamin

Ein Vorstellungsgespräch ist paradoxes Spiel: Man möchte gerne die Wahrheit über den Bewerber oder die Bewerberin erfahren, sie aufrichtig und unverstellt erleben, erwartet jedoch eine positiv-verzerrte Selbstdarstellung. Ja man würde, so ist heute die klare Tendenz, niemanden einstellen, der aus sich heraus oder gar auch auf die entsprechende Frage („Was sind Ihre größten Schwächen?“) hin seine Schwächen wirklich darlegen würde. Beide Seiten wissen das, und wissen, dass sie es wissen usw. Man hofft, dieser Paradoxie zu entgehen, indem man einerseits auf nicht bewusst steuerbare Signale wartet (bzw. auf die „Menschenkenntnis“ der Personaler vertraut, oder Situationen schafft, bei denen sich die Bewerber gar nicht vollständig, und schon gar nicht über eine gesamte längere Zeit in höchsten Maße selbst kontrollieren können, wie in den dann wiederum höchst artifiziellen Assessment Centern). Bzw. man stützt sich auf Informationen, die nicht mehr beliebig selektiv zurückgehalten und frisiert werden können (der Lebenslauf muss schließlich lückenlos sein und kann nicht mehr einfach so verändert werden, dass er den Anforderungen entspricht). Andererseits ist man dazu verdammt, die Selbstdarstellungskompetenz als Zeichen anderer, der ja eigentlich gesuchten Kompetenzen zu nehmen, mit den bekannten manchmal desaströsen Ergebnissen. Die Aufforderung des Bewerbungsgesprächs lautet also: Sei unaufrichtig, aber das nach besten Kräften, und nicht so, dass man dich eines Schwindels überführen kann, und außerdem wissen wir ja ganz genau, dass du unaufrichtig sein wirst, wir wollen dich aber zu Aufrichtigkeit zwingen, aber das weißt du ja auch, usw. Letztlich führt das zu einem Wettrüsten zwischen den Personalern, die immer seltsamere, unerwartete Fragen und Aufgabenstellungen für die Applikanten erfinden müssen, die dann oft umso gezwungener und lächerlicher wirken, und den Bewerbern, die sich mit Ratgebern und Ähnlichem auf genau diese Fragen und Aufgaben vorbereiten. Nur ein „Bodensatz“ von Nichteingeweihten verhält sich einigermaßen aufrichtig, und hat darum keine Chance – die bedauernswerten Verlierer dieses paradoxen Spiels. Man könnte das Bewerbungsgespräch ja mit Leichtigkeit als absurdes Theater in einem sehr strengen Sinne ansehen und sogar im Gespräch selbst als solches bezeichnen. Man könnte die perfide doppelte Abhängigkeit (ich weiß, dass du weißt, dass ich weiß usw., dass wir uns hier was vormachen) im Gespräch selbst aussprechen, aber man bekommt sie dadurch nicht so leicht weg, denn das würde keinem so eindeutig nutzen und das Gleichgewicht nicht deutlich zu den eigenen Gunsten verändern. Ich weiß auch nicht, wie eine Personalerin reagieren würde, wenn man ein Vorstellungsgespräch derart auf die Meta-Ebene höbe. Womöglich würde er mit Panik auf diesen Kontrollverlust und Konventionsbruch reagieren, den Bruch des impliziten Vertrags der Unaufrichtigkeit, des Gleichgewichts nicht des Schreckens, sondern des Blendens. Ich habe es ehrlich gesagt noch nicht ausprobiert.

Ob man allerdings die Situation durch ein Durchbrechen und Thematisieren der Unaufrichtigkeit und Absurdität auf eine solche „normalere“ Ebene heben könnte, ist zweifelhaft und es erscheint eher gefährlich, das zu versuchen, denn es handelt sich dabei ja doch ein wenig um ein Tabu: Alle denken daran, aber niemand redet darüber (gemeint ist: in der Situation selbst; in tausend Büchern und Seminaren natürlich durchaus). Ein wenig ist das wie mit der Gegenseitigkeit des Schenkens: Man erwartet, dass man etwas zurückbekommt (wenn auch nicht notwendig im gleichen Wert), aber das kann man natürlich nicht einfach aussprechen, das würde das System zerstören.

Außerdem würde eine solche Meta-Kommunikation verkennen, dass es auf Aufrichtigkeit und auf das Wissen um die Paradoxien der Situation ja nicht ankommt (das ist ja etwas allgemein Bekanntes, das nicht besonders erwähnt werden muss). Vielmehr könnte diese Meta-Thematisierung als Ausweichen eingeordnet werden (wo doch geschönte Selbstdarstellung und Verweigerung von „belastenden“ Informationen erlaubt, ja gefordert sind, es darf nur nicht offensichtlich sein). Es könnte sein, dass eine solche Intervention als Kompetenzdemonstration durchgehen könnte – Stichwort „analytische Fähigkeiten“. Dies werden aber wohl eher an Scheinproblemen getestet oder im kompetenten Umgang mit der Gesprächssituation selbst, also ob man diesen Typus der Situation kennt und damit umgehen kann. Das wiederum ist eine Frage der Übung; weshalb man ja im Allgemeinen rät, man solle ein Vorstellungsgespräch immer mitnehmen.

Diese Bewerbungsgespräch-Kompetenz stößt dann aber wieder auf das Paradox der Anti-Konventionalität: Man begnügt sich nicht mit Standardantworten, aber bekanntlich rät die Literatur über Vorstellungsgespräche zu einer eher konservativen Selbstdarstellung (zumindest in den meisten Berufen). Außerdem ist die menschliche Kreativität bei der Erzeugung unkonventioneller Verhaltensweisen letztlich begrenzt (nicht absolut gesehen – da gibt es nichts, was es nicht gibt –, sondern für die einzelne Person im Augenblick), so dass Unkonventionalität selbst wieder ihre Konventionen kennt: als nicht konventionell geltende Antworten, die nicht in der Gefahr stehen, allzu abgefahren zu sein. Der Bewerber hat dann lediglich zu entscheiden (bewusst oder unbewusst), in welchen Typus der konventionell Unkonventionellen er sich einordnen lassen will. Überhaupt kann er vielfach nur noch entscheiden, welche der üblichen nichtssagenden Antworten er geben will, die trotzdem noch als Antwort durchgehen kann (so kann man auf die Frage nach den eigenen Schwächen, auf die man natürlich keine ernsten Schwächen nennen kann, bekanntlich entweder Perfektionismus erwähnen, oder dass man Bitten anderer nicht abschlagen kann; so ordnet man sich in einen Typus ein, ohne sich eine Blöße zu geben, vor allem wenn man, wie allgemein angeraten, die Schwäche dann sogleich noch einschränkt und/oder in eine Stärke uminterpretiert).

Erst so lässt sich erklären, dass Vorstellungsgespräche überhaupt funktionieren und nicht vielmehr unter der Last dieser Paradoxien, ja Absurditäten zusammenbrechen. Sie folgen eben bestimmten Konventionen, die im Idealfall allen bekannte sind, die bestimmte Exzesse (der Reflexivität, der unaufrichtigen Selbstdarstellung, der taktlos-intimen Ausforschung usw.) mehr oder weniger ausschalten und trotz der relativen Vorhersehbarkeit einige Informationen produzieren, schon aus dem Grunde, dass eben doch nicht alles bis ins Letzte vorhersehbar und kontrollierbar ist. Das Bewerbungsgespräch ist sozusagen scheinheilig, heuchlerisch, aber dafür eben in der Regel nicht anarchistisch, nicht maximal gefährlich, nicht bis zum Letzten konfrontativ und intim. „L’hypocrisie est un hommage que le vice rend à la vertu“, schrieb Bourdieu gerne, indem er de la Rochefoucauld zitierte. Das Vorstellungsgespräch ist sozusagen die Hummel unter den sozialen Situationen (wie, natürlich fälschlicherweise, behauptet wird, der Flug der Hummel sei physikalisch nicht zu erklären): Es dürfte theoretisch gar nicht funktionieren, weil es sich in Paradoxien verfangen müsste und sein Informationswert genau Null wäre. Das ist so eine Wendung des Denkens, die ich bei Luhmann gelernt habe: das Paradoxieren, bzw. die Methode, das Gelingen, das Funktionieren eines sozialen Phänomens als unwahrscheinlich anzusehen (ihr reales Funktionieren sozusagen einmal theoretisch einzuklammern), um sich dann zu fragen, warum es trotzdem mehr oder weniger gut geht. Das kann eine sehr erhellende Denkmethode, eine Fragetechnik sein, gerät aber in die Gefahr, zu reinen akademischen Selbstbefriedigung zu werden, indem man Probleme erfindet, die es gar nicht gibt und offensichtlich sehr gängige Dinge als eigentlich undenkbar hinstellt. Dass das Vorstellungsgespräch trotzdem einigermaßen funktioniert und durchgeführt wird, hängt von der Strukturbildung durch Zufall ab (d.h. das Gespräch ist nicht bis ins letzte steuerbar, Zufälle können es eine informative Wendung geben), und der Tatsache, dass man durch Befolgung von Konventionen und dosierte Abweichung davon Signale setzen kann, die schon deshalb nichtbeliebig sind, da man ja später in der entsprechenden Organisation arbeiten will und zurechtkommen muss, so dass man ein gewisses Interesse hat, solche Eigenschaften seiner selbst zu signalisieren, die eine gewisse reale Passung zwischen Bewerberin und Unternehmen nahelegen. Das verhindert natürlich nicht, dass in der Praxis krasse und teure Fehlbesetzungen vorkommen, z.B. selbst wenn ein ganzes Institut voll schlauer Leute einen neuen Professor oder eine neue Professorin beruft, deren Arbeit noch dazu in Publikationen bereits vergleichsweise transparent dokumentiert ist (besser jedenfalls, will mir scheinen, als in Arbeitszeugnissen, die ja das Gegenstück zum Vorstellungsgespräch sind in ihrer Heuchelei und Absurdität, und die trotzdem weiter verfasst und vorgelegt werden).

Das Vorstellungsgespräch setzt also paradoxerweise auf allseits bekannte Verschleierung, auf individuelle Information mittels konventioneller Antworten, auf konventionelle Unkonventionalität, auf Selbstdarstellungskompetenz als Zeichen von Kompetenz, auf das Mitspielen in einer bekanntermaßen absurden Situation als Zeichen von Erfahrung, und darauf, dass der Zufall einem dann doch das eine oder andere Signal zukommen lässt.