Synästhetische Soziologie

Versuche und Unterweisungen, die Gesellschaft mit Sinn und Verstand zu begreifen

Kategorie: Ökonomisches

Warum es uns andererseits nicht egal sein sollte, ob Relotiusʼ Geschichten falsch sind

Natürlich ist es nur in gewisser Hinsicht egal, ob Relotiusʼ Geschichten falsch sind (bei der Diskussion meiner und anderer Leute Thesen in einem Kolloquium konnte ich das noch einmal deutlich manchen). Man könnte mein Argument noch mal beispielhaft so zusammenfassen: Um zu verstehen, wie er die Redaktionen und Jurys dermaßen in den Bann ziehen konnte, müssen wir verstehen, was Jurys und Redaktionen eben so in den Bann zieht und warum. Wenn wir wissen wollen, wie er mit seinen Erfindungen durchkommen konnte, müssen wir herausfinden, was insgesamt in Redaktionen gegengeprüft wird und was nicht und warum. Oder auf einen anderen Gegenstandsbereich bezogen: Wir brauchen keine Forschung zur Verbreitung von „Fake News“, wenn wir ohnehin eine Forschung zur Verbreitung von Dingen auf sozialen Medien haben, wie eine Kollegin betonte. Bei allen solchen Untersuchungen müssen wir unsere Haltung zur Wahrheit und Falschheit von Aussagen einklammern, natürlich ohne dass wir sie aufgeben müssen. Im Gegenteil, sie können uns ja durchaus motivieren und die Relevanz unseres Gegenstandes und unsere kritische Stellungnahme zu sozialem Geschehen begründen.

Jedenfalls sollte mein Argument nicht beiseite gewischt werden mit der Schelte, mit der früher auch der so genannte radikale, in Wirklichkeit aber erkenntnistheoretisch etwas platte und performativ selbstwidersprüchliche Konstruktivismus in unserem Fach versehen wurde. Die Antwort lautete damals sinngemäß: Aber wo kommen wir da hin?! Was ist dann überhaupt noch wahr?! Soll denn alles erlaubt sein, kann man jetzt einfach alles erfinden?!

Die mit dem Symmetrieprinzip gefordert Urteilsenthaltung ist aber eben paradoxerweise notwendig, um bestimmte Urteile klar fällen zu können: Wir müssen unser eigenes Urteil über die Wahrheit einer Aussage ausklammern, um ein Urteil fällen zu können, welches die beste Erklärung dafür ist, dass andere diese Aussage glauben oder nicht. Die Urteilsenthaltung, der Relativismus führen also nicht in bodenlose Zweifel, sondern zu handfesten Erkenntnissen, auf die wir uns (vorläufig) als wahr festlegen.

Diese Lage führt zu einer paradoxen Verkehrung der Lager: Ein Erzpositivist wie Bloor konnte dann in die Nähe irgendwie radikaler Postmoderner gerückt werden. Die Erzpositivisten bei uns im Fach stürzen sich auf die Forschung zu „Fake News“, obwohl sie eigentlich konsistenterweise nicht nur werturteilsfrei, sondern überhaupt mit Blick auf die fraglichen Nachrichten urteilsfrei (im Sinne von: symmetrisch) forschen müssten. Und es ist paradox, dass Forschung, die sich des Urteils enthält, manchmal provokativer und kritischer ist als eine, bei der klare Urteilskriterien, ja sogar die Urteile bereits im Vorhinein feststehen.

Aber natürlich bin ich überzeugt von der Legitimität, ja der zwingenden Notwendigkeit normativer Forschung. Die Wissenschaft kann nicht alleine einen Typus von Aussagen beackern, nämlich Realitätsbeschreibungen, sondern sie sollte sie sollte auch normative Fragen mit der ihr eigenen Gründlichkeit systematisch und methodisch bearbeiten.

Ich muss gestehen, dass ich es nun nicht sonderlich interessant finde, die Richtigkeit journalistischer Aussagen im Rahmen einer normativen Qualitätsforschung zu erheben und zu vergleichen, wie jemand nahelegte. Journalistischen Beiträgen hinterherzurecherchieren ist vielleicht eher Aufgabe von entsprechenden Fachleuten, aber man kann dies natürlich auch als eine legitime Fragestellung in der Kommunikationswissenschaft ansehen. Ähnlich die Analysen zur Verbreitung so genannter Fake News. Hier erklärt die Zuschreibung der Unwahrheit zwar nichts und Festlegung der Stichprobe kann methodisch gefährlich werden, aber die Forschung kann hier mit ihrer datenanalytischen Kompetenz zu einer Problemdiagnose beitragen, indem sie die Dynamik der Verbreitung aufzeigt. Wichtiger wäre mir aber z.B. eine gründliche Diskussion und Operationalisierung von Diskurskriterien, etwa wie Ansprüche auf Wahrheit und Wahrhaftigkeit eingelöst werden sollten, eingelöst werden oder nicht. Das würde erst einen normativen Standard liefern, den man an inner- und außerjournalistische Beiträge anlegen könnte.

Gerade auch eine kritische Forschung, die grundlegender und normativer ansetzt mit ihren Erklärungen und Funktionszuschreibungen, muss sich bei der Analyse bestimmter Zusammenhänge des Urteils enthalten, um nicht zu Fehlschlüssen und Pseudoerklärungen zu gelangen, so sehr ihre Kategorien ansonsten normativ aufgeladen sein mögen.

Meiner Auffassung nach inspiriert der Fall Relotius zu I. politökonomischen Erklärungen und entsprechender Kritik und II. zu anerkennungstheoretischen normativen Forderungen (ohne dass ich hier zur klassisch z.B. bei Fraser und Honneth diskutierten Frage Stellung nehmen möchte, in welchem Verhältnis beide Arten der Kritik stehen).

I.

Es entspann sich zunächst in besagtem Kolloquium eine Kontroverse, ob die Fälschung völlig konträr zur Logik des Journalismus oder die natürlich Fortsetzung seiner Logik sei. Zunächst scheint klar, dass erfundene Aussagen sicher nicht konform zu den Normen des Journalismus und seinem Ansehen schädlich sind. Aber das natürlich nicht falsche Beharren auf Faktentreue im Detail blendet doch auf bequeme Weise die umfassendere Frage aus, welche Realität der Journalismus insgesamt konstruiert. Dass Relotius der platten Lüge überführt werden konnte, entlastet ferner von der Frage, ob die ideologischen Implikationen seiner Geschichten nicht auch problematisch waren.

Und vor allem stellt sich ja trotzdem die Frage, ob es nicht systemimmanente Gründe gab, warum er erfand, und ob es völlig beliebig war, was er in welchem Zusammenhang erfand. Die Erklärung sollte jedoch keine allzu platte Kommerzialisierungsschelte sein. Es gibt nämlich eine teilautonome Ökonomie eines elitären Journalismus, der im Grenzfall auf zweckfreie Diskursanregung, ja -erregung oder auf Bestaunen seines Stils und seines narrativen Aufbaues statt auf reinen Massenkonsum und unmittelbare Reichweitenmaximierung abzielt (und in dem dann die exotisierende Reportage oder auch die von jeder Betroffenheit und Perspektivübernahme entlastete Diskussion à la „Oder soll man es lassen?“ gedeihen). Erst indirekt über ein ähnlich gestimmtes oder (lustvoll) empört klickendes Publikum ist er auch kommerziell einträglich, aber teilweise vom Markt abgeschirmt. Seine Währung ist eher das kulturelle Prestige, ja die innerjournalistische Anerkennung (etwa in Form von Preisen oder des seltenen Lobes des Chefredakteurs).

Es handelt sich im Grenzfall um l‚art pour l’art, etwa um eine Kunstform der Provokation (mein eigener Vortrag war ja auch ein wenig eine solche Glosse eines privilegierten Schönredners oder -denkers – trotzdem muss sich die Forschung gerade vor Fehlschlüssen und epistemologischen Problemen hüten, wenn es um viel geht, etwa um die Wahrheit oder menschenfeindliche Ideologien. Relevanz und Engagement ersetzen ja keine systematische Theoriebildung und methodische Strenge…) oder eine Kunstform des Erzählens. Trotz augenscheinlicher gesellschaftlicher Relevanz des jeweiligen journalistischen Themas gewinnen die Atmosphäre, die Stilmittel, die tieferen Narrative die Oberhand über die wirkliche Beschäftigung mit dem Gegenstand bzw. die Begegnung auf Augenhöhe und die Widerständigkeit des sozialen Sachverhaltes.

Eine Kollegin wies überdies außerhalb des Kolloquiums darauf hin, dass gewisse Felder anfällig sind für einen Personen-, ja Wunderkinder- oder Geniekult. Hier zeigen sich nach ihrer Auffassung Parallelen zu jüngeren Fälschungsskandalen in der Wissenschaft (wo ja die Unwahrheit zu verbreiten ebenfalls systemfremd, die Währung der Reputation und der Drang nach sensationellen Neuigkeiten und nach „Geschichten“, die zu schön sind um wahr zu sein, aber ebenfalls tendenziell systemimmanent sind). Der Hype um eine Person gewinnt womöglich früher oder später Macht über die Betreffenden selbst, die dann liefern müssen und entweder glauben, anders als durch Fälschung nicht mehr liefern zu können, oder vor Entdeckung sicher zu sein. Und zugleich scheut das Feld davor zurück, einen Betrugsverdacht überhaupt zu schöpfen oder, wenn doch, ihn zu äußern und ihm nachzugehen.

II.

Welchen Schaden hat Relotius nun angerichtet? Ein Kollege betonte energisch, die relevanteste Frage sei doch die, in welchen Diskursen der Fall eingewoben und als Munition gegen die etablierten Medien gewendet werde (aber auch zur Reinwaschung des regelkonformen, professionellen Journalismus in Abgrenzung zu den Betrügern herangezogen).

Nun scheint klar, dass der Fall den Lügenpresse-Rufenden in die Hände spielt. Wie sollte er auch nicht? Aber auch hier ist es interessant, einmal von der Frage zu abstrahieren, wer nun mit welcher Kritik recht hat, und die Einflüsse und Bedingungen zu erörtern, welche dafür sorgen, dass der Fall einerseits gewissen Lagern Rückenwind verlieht, andere aber gerade darin bestärkt werden, dass sich Verallgemeinerungen über den Journalismus verbieten und er gerade besonders verteidigt werden müsse.

Ein ökonomisch und risikotheoretisch ausgerichteter Beitrag im Kolloquium kam zu dem Schluss, ein materieller Schaden sei den falsch Dargestellten (so es sie denn gab, oder den in ein schlechtes Licht gerückten Gruppen) nicht direkt entstanden – höchstens schwer greifbar auf Umwegen (was noch ein Grund sein könnte, warum es keine Anreize gibt, solche Vorkommnisse mit viel Aufwand zu verhindern bzw. unwahrscheinlicher zu machen, so führte er aus).

Es entstand stattdessen vor allem Schaden der Anerkennung bei den Betroffenen. Sie wurden in ihrer gemeinsamen Eigenart und persönlichen Identität nicht ernst genommen und nicht als vollwertige Gegenüber anerkannt. Eine solche anerkennungsbezogene Kritik der Medien muss freilich von der rechtspopulistischen Medienkritik abgegrenzt werden. Auch sie fordert letztlich Anerkennung, jedoch auf eine sehr ausschließende Weise. Sie behauptet ja letztlich, dass es innerhalb eines Landes nur eine wesentliche Perspektive und eine vor allen anderen anerkennungswürdige Identität gebe: die des „wahren“, weil angestammten und einer traditionellen Kultur treuen Volkes. Dies müsse sich dann auch in den Medien äußern, die ansonsten mit allerlei Beschimpfungen belegt werden, wenn sie dem nicht Folge leisten.

Freilich nutzt der Rechtspopulismus vor allem auch Normen der Demokratie und des Journalismus, um die Presse unter Druck zu setzen: Regeln der Ausgewogenheit und neutralen Berichterstattung zielen eigentlich auf Pluralismus, aber letztlich geht es im Rechtspopulismus vor allem um den eigenen Vorteil und die Konstruktion eines Opfermythos, während er anderer politische Lager und die Identitäten und Geltungsansprüche von Minderheiten eigentlich als illegitim ansieht.

Das bringt uns dazu, auch unser eigenes öffentliches Wirken zu reflektieren. Wir müssen exklusive Anerkennungsforderungen zurückweisen und dürfen nicht naiv in Diskurse hineingehen. Sonst legitimieren wir eigentlich nicht diskursbereite Gruppen und Akteure, welche „Kritik“ und Gründlichkeit simulieren (etwa durch Ausführlichkeit, scheinbaren Klartext oder einseitige Spiele des Zweifels), aber die sich in höchst asymmetrischer und manipulativer Weise auf diskursive Regeln berufen: Viele, die es schon immer gewusst haben wollen, was sich jetzt beim Spiegel gezeigt habe, tolerieren weitaus gravierende Normverletzungen, wenn sie die eigene Seite betreffen, geben sich aber als die gründlichen und mutigen Skeptiker, wenn sie raunende Fragen ohne konkrete Anhaltspunkte formulieren, und lassen gar Triumphgeheul vernehmen, wenn tatsächliche Verfehlungen der verfeindeten Seiten offenbar werden. Sie sprechen marginalisierten Gruppen oder auch nur abweichenden Parteien die Legitimität ab, fordern aber von diesen als gleichrangig, ja letztlich als unterdrückt anerkannt zu werden. Wir können nicht alle abschreiben, die den Medien misstrauen, auch weil diese ihnen letztlich ebenfalls teilweise die Anerkennung versagt haben. Aber der Versuch, sie zu erreichen und einen Diskurs über die Begründetheit dieser und jener Medienkritik zu führen, darf nicht bedeuten, dass man die Forderung aufgibt, dass alle Seiten den jeweils anderen diejenige Anerkennung zukommen lassen muss, die sie selbst verlangen.

Der Sinn der Spiele

„In einem Land, in dem ein Olympiasieger 20.000 Euro Prämie bekommt und ein Dschungelkönig 150.000 Euro, sollte sich niemand über fehlende Medaillen wundern.“

Markus Deibler, ehemaliger Schwimmer, auf Facebook

Viele, die darunter kommentierten, wägten nun ab, wie dem deutschen Sport am ehesten zu helfen sei: durch Belohnung und Förderung von Spitzenleistungen oder durch Unterstützung des Breitensports, oder ob nicht bereits genug getan werde, usw. Nur selten drang eine andere Frage durch, welche eine Soziologie der gesellschaftlichen Felder stellen würde: nach dem Sinn des Spiels überhaupt.
Der von mir fast jederzeit gerne angerufene Soziologe Pierre Bourdieu hat ja beschrieben, wie es in der Gesellschaft verschiedene Felder gibt, in denen nach je eigenen Regeln um eigene Ressourcen gerungen wird. Er hat das mit unterschiedlichen Spielen verglichen, die ebenfalls je ihre eigenen Regeln, Gewinne und Einsätze aufweisen. Und es braucht jeweils eine Grundmotivation und Grundkompetenz, einen Sinn für das Spiel: das Spiel muss einem sinnvoll erscheinen, man muss eine Ahnung haben, worum es geht. Und das muss einem etwas wert sein; das Spiel muss wert sein, dass man es spielt. Wenn man nun aber im Spiel drin ist (teilnehmend oder gebannt zusehend), ergibt die Frage nach seinem Sinn – wenig Sinn. Er leuchtet unmittelbar ein und wird in der Regel nicht ständig in Frage gestellt. Von außen betrachtet kann man allerdings fragen: Was tun die da und warum tun die das? Soziologie kann dann darin bestehen, sich einmal verwundert die Augen zu reiben, sich gar einmal dumm zu stellen, um dann zu verstehen, was die Beteiligten schon wissen, aber doch nicht richtig: Denn sie „wissen“ bereits, dass das alles Sinn ergibt, aber selten können sie es auf den Punkt bringen. Das ist auch gar nicht nötig, denn es läuft ja – es sei denn, etwas läuft nicht zufriedenstellend, wie im vorliegenden Fall, aber selbst dann ist die Frage oft eher, wie man das wieder hinbekommt, und nicht so sehr, welchen Sinn das Ganze hat. Interessant ist natürlich, in welchen Momenten die Spielenden den Sinn des Spiels in Frage stellen (Ist es das alles wert für eine wissenschaftliche Karriere? Muss ich diese Mittel einnehmen, um in dieser Sportart erfolgreich zu sein? Sind alle Mittel recht oder muss ich mich all diesen Anfeindungen aussetzen, um in der Politik etwas zu bewegen?).
Nun zurück zu den Prämien für Medaillen. Das eine ist die Frage, ob man vom Sport leben kann, die andere, ob man durch höhere Prämien mehr motiviert würde (funktioniert so der Sport?). Die noch grundlegendere Frage ist aber: ob man davon leben können sollte, ob es legitim ist, dass der Staat diese Aktivität unterstützt. Was sind eigentlich die Kriterien, aufgrund derer wir Bratschistinnen im Opernorchester, Speerwerfern, Redakteurinnen beim Bayerischen Rundfunk, Kassierern beim Museum, Religionslehrerinnen usw. staatlicherseits das Auskommen garantieren? Und warum scheint es uns unmittelbar einzuleuchten, dass der Sieg im Dschungelcamp bzw. die erfolgreiche Bespaßung des Publikums im Ringen mit dem Ekel vor Kakerlaken keine vergleichbare Leistung darstellt? Oder ohne Wertung und historisch gefragt: Wie haben es bestimmte Felder geschafft, dass ihre Tätigkeit als so bedeutend angesehen wurde, dass es legitim erscheint, dass die Allgemeinheit sie über den Staat finanziert? (Man kann umgekehrt natürlich auch fragen, welchen Wert der olympische Geist streng nach Coubertin haben muss, woher die ebenfalls häufige Ablehnung des einkommensträchtigen Profisports kommt.)
Welche Gründe könnte man im Falle des Spitzensports aufbieten? Vielleicht, dass er indirekt auch zum Breitensport motiviert, etwa aus Gründen der Volksgesundheit. Das scheint aber vielleicht etwas zu indirekt, ebenso wie die Assoziation von Fitness mit Sicherheitskräften nicht unbedingt ausreichen kann, um die Anstellung beim Militär, bei Polizei, Grenzschutz usw. zu rechtfertigen. Ich habe aber einmal bewusst dieses Wort gewählt: Volksgesundheit, denn eine andere Begründung, die oft mitschwingt, ist eine auf die Nation, das Volk bezogene. Die Sportlerinnen und Sportler repräsentieren letztlich eine Nation, ein Volk, und der Staat muss dafür sorgen, dass das Land sich nicht blamiert. Der Sport erweist die Tüchtigkeit des Volkskörpers, den Zustand des Staatswesens und der Nation. Eigentlich würde man das eher autoritären Ländern zuschreiben, für die der Sport ein propagandistisches Mittel ist und keine Frage des individuellen Enthusiasmus, und denen oft fast jedes Mittel recht ist, um die Überlegenheit des eigenen Systems, des Landes und des Regimes zu beweisen. Aber offenbar scheint es manchen unmittelbar einleuchtend, dass Deutschland im Wettbewerb der Nationen (nicht mal so sehr im Wettbewerb der Systeme, wie in Zeiten des Kalten Krieges) sportlich mithalten muss.
Auch hier stellt sich die Frage: Warum sollte man eigentlich für eine Nation starten, warum sind die Wettbewerbe oder ist die Berichterstattung darüber wesentlich nach Ländern organisiert? Warum gilt uns der völlig ungleiche Wettbewerb zwischen Staaten mit völlig verschiedener Einwohnerzahl, Wirtschaftskraft und sportlicher Tradition als irgendwie sinnvoll? Wieso sehen wir die Position im Medaillenspiegel als Problem des Staats und Gemeinwesens insgesamt? Warum schreibt sich das für viele so leicht, dass „wir“ uns nicht wundern müssen, gegenüber Ländern wie … zurückzubleiben, keine Medaillen in … mehr zu gewinnen, wenn wir so wenig ausgeben, fördern usw.? Das wäre eine zentrale und kritische Frage einer Soziologie des sportlichen Feldes – und einer Soziologie des Staates. Denn dieser, so hat Bourdieu es beschrieben, kann sich in die Einsätze und Gewinnen verschiedener Felder einmischen, deren Wert mitbestimmen, und man kann mit Umweg über den Staat den Wert des eigenen Tuns zu steigern versuchen. Man muss sich das nicht unbedingt als opportunistisches Gewinnstreben vorstellen, sondern als authentischen Ausdruck der ganz fraglosen Haltung, dass die eigene Tätigkeit etwas wert sei, dass das Spiel einen Wert hat, welcher der Allgemeinheit einleuchten müsse. Im Falle des Sports treffen aber verschiedene Sinnzuweisungen aufeinander: nationale Größe, Unterhaltungswert, individuelle Aufopferung sowie der Diskurs über die Legitimität staatlicher Aktivitäten und den Nationalismus.

Fertig sein

Zeitpläne gibt es für Dissertationen und Flughäfen. Ihre einfachste Form ist die Deadline: bis dahin fertig sein. Die komplexere Form teilt die Zeit bis dahin ein, sieht Varianten des Ablaufs vor oder antizipiert Konsequenzen der Einhaltung und Nichteinhaltung (einschließlich Belohnung und Bestrafung und eventuell auch in der Form, dass man sie für sich selbst einführt, sich selbst belohnt und bestraft).

Zeitpläne haben eine deskriptive und eine präskriptive Funktion, also einerseits eine beschreibende, informierende als Prognose, Ankündigung, eine der Orientierung; und andererseits eine vorschreibende als Maßstab, Verpflichtung, eine der Disziplinierung. Sie können vorhersagen oder versprechen. Man kann sich danach richten oder daran halten, mit ihnen rechnen oder sie befolgen. Beide Funktionen schließen sich natürlich nicht aus. Also einerseits sagt man: Ich bin/wir sind bis dahin voraussichtlich fertig, damit ihr’s wisst/dann habe ich noch genug Zeit für XY/dann kann ich in Urlaub fahren/bis dahin reicht mein befristeter Vertrag usw. Man sagt das Ende voraus und kann es dann in andere Planungen einbeziehen. In Bezug auf diese Funktion ärgert man sich im negativen Fall, dass man falsch geschätzt hat. Man hat sich nicht unbedingt verpflichtet, sondern eben nur etwas zur Kenntnis gebracht. Der Zeitplan war aber womöglich uninformativ, irreführend. In der anderen Funktion sagt man: Das muss bis dahin fertig sein, sonst XY. Wobei dieses „sonst“ manchmal reichlich leer ist: Man ärgert sich halt, dass man es nicht geschafft hat. Vielleicht droht aber auch eine Vertragsstrafe. Natürlich sind die Funktionen auch nicht ganz leicht zu trennen: Eine falsche Ankündigung kann einen moralisch unter Druck setzen, und ein nicht eingehaltenes Versprechen muss nicht unbedingt zu einer moralischen Verurteilung führen, wenn man die Machbarkeit ohne Fahrlässigkeit falsch eingeschätzt hat (trotzdem ist ein Versprechen wohl mehr als eine Ankündigung und ein vorschreibender Zeitplan etwas anderes als ein ankündigender).

Die latente Funktion von Zeitplänen scheint aber zu sein, zuverlässig Enttäuschung zu produzieren. Das erscheint widersinnig. Man produziert dann zumindest Fehlinformationen, demonstriert aber vorläufig Kompetenz gegenüber sich und anderen: Man erscheint effizient und schnell, bis zur Widerlegung. Man leidet unter dem Versagen oder dem Irrtum, aber ein straffer Zeitplan wirkt disziplinierender. Enttäuschung scheint der Preis der Beschleunigung und Eindrucksbildung zu sein. Man kann es entweder immer wieder tun und erleben, dass Zeitpläne nicht eingehalten werden, oder die Schlussfolgerung lautet, dass man es nun einmal lernen müsste. Im doppelten Sinne: Es besser wissen (so dass man besser plant) oder es besser können(so dass man schneller wird), genauer vorhersagen können oder besser ausführen können: Erfahrung und Übung.

Die Anforderungen bei Zeitplänen lauten gemeinhin: Nicht nur das Vorhersehbare besser einschätzen, sondern auch das Unvorhersehbare vorhersehen. Nicht nur die Aufgabe besser bewältigen, sondern mit der Zeit selbst besser umgehen.

Wie aber umgehen mit Planabweichungen? Ereignisse bzw. Abläufe (Zeit verbrauchende Geschehnisse und Tätigkeiten) werden entweder selbstverständlich als solche hingenommen, die im Plan enthalten sind, oder fallen als Ausnahmen auf. Bei manchen Plänen ist das recht klar, wie zugeordnet wird, weil sie relativ exakte und vollständige Angaben über den Ablauf enthalten (jedes Ereignis hat aber noch konkretere Ebenen, auf denen es im Plan nicht beschrieben ist, aber so lange alles läuft, ist relativ egal, wie etwas im Detail gemacht wird und muss nicht auf dieser genaueren Ebene geplant werden: Man plant vor dem Schreiben der Dissertation nicht die Tastenanschläge oder jeden einzelnen Gang in die Bibliothek). Andere Pläne enthalten grobe Kategorien bzw. Phasen, oder Platzhalter: unbestimmte Puffer – eine Kategorie für das, was nicht in eine Kategorie passt. Dann muss entschieden werden, ob eine Ereignis noch in den Zeitplan passt, also die vorgesehene Zeit aufbrauchen darf und wie viel davon, oder ob es als Extrazeit gerechnet werden muss. Dann kann man verschiedene Konsequenzen ziehen: Zur Kenntnis nehmen, dass der Zeitplan nicht erfüllt wird und weitermachen. Den Zeitplan ändern. Die Ausführung abbrechen.

Mit besonderer Empfehlung (2)

Was Buchhändler noch so tun. B. Mazon (aus dem ersten Teil) empfiehlt z.B. auch Bücher. Lässt sich eigentlich nicht so einfach delegieren, würde man denken [zum Empfehlen auch schon dies]. Um das beurteilen zu können und um zu wissen, was „empfehlen“ bedeutet, muss man zunächst die übliche soziale Definition davon bestimmen. Die liegt uns freilich nicht auf der Zunge, sondern wir wissen nur praktisch, was empfehlen bedeutet. Offensichtlich geht es um die Nennung eines oder mehrerer Objekte, welche einer angesprochenen Person gefallen könnten. Dabei ist jedoch zunächst zwischen einer gültigen und einer erfolgreichen Empfehlung zu unterscheiden. Damit der Akt des Empfehlens ausgeführt wird, müssen sicher einige Bedingungen erfüllt sein. Man spricht aber nicht nur dann von einer Empfehlung, wenn das Vorgeschlagene wirklich den Angesprochenen gefällt. Man kann sich bei Empfehlungen irren, und es bleiben trotzdem Empfehlungen. Sie sind aber erfolglos darin, den Empfangenden wirklich zu nützen. Man kann aber auch etwas ausführen, was nach einigen Kriterien eine Empfehlung zu sein scheint, aber keine „echte“ oder eben „gültige“ ist. Dies ist z.B. der Fall, wenn man etwas vorschlägt, es einem dabei aber unernst ist, man also bewusst, vielleicht sogar erkennbar etwas nennt, was deutlich am Geschmack der Angesprochenen vorbeigeht (um witzig zu sein, sie zu ärgern, ihnen einen Streich zu spielen, Dritten etwas vorzumachen usw.).

Es gibt dann Grenzfälle, wo man über den nötigen Ernst streiten kann. „Ernst“ in diesem Sinne ist wie bei vielen vergleichbaren Akten eine bestimmte Intention, die vorliegen muss, damit der Akt als gültig angesehen wird. Zumindest muss es ausreichend glaubhaft sein, dass sie vorliegt. So muss man zwecks einer Empfehlung die Absicht haben, etwas zu nennen, von dem man aufrichtig glaubt, dass es der angesprochenen Person gefallen wird. Man kann dann streiten, ob diese Intention von anderen überlagert werden darf oder wie weit sie gehen muss: Muss man ein ernsthaftes Wohlwollen hegen, oder reicht es das, dass man das Gefallen vermutet – nicht um jemandem etwas Gutes zu tun, sondern um eines eigenen Vorteils willen. B. empfiehlt z.B. Bücher mit dem Zweck, dass die Leute sie kaufen. Offensichtlich geht das besser, wenn man solche Bücher vorschlägt, welche den Leuten gefallen. Man könnte in einem Extremfall argumentieren, Wohlwollen oder zumindest der aufrichtige Wunsch, der Klientel zu nützen, gehe eine harmonische Verbindung mit dem Geschäftssinn ein. Oder aber auf der anderen Seite, das Profitstreben überlagere jedes echte Wohlwollen. Vielleicht würde man im zweiten Fall eher von „Aufschwatzen“ reden, vor allem wenn nicht der wohlverstandene Nutzen der anderen im Vordergrund steht, sondern vor allem der Absatz, und wenn deren Entscheidungsfreiheit wenig zählt (Empfehlen geht dann in Andrehen, Suggestion u.Ä. über; es gibt auch Fälle, wo es in Befehlen oder Erpressen übergeht: ein Angebot, dass man nicht ablehnen kann…).

Die vorgeschlagenen Bücher müssen für eine gültige Empfehlung also mit einer Absicht ausgewählt werden und dürfen in diesem Sinne nicht beliebig sein. Nicht jede Nennung ist also natürlich eine Empfehlung, selbst wenn das Genannte gefallen sollte. Bei einer sonst regelgerechten Empfehlung dürfen die genannten Objekte womöglich sogar „beliebig“ oder zufällig sein, wenn die Ansicht besteht, gerade durch diese Auswahl der angesprochenen Person besonders zu nützen. Sie möchte vielleicht gerade völlig unerwartet und unkontrolliert auf Neues gestoßen werden, überrascht werden. Das markiert freilich ebenfalls eine Grenze der gültigen Empfehlungen. Und gültige Empfehlungen stellen nicht automatisch erfolgreiche dar, sondern das kommt auf die Fähigkeiten der Empfehlenden an („Menschenkenntnis“ und einen ausreichenden Überblick über den Markt, um geeignete Bücher überhaupt zu kennen).

Man kann nun das Empfehlen, wie im ersten Teil das Schenken, an andere Personen delegieren. B. weist ihren Mitarbeiter an, Personen Bücher vorzuschlagen, die diese mögen könnten. Was aber, wenn man dies an eine technische Apparatur delegieren möchte, z.B. ein Computersystem (mit Hardware, Datenstrukturen und Algorithmen)? Nehmen wir als Beispiel einen Online-Buchhändler, A. Mazon, und befragen wir die Sprache: Was kann man über ein technisches Empfehlungssystem sagen? Durchaus ja, dass A. einem Bücher empfiehlt. Man kann zunächst das Unternehmen als Ganzes als Handelndes sehen, wie eine einheitliche Person, die empfiehlt. Aber wenn man letztlich diejenigen Personen identifiziert hat, die darüber entschieden haben, Empfehlungen abgeben zu wollen, kann man im einzelnen, konkreten Fall nicht sagen, dass die betreffenden Entscheidungsträger empfehlen – genau mir jetzt genau dieses Buch. Niemand im Unternehmen hat beschlossen, mir das jetzt zu empfehlen. Und auch niemand im Unternehmen ist die Person, die das jetzt gerade wissentlich und absichtlich ausführt. Man kann aber sagen, „das Unternehmen“ empfiehlt, wenn man seine technischen System dazu zählt. Man sagt vielleicht durchaus: A. hat mir eben dieses Buch empfohlen? Die Nachfrage: „Wer im Unternehmen A. war das denn?“, wäre aber natürlich Unsinn, obwohl das in anderen Fällen ginge („Wer in der Buchhandlung B. um die Ecke hat dir denn das Buch empfohlen?“). Was Technik tut, kann also offenbar zum Handeln von Unternehmen gezählt werden.

Die Entscheidungsbefugten in einer Organisation müssen also nicht jedes Mal die Intention haben, etwas zu empfehlen, sondern nur den Typus der Handlung (das Empfehlen) festlegen, und die Regel, unter welchen Bedingungen das geschehen soll, damit man verallgemeinernd sagen kann, das Unternehmen empfehle. Wenn nun diese Handlung mittels technischer Systeme ausgeführt werden soll, so müssen genau diese Regeln implementiert werden: die Bedingung, wann empfohlen werden soll, und eine bestimmte Vorgehensweise, welche eine selektive Konkretisierung der Definition des Empfehlens ist. Durch Befolgung dieser Regeln tut nun das System etwas, was von den Verantwortlichen als Empfehlen verstanden wird und von der Klientel (hoffentlich) als Empfehlen akzeptiert wird – ansonsten bleibt es nur die Auflistung beliebiger Bücher. Bzw. das Auflisten von irgendwas ohne Bedeutung, denn für das System ist das gleichgültig, was es auflistet, und natürlich auch zu welchem Zweck. „Empfehlen von Büchern“ wird es erst dadurch, dass die entscheidenden Leute das so verstehen. Die einzelne „Handlung“ des Empfehlens entzieht sich dann der jedesmaligen genauen Kenntnis der Verantwortlichen – zumindest wenn sie ökonomisch denken und nicht vor dem Rechner sitzend jeden Vorgang genau nachvollziehen. Sie haben die abstrakte Absicht zu empfehlen und die Maschinerie führt das im Einzelfall konkret aus. Wir haben es also mit einer Trennung von intentionstragenden Verantwortlichen und „Ausführenden“ zu tun, wo letztere nicht einmal die Absicht zur Ausführung haben müssen – sie wissen nicht im menschlichen Sinne, was sie tun (zumindest geht man landläufig davon aus). Und wir haben mit der Unterscheidung zu tun zwischen Typus einer Handlung, ihrer Implementierung in Algorithmen, die mittels bestimmter Datenstrukturen auf bestimmter Hardware laufen, und der jeweiligen Ausführung, bei der bestimmte spezifische Daten verarbeitet und erzeugt werden: die Daten, auf denen die Empfehlung beruht und die Liste der empfohlenen Bücher. Dabei ist dann noch zu unterscheiden zwischen all diesem technischen Geschehen mitsamt den Daten einerseits, und der Bedeutung andererseits, die das hat bzw. haben soll: eine ernsthafte, „gültige“ Empfehlung, hoffentlich sogar eine erfolgreiche.

Warum sagt man aber nun trotzdem, das Computersystem von A. „empfehle“, wenn es denn nun keine Ahnung hat, was das bedeutet, und keine Intention? Es gibt da ja zwei soziologische Extrempositionen. Die eine: Technik handelt nicht, weil das Geschehen für die technischen Apparaturen keinen Sinn ergibt; und die andere: Was Technik tut, kann bedenkenlos als Handeln bezeichnet werden, denn schließlich ersetzt Technik da menschliches Tun – somit ist es erkenntnisfördernd und unsentimental, das dann einfach auch als Handlung zu beschreiben und sich wichtigeren Fragen zuzuwenden, statt über die Vergleichbarkeit von Menschen und Maschinen zu sinnieren.

Wie nimmt man es nun wahr, wenn sich bei A. was empfehlen lässt? Der erste Teil der Beschreibung oder Erklärung besteht darin, dass man Ausführenden ganz oft die „ganze“ Handlung zuschreibt, auch wenn sie nicht selbst darüber entscheiden oder gar keine rechte Ahnung haben, was sie da tun. Man blendet die Auftraggebenden, Intentionen Tragenden, Entscheidenden aus, widmet sich ganz der konkreten Umsetzung und beschreibt sie in Begriffen, die eigentlich „zu groß“ sind. Eigentlich würde nämlich die Bezeichnung für eine Handlung definitionsgemäß oft mehr implizieren, als die Ausführenden tun. Das Computersystem spuckt ja eben nur eine Liste mit ein paar warmen Worten aus, es fehlt ihm aber die Intention.

Der zweite, leicht unterschiedliche Teil der Erklärung besagt, dass man etwas als eine Handlung eines bestimmten Typs beschreibt, wenn bestimmte äußerliche Anzeichen vorliegen, ohne dass alle definitionsgemäßen Kriterien erfüllt sind. Man überprüft ja auch im Alltag nicht immer genau, ob die Leute es ganz und gar so meinen, wie sie sagen, welche Intention sie haben, ob auch diejenigen Teile ausgeführt wurden, die man nicht zu Gesicht bekommt, usw. Man nimmt es einfach an, erwartet es, setzt es voraus. Eine solche Zuschreibung reicht für die alltägliche Praxis vollkommen aus und würde nicht eigentlich als „falsch“ bezeichnet. Jemand nennt Bücher („die könntest du mal lesen“), und man forscht dann nicht mehr so genau nach, ob das wirklich als Empfehlung gemeint ist oder was die wahre Absicht ist. Man ordnet das einfach spontan so ein, wenn nichts Offensichtliches dagegen spricht. Wenn nun eine Website eine Liste ausgibt mit dem Hinweis, „das könnte Ihnen gefallen“, dann reflektiert man nur in Ausnahmefällen, ob das nun im vollgültigen Sinne eine Empfehlung ist, welche Intentionen ob und bei wem (oder bei „was“) dahinter stecken. Man sortiert das einfach als Empfehlung ein und schaut sie sich mit mehr oder weniger oder ohne Interesse an. Das gute an solchen „unpersönlichen“ Empfehlungen, so passend oder unpassend sie auch sind, ist nämlich dann doch, dass man sich nicht aus einem Verkaufsgespräch mit einem lebenden Gegenüber herauswinden muss oder gegenüber wohlmeinenden Personen Interesse heucheln.

Mit besonderer Empfehlung (1)

Nehmen wir an, die Buchhändlerin B. Mazon weist ihren Angestellten an, zu jedem verkauften Buch einen kleinen Schokoladenweihnachtsmann dazu zu schenken (Ich habe diesen Beitrag vor Weihnachten angefangen und dann blieb er liegen. Der Weihnachtsbezug ist aber unbedeutend). Man würde also sagen: „B. verschenkt Weihnachtsmänner.“ In gewissem Sinne auch: „Der Angestellte verschenkt Weihnachtsmänner.“ Er hat zwar keinen Ermessensspielraum und keinen Besitz an den Figuren, aber die Vollmacht, den Besitz seiner Chefin herauszugeben. Er hat auch die Intention zu schenken (es ließe sich ein Fall denken, wo man das nicht sagen kann: Der Angestellte wäre z.B. angewiesen, auf ein Zeichen der Buchhändlerin hin einen Weihnachtsmann in Tüten für die Einkaufenden zu packen, ohne dass er mitbekommt, ob diese für die Schokolade bezahlt haben. Der Angestellte würde sie also nur „überreichen“ oder eben „dazu packen“, nicht aber „verschenken“ oder „verkaufen“ – zum Verschenken gehört also ein Wissen um die Eigentumsverhältnisse und die Möglichkeit oder Erlaubnis, über Eigentum zu verfügen). Letztlich muss sich der Angestellte immer wieder selbst vergegenwärtigen, dass er die Weihnachtsmänner hergeben kann und soll, und er könnte es auch unterlassen, wenn auch um den Preis, die Anweisung seiner Chefin zu missachten. Es muss also tatsächlich eine Intention seinerseits vorliegen, damit es sich bei seiner Tätigkeit um „Schenken“ handelt. Einfach unwissentlich das Eigentum anderer verschleudern ist nicht. Umgekehrt ist es kein Verschenken, wenn die Absicht der Buchhändlerin nicht umgesetzt wird: B. will Schokolade verschenken (will nur, tut es aber nicht), aber der Angestellte hat die Anweisung nicht verstanden, vergessen; die Weihnachtsmänner sind, als er sie verschenken will, verschwunden, usw. Das sind einige der Regeln, wie Verschenken als gesellschaftlich typisierte Handlung definiert ist und wie man sie ausführen kann.

Tun nun B. und ihr Angestellter dasselbe, da sie ja beide „schenken“? (Man kann auch noch sagen: „Die Buchhandlung ‚B. Mazon‘ verschenkt Weihnachtsmänner.“ Wir lassen das beiseite.) Dem Wort nach durchaus. „Dasselbe“ kann aber zweierlei heißen (und man komme hier nicht mit Spitzfindigkeiten wie der Unterscheidung von „das selbe“ und „das gleiche“, denn das funktioniert hier nicht so ohne Weiteres, wie z.B. bei Kuchen, wo man nur den gleichen essen kann, aber nicht den selben). Entweder, sie führen einen identischen Typus von Akt aus: Verschenken, gemäß seiner Definition. Offenbar ist das der Fall: Man kann von beiden definitionsgemäß sagen, dass sie verschenken. Aber nicht getrennt!: Man kann nicht sagen, dass B. was verschenkt, und außerdem der Angestellt auch noch. Denn sie verschenken je das selbe. Kann man nun aber sagen, sie arbeiteten am gleichen momentanen Akt mit, so wie Herr K., Frau L. und Herr M. ein Trio aufführen (alleine kann man kein Trio aufführen, und es wird dann nur einmal aufgeführt, durch drei Personen natürlich)? Ganz so ist es auch nicht: Wenn nun der Angestellte gerade einen Weihnachtsmann verschenkt, muss B. gar nicht da sein. Sie ist an diesem einen Akt überhaupt nicht beteiligt. Es würde konstruiert wirken, würde man sagen: Sie verschenkt gerade Schokolade an jemanden in ihrer Buchhandlung, wenn sie etwa auf der Buchmesse ist. Und wenn B. diese Woche Schokolade verschenkt, dann z.B. fünfzig mal. Aber sie hatte vorher nicht unbedingt die Absicht, fünfzig Mal Weihnachtsmänner zu verschenken, sondern nur überhaupt welche zu verschenken – „einmal“, nämlich diese Woche über (und nicht unbedingt jedes Jahr oder das ganze Jahr über), oder „so oft, wie es sich ergibt“, oder „höchstens zweihundert Stück“. Der Angestellt verschenkt aber fünfzig Mal je einen Weihnachtsmann. Und damit hat B. am Ende effektiv fünfzig verschenkt.

Das vorab intendierte „Verschenken“ durch B. ist im Gegensatz zum Verschenken durch den Angestellten kein einzelner konkreter Akt, sondern eine abstrakte Intention, die nur einen Typus spezifiziert (dass etwas geschehen soll vom Typ des Verschenkens, man sich aber noch nicht auf konkrete Ereignisse bezieht). Sie muss nicht einmal verwirklicht werden. Vgl. die Beschreibung einer Gewohnheit: C. nimmt (immer, gewöhnlich etc.) Milch und Zucker zum Tee. Eine solche Regel setzt ihre Verwirklichung voraus. Im Falle des Verschenkens ist auch nur ein Typ einer Handlung gemeint, aber nicht so sehr als beobachtete Regelmäßigkeit, sondern als Regel. Die Spezifikation von B.s Intention verlangt auch die Befolgung einer Regel: Immer wenn jemand ein Buch kauft… Die nähere Spezifikation, wie das Ereignis je vonstatten geht, obliegt aber dem Angestellten. B. legt nur die Bedingung und den Typus fest, der Angestellte muss das ausgestalten. Die Bedingungen sind immer unvollständig. Er kann durch bestimmte Sachverhalte vom Verschenken abgehalten werden, aber diese Bedingungen sind negativ formuliert, im Gegensatz zu B.s Bedingung: Er verschenkt Schokolade, wenn sich die zu Beschenkenden nicht weigern, beschenkt zu werden, die Weihnachtsmänner nicht ausgehen usw. Die Bedingungen sind nicht aufzählbar – es ist praktisch immer noch ein weiterer Grund denkbar, warum die Intention nicht verwirklicht wird. Aber trotz ihrer Abstraktheit muss eine ausreichend klare Bedingung angegeben werden, da sonst das Eintreten der Einzelhandlung nicht feststeht und man diese nicht mehr auf B.s Intention zurückführen kann.

Was B. tut, kann auf verschiedene Art beschrieben werden: Verschenken als allgemeine Absicht (die sie hat oder hatte) und als faktisches Verschenken (das man aber erst hinterher beschreiben kann). Als ein Akt (das Verschenken im Rahmen dieser Aktion) oder als eine Vielzahl von Einzelakten (das jeweilige Verschenken an einzelne Personen). Auch der Einzelakt könnte wieder in Einzelakte zerlegt werden, etwa das Überreichen, die Aussage, dass es sich um ein Geschenk handelt, usw. Diese Akte können aber nicht wieder als Verschenken bezeichnet werden. Sie sind raumzeitlich relativ klar festgelegt (jetzt oder nie). Aber selbst die Intention zu den Einzelakten muss in Teilen abstrakt bleiben, da sie nie alle Details vorwegnehmen kann, selbst wenn sie bereits spezifiziert wurde (z.B. dieser Person jetzt diesen Weihnachtsmann schenken – man weiß aber nicht, in welcher Höhe die Person z.B. ihre Hand halten wird, wenn man ihr den Weihnachtsmann übergeben will).

Man könnte aber nicht ohne Weiteres sagen, dass B. gerade einen Weihnachtsmann verschenkt hat, wenn sie gar nicht beteiligt war, aber der Angestellt gerade einen ausgehändigt hat. Man kann höchstens die Summe der Verwirklichungen ihrer Absicht benennen: Sie hat am Ende fünfzig verschenkt. Auch vom Angestellten kann man das sagen. Umgekehrt ist es bei ihm schwieriger, vorab zu sagen, er habe die Absicht, in dieser Woche Weihnachtsmänner zu verschenken. Er hat vielleicht die Absicht, auszuführen, was seine Chefin ihm aufgetragen hat, aber er hat nicht so sehr den Entschluss gefasst, überhaupt Weihnachtsmänner zu verschenken (die Intention, dass Weihnachtsmänner verschenkt werden sollen), sondern hat jedes Mal die Absicht, wenn er es denn im Einzelfall tut, undvorab vielleicht die Absicht, es jedes mal zu tun (die Intention, nun oder zu gegebener Zeit einen Weihnachtsmann zu verschenken, um das von ihn Erwartete zu tun). (Man muss sich diese Absicht im Einzelfall nicht so vorstellen, dass er sich das ganz bewusst vornimmt. Aber wenn man ihn z.B. unterbricht und fragt, was er vorhat, so wird er angeben, er wolle…)

Es gibt also 1. die allgemeine Regel, wie man verschenkt (wie Verschenken definiert ist), dann 2.eine tatsächliche Inkraftsetzung einer spezielleren Regel, unter welchen Bedingungen man etwas verschenkt, oder die generelle Absicht zur Befolgung einer Regel, dass man etwas verschenken will, einmal oder mehrfach (also die Intention, dass…; man „hat etwas zu verschenken“), 3. die Absicht, eine Anweisung zu befolgen (mit welcher man die Intention einer anderen Person ausführt – auch eine Intention, dass…, aber dass man verschenkt und damit die Anweisung befolgt), und schließlich 4. die konkrete einzelne oder mehrfache Umsetzung des Verschenkens gemäß bestimmter Regeln (jeweils gerade etwas tun mit der Intention, etwas zu verschenken; man hat dann anschließend etwas verschenkt, was bei unerfüllten Absichten und nie eintreffenden nicht der Fall ist). Wenn nur die einmalige oder jedesmalige Umsetzung einer ausreichend klaren Regel delegiert wird, können die Delegierenden noch von sich sagen, sie hätten verschenkt. In den anderen Fällen wäre diese Redeweise ein wenig seltsam. Wenn nämlich die Eigentümerin einer anderen Person die Entscheidung überlässt, sie an sie delegiert, dann sieht es anders aus: Man würde wohl nicht mehr so recht sagen, die Eigentümerin verschenke im strengen Sinne oder habe verschenkt, habe dazu die eigentliche Absicht gehabt und/oder habe anschließend verschenkt. Man könnte so etwas formulieren, aber es wäre ein Grenzfall.

(Fortsetzung folgt, in welcher wir dann anschauen, wie sich das Verhält, wenn man nicht an eine Person, sondern an Technik delegiert.)

Unter Vernachlässigung der Zeit

„Le passé et le présent sont nos moyens ; le seul avenir est notre fin. Ainsi nous ne vivons jamais, mais nous espérons de vivre, et nous disposant toujours à être heureux il est inévitable que nous ne le soyons jamais.“
(Blaise Pascal, „Pensées“)

Man kann Soziologie unter relativer Vernachlässigung der Zeit betreiben – eine Idealisierung, wie sie auch Naturwissenschaftler vornehmen, wenn sie von bestimmten Einflüssen absehen, oder die Mathematik, wenn sie die Geltung eines Satzes feststellt, unabhängig davon, zu welcher Zeit und zu welchem Ort jemand über den Satz oder seinen Beweis nachdenkt: logische Schlussfolgerung unter Absehung von der Denkzeit und komplette Reversibilität der Operationen (man addiert etwas dazu und zieht es wieder ab oder andersherum, als wäre nichts geschehen). Man kann sich z.B. in den Sozialwissenschaften etwa Zusammenhänge so vorstellen, dass sie unabhängig von konkreten Fällen immer gelten („soziale Gesetze“ sehr analog zu Naturgesetzen also). Oder man kann soziale Sachverhalte als statisch annehmen, gar als zeitlose Archetypen. „Die Arbeiterklasse“ wäre dann z.B. eine universelle Kategorie, der jede Person zu allen Zeiten entweder zugehört oder nicht. Man kann das natürlich blöd finden und der Meinung sein, eine Klasse entstehe erst historisch und die Zugehörigkeit müsse sich in konkreten Augenblicken aktualisieren (wo man sich „arbeiterlich“ verhält oder so behandelt wird), und es gebe keine allgemeinen sozialen Gesetze. Aber Zeit ist zunächst keine zwingende Dimension jeglicher Analyse.

Allerdings wäre ein ganzes menschliches Leben besonders sinnlos unter Absehung von der Zeit, wenn man sich die Summe der Lebensereignisse so vorstellt, dass sie sich gegenseitig aufheben, oder ungeordnet nebeneinander liegen. Gewiss, was man aufgebaut hat, geht irgendwann nieder (aber es ist ein Unterschied, ob sofort oder später), aber in einer Sammlung zeitloser Fakten ist keine Richtung erkennbar, in die man gestrebt hat oder in der das eine auf dem anderen aufbaut, im Positiven wie im Negativen. Die Unumkehrbarkeit und teilweise Gerichtetheit des Lebens, zusammen mit der Momenthaftigkeit und der Veränderlichkeit oder Stabilität sozialer Sachverhalte sprechen dann doch für die Berücksichtigung der Zeit.

Aber die Gesellschaft selbst arbeitet häufig genug mit Fiktionen der Dauer oder der Zeitlosigkeit oder erzwingt die beliebige Aktualisierbarkeit eines Sachverhalts. Zum Beispiel im Rechtssystem: So lange eine Körperschaft nicht rechtsgültig aufgelöst ist, kann man noch allerhand verlangen, obwohl niemand mehr von sich aus aktiv wird. Oder allgemeiner: Bis zum Vollzug eines bestimmten Akts wird der vorherige Zustand als fortgeltend angenommen, obwohl alle wesentlichen Beteiligten sich bereits an einem anderen Zustand orientieren wollen (viele Sachverhalte treten darum sofort mit einer Willenserklärung ein, andere aber eben erst auf Antrag, nach einer Feststellung, mit einer Frist usw.). Sachverhalte, die es eigentlich nicht gibt, weil sich niemand mehr so recht entsprechend verhält, bleiben aktuell und können mittels einer Norm verpflichtend wiederweckt werden, haben eine eigentümliche Stabilität jenseits ihrer Nichtexistenz in aktuellem Handeln.

Eine andere Vernachlässigung der Zeit besteht auch darin, dass eine Zeitspanne neutralisiert wird: Im Normalfall nimmt man an, dass falsche Anklagen keinen Schaden anrichten, weil man ja rechtsgültig freigesprochen werden kann. Die Falschbehauptung ist also vollkommen reversibel durch eine richtige Feststellung. Im Grenzfall zählt der Zeitaufwand nichts. Hier ist aber zu unterscheiden von Juristen als Gesetzesauslegern („rein rechtlich“ ist es so), und Juristen als Taktikern: Sie wissen durchaus, dass man Leuten mit Verzögerungen und Falschaussagen schädigen kann. Je nach Situation schlüpfen Juristen in verschiedene Rollen: Sie pochen auf schnelle Entscheidungen oder schinden Zeit. Manche geben sich manchmal naiv, wenn man beklagt, dass eine bestimmte Vorgehensweise z.B. von Strafverfolgungsbehörden zu vielen falschen Verdächtigungen führen können: Es wird sich ja dann herausstellen, dass die Leute zu Unrecht beschuldigt wurden! Andere wiederum sind hier sehr sensibel. Usw.

Weil aber Schaden entstehen kann, reagiert das Recht wieder auf einer zweiten Ebene, indem es verbietet, wissentlich falsche Beschuldigungen vorzubringen oder Verfahren übermäßig zu verzögern (Zeit ist auf dieser Ebene dann doch nicht vollständig zu neutralisieren). Auf dieser Ebene kann es allerdings dann wiederum sein, dass einfach nur festgestellt wird, dass eine Schädigung vorlag und zu unterlassen sei. Paradoxerweise kann das wieder unter der Fiktion der Reversibilität geschehen: Es ist ja nun festgestellt, dass das rechtswidrig war, womit der Verstoß getilgt ist, ohne weitere Konsequenzen. Erst auf noch einer weiteren Ebene kann dann festgestellt werden, dass das schädigende Verhalten nicht nur erwiesenermaßen vorkam und unwidersprochen im Raum stand, sondern dass diese Zeit durch die Feststellung nicht einfach verschwindet. Die Schädigung verlangt also unter Umständen nach Kompensation, aber nicht in allen Fällen ist das vorgesehen. Wir sehen also einen Übergang von der Denkweise (1. Ebene), wonach „Fehler“ im weitesten Sinne vollständig reversibel sind, also gleichsam zeitneutral durch ihre Feststellung beseitigt werden, über die Denkweise (2. Ebene), dass Falsches deutlich schädigen kann, was durch die Feststellung der Schädigung (als Fehler) behoben werden kann, zur Denkweise (3. Ebene), dass Schäden in einer durchlebten „schlechten Zeit“ oder irreversiblen Nachteilen bestehen können, dass sie aber gerade wieder durch anderweitige Vorteile oder Umverteilungen behoben werden können.

Auch in anderen Fällen würde man sich vielleicht nach einer kompletten Reversibilität sehnen, dass Sachverhalte ganz und gar aufgehoben werden können wie Plus und Minus sich aufheben. Mit der Scheidung kann man nicht aus der Welt schaffen, dass man soundso viele Jahre verheiratet war, so sehr man diesen Akt subjektiv auch an ein Ungeschehenmachen, eine Art Ritual des Vergessens, Austilgens usw. anähnelt. Juristisch ist Heirat reversibel, sozial niemals ganz.

Das Aufschreiben von Forschung ist selbst ein idealisierte Fiktion unter Vernachlässigung der Zeit. Niemand berichtet den wirklichen Ablauf einer Studie, zumindest nicht im Rahmen gängiger wissenschaftlicher Publikationen: „Ich unterhielt mich mit X., ob es nicht plausibel wäre, dass… Darauf sagte sie… Nachdem ich den Fragebogen entwickelt hatte, fiel mir noch die Studie von Y. in die Hände…“ Die „Zeit“ einer wissenschaftlichen Publikation ist eine idealisierte, eine Fiktion des idealen Forschungsprozesses (oder analog bei Lehrbüchern und Überblicks- bzw. Theoriewerken: eine didaktisch geeignete Reihung von Aussagen, die historisch womöglich in ganz anderer Abfolge geäußert und – davon noch einmal zu unterscheiden – entwickelt wurden).

Besonders interessant wird es auch, wenn die Wissenschaft praktisch wird und die Zeitlosigkeit (die man als Abstraktionsleistung oder Zeitvergessenheit betrachten kann) mancher Theorien in die außerwissenschaftliche Tätigkeit eingeht. Klassische ökonomische Theorie geht etwa davon aus, dass Märkte in unendlich kurzer Zeit reagieren, oder dass man sich zumindest darauf konzentrieren kann, Marktergebnisse zu beschreiben, wie sie früher oder später gewiss eintreten (wie früh oder spät ist dabei nicht sonderlich von Belang). Ein Unternehmen stünde etwa auf einem Markt als alleiniger Anbieter da – nehmen wir an, nicht einmal aufgrund besonderer Leistung, sondern weil sich die Konkurrenz, die auch nicht sonderlich zahlreich war, besonders dumm angestellt hat. Eine theoretisch informierte Wirtschaftspolitik würde dann, womöglich zu Recht, annehmen, dass früher oder später dem Unternehmen wieder Konkurrenz entstehen müsste, wenn es denn gar nicht so effizient und geschickt wirtschaftet. Man kann daraus schlussfolgern, dass Märkte, auf denen prinzipiell Konkurrenz denkbar ist, keiner Eingriffe bedürfen, auch wenn die Konkurrenz vorläufig auf sich warten lässt (denn die muss sich ja erstmal formieren, und das dauert je nach Branche). Man kann dann darüber streiten, ob sie früher oder später eintritt. Im Zweifelsfall glaubt der (zeitweilige) Monopolist an einen späteren Zeitpunkt, die Wirtschaftspolitik oder Regulierungsbehörde an einen frühen, und der Monopolist kassiert in der (theoretisch vernachlässigten) Zwischenzeit die Profite seines Monopolistendaseins. Entweder um dann doch eher früh der Konkurrenz nachgeben zu müssen, gar draufzugehen, weil er zu spät merkt, welche Konkurrenz im erwächst, oder um eben zwischenzeitlich die Kunden, Lieferanten und wen sonst noch gründlich auszunehmen. Die Steigerung dieser Theorie wäre (oder ist), sich mit den jeweiligen marktbeherrschenden Konzernen anzufreunden, weil sie ja doch dereinst durch andere (oder durch eine andere Marktform) abgelöst werden. IBM, Microsoft, Google, Facebook usw. waren und sind dann nur halb so schlimm, weil ihre Herrschaft nicht ewig währt, weil ja die Branche so eine ungemein schnelllebige sei. Für das schnelle Leben der Kunden oder anderer Geschäftspartner dann aber oft doch nicht schnelllebig genug, wenn man über mehrere Gerätegenerationen und Softwareversionen hinweg mit diesen Firmen leben muss. Langfristig, oder unter Vernachlässigung der Zeit, hatten sie dann keine Vormachtstellung mehr bzw. werden womöglich keine mehr haben. (An dieser Stelle möge sich jede und jeder an den Ausspruch von Keynes zur langfristigen Entwicklung von Märkten erinnern oder diesen googeln – ich meine natürlich: mit einer Suchmaschine eigener Wahl suchen.)

Auch das sorgenfreie Reden über Kulturen, Nationen und Traditionen kann leicht in eine Zeitvergessenheit geraten. Denn wenn schon Menschen in ihrem Leben wankelmütig, beeinflussbar und streitlustig sind, und so den Charakter herrschender Vorstellungen, Wertungen und Praktiken verändern, dann ist zusätzlich noch in Rechnung zu stellen, dass längerfristige Stabilität sogar bedeutet, dass diese Haltungen auch die Generationengrenzen und den biologischen Austausch der Bevölkerung überspringen müssen: „Ohne die Annahme einer Massenpsyche, einer Kontinuität im Gefühlsleben der Menschen, welche gestattet, sich über die Unterbrechungen der seelischen Akte durch das Vergehen der Individuen hinwegzusetzen, kann die Völkerpsychologie nicht bestehen“, schrieb Freud in „Totem und Tabu“. Und obwohl er darauf verwies, „daß keine Generation imstande ist, bedeutsame seelische Vorgänge vor der nächsten zu verbergen“, war er doch so beeindruckt von der Kontinuität, dass er befand: „Ein Teil der Aufgabe scheint durch die Vererbung psychischer Dispositionen besorgt zu werden“ (und das diskutiert er anhand von Schuldgefühlen anlässlich historischer Untaten, nicht anhand natürlich variierender Persönlichkeiitsmerkmale!). Gerade wenn man diese Annahme nicht teilt, muss man sich ja umso mehr wundern, wie wir so etwas wie Konstanz in einem – wie man früher gesagt hätte – „Nationalcharakter“, oder in einer Kultur beobachten kann. Die Schlussfolgerung daraus kann wiederum zweierlei sein: Sich bewusst zu machen, dass diese Konstanz, die man zu beobachten bzw. ohnehin schon zu kennen glaubt, eine Illusion sein könnte, oder gerade erstaunt nachzuforschen, wie solche gesellschaftliche Stabilität überhaupt denkbar ist, statt sie als selbstverständlich hinzunehmen.

Auch bei anderen sozialen Formen werden wir verleitet, eine Stabilität anzunehmen, die erst geprüft werden muss und erklärungsbedürftig ist: Gebäude, Erkennungszeichen und Namensschilder lassen uns denken, es sei selbstverständlich, dass eine Kontinuität zwischen verschiedenen Zuständen von Organisationen gebe, dass überhaupt Organisationen sozusagen Dinge sei, die feststehen und in einem dauerhaften Zustand überhaupt sind. Je nach Beschreibung stimmt das natürlich: Die Soundso AG muss die Schulden begleichen, die unter ihrem Namen gemacht wurden, ganz gleich ob die Verantwortlichen, das Geschäftsfeld, der Firmensitz, das Logo usw. vollständig ausgewechselt wurden. Gemäß realer juristischer Fiktion ist die AG im Zustand des Verschuldetseins. Dabei kann „das Unternehmen“ oder können diejenigen, die in seinem Namen handeln, heute so und morgen anders handeln. Die Organisation muss sich im Moment „beweisen“: Stell dir vor, es gibt Arbeit und niemand geht hin! Geld ist bekanntlich die gängigste Lösung des Problems, Leute zum zuverlässigen „organisierten“ Handeln zu bewegen, und zwar auch zu abrupten Änderungen der Arbeitsweise auf Anweisung. Außerdem erhalten sich Handlungsmuster und andere Haltungen selbst über Auswechselung des Personals hinweg infolge einer kettenförmigen Weitergabe (durch explizite Belehrung, Lernen am Vorbild und andere Beeinflussung). So entstehen so etwas wie dauerhafte Eigenschaft des Dings „Organisation“, die eigentlich kein Ding ist, sondern in Momente zerfällt; so entsteht, was man so Unternehmenskultur, Strategie, Identität einer Organisation usw. nennt.

Soziale Phänomene sind dem Menschen als zeitlichem Wesen angepasst: Sie sind zeitlich entfaltet und müssen sich noch mehr als Menschenleiber und -erinnerungen ihre Stabilität ständig erarbeiten. Was sie natürlich nicht hindert, sehr stabil zu sein (ein andermal aber abrupt umzubrechen). Aber sie schauen sich andere Formen der Zeitlichkeit bei anderen Sachverhalten ab. Sie verwandeln sich in Dinge, die so lange bestehen, bis sie willentlich zerstört werden. Oder sie sind so reversibel wie logische und mathematische Operationen. Fiktionen der Zeitlosigkeit, welche das Soziale handhabbar machen (es hängt nicht von der aktuellen Lust ab, ob etwas zuverlässig geschieht oder nicht; man hadert nicht mit der Unumkehrbarkeit eines Nachteils, sondern versucht ihn immerhin irgendwie zu kompensieren, usw.). Und dieser Beitrag ist selbst ein Kunststück in der Verschlingung und Verkürzung der Zeit, damit ihr nicht meine wirren Gedanken in der Reihenfolge ihres Auftauchens durcharbeiten müsst.

Unvorstellbar

Ein Vorstellungsgespräch ist paradoxes Spiel: Man möchte gerne die Wahrheit über den Bewerber oder die Bewerberin erfahren, sie aufrichtig und unverstellt erleben, erwartet jedoch eine positiv-verzerrte Selbstdarstellung. Ja man würde, so ist heute die klare Tendenz, niemanden einstellen, der aus sich heraus oder gar auch auf die entsprechende Frage („Was sind Ihre größten Schwächen?“) hin seine Schwächen wirklich darlegen würde. Beide Seiten wissen das, und wissen, dass sie es wissen usw. Man hofft, dieser Paradoxie zu entgehen, indem man einerseits auf nicht bewusst steuerbare Signale wartet (bzw. auf die „Menschenkenntnis“ der Personaler vertraut, oder Situationen schafft, bei denen sich die Bewerber gar nicht vollständig, und schon gar nicht über eine gesamte längere Zeit in höchsten Maße selbst kontrollieren können, wie in den dann wiederum höchst artifiziellen Assessment Centern). Bzw. man stützt sich auf Informationen, die nicht mehr beliebig selektiv zurückgehalten und frisiert werden können (der Lebenslauf muss schließlich lückenlos sein und kann nicht mehr einfach so verändert werden, dass er den Anforderungen entspricht). Andererseits ist man dazu verdammt, die Selbstdarstellungskompetenz als Zeichen anderer, der ja eigentlich gesuchten Kompetenzen zu nehmen, mit den bekannten manchmal desaströsen Ergebnissen. Die Aufforderung des Bewerbungsgesprächs lautet also: Sei unaufrichtig, aber das nach besten Kräften, und nicht so, dass man dich eines Schwindels überführen kann, und außerdem wissen wir ja ganz genau, dass du unaufrichtig sein wirst, wir wollen dich aber zu Aufrichtigkeit zwingen, aber das weißt du ja auch, usw. Letztlich führt das zu einem Wettrüsten zwischen den Personalern, die immer seltsamere, unerwartete Fragen und Aufgabenstellungen für die Applikanten erfinden müssen, die dann oft umso gezwungener und lächerlicher wirken, und den Bewerbern, die sich mit Ratgebern und Ähnlichem auf genau diese Fragen und Aufgaben vorbereiten. Nur ein „Bodensatz“ von Nichteingeweihten verhält sich einigermaßen aufrichtig, und hat darum keine Chance – die bedauernswerten Verlierer dieses paradoxen Spiels. Man könnte das Bewerbungsgespräch ja mit Leichtigkeit als absurdes Theater in einem sehr strengen Sinne ansehen und sogar im Gespräch selbst als solches bezeichnen. Man könnte die perfide doppelte Abhängigkeit (ich weiß, dass du weißt, dass ich weiß usw., dass wir uns hier was vormachen) im Gespräch selbst aussprechen, aber man bekommt sie dadurch nicht so leicht weg, denn das würde keinem so eindeutig nutzen und das Gleichgewicht nicht deutlich zu den eigenen Gunsten verändern. Ich weiß auch nicht, wie eine Personalerin reagieren würde, wenn man ein Vorstellungsgespräch derart auf die Meta-Ebene höbe. Womöglich würde er mit Panik auf diesen Kontrollverlust und Konventionsbruch reagieren, den Bruch des impliziten Vertrags der Unaufrichtigkeit, des Gleichgewichts nicht des Schreckens, sondern des Blendens. Ich habe es ehrlich gesagt noch nicht ausprobiert.

Ob man allerdings die Situation durch ein Durchbrechen und Thematisieren der Unaufrichtigkeit und Absurdität auf eine solche „normalere“ Ebene heben könnte, ist zweifelhaft und es erscheint eher gefährlich, das zu versuchen, denn es handelt sich dabei ja doch ein wenig um ein Tabu: Alle denken daran, aber niemand redet darüber (gemeint ist: in der Situation selbst; in tausend Büchern und Seminaren natürlich durchaus). Ein wenig ist das wie mit der Gegenseitigkeit des Schenkens: Man erwartet, dass man etwas zurückbekommt (wenn auch nicht notwendig im gleichen Wert), aber das kann man natürlich nicht einfach aussprechen, das würde das System zerstören.

Außerdem würde eine solche Meta-Kommunikation verkennen, dass es auf Aufrichtigkeit und auf das Wissen um die Paradoxien der Situation ja nicht ankommt (das ist ja etwas allgemein Bekanntes, das nicht besonders erwähnt werden muss). Vielmehr könnte diese Meta-Thematisierung als Ausweichen eingeordnet werden (wo doch geschönte Selbstdarstellung und Verweigerung von „belastenden“ Informationen erlaubt, ja gefordert sind, es darf nur nicht offensichtlich sein). Es könnte sein, dass eine solche Intervention als Kompetenzdemonstration durchgehen könnte – Stichwort „analytische Fähigkeiten“. Dies werden aber wohl eher an Scheinproblemen getestet oder im kompetenten Umgang mit der Gesprächssituation selbst, also ob man diesen Typus der Situation kennt und damit umgehen kann. Das wiederum ist eine Frage der Übung; weshalb man ja im Allgemeinen rät, man solle ein Vorstellungsgespräch immer mitnehmen.

Diese Bewerbungsgespräch-Kompetenz stößt dann aber wieder auf das Paradox der Anti-Konventionalität: Man begnügt sich nicht mit Standardantworten, aber bekanntlich rät die Literatur über Vorstellungsgespräche zu einer eher konservativen Selbstdarstellung (zumindest in den meisten Berufen). Außerdem ist die menschliche Kreativität bei der Erzeugung unkonventioneller Verhaltensweisen letztlich begrenzt (nicht absolut gesehen – da gibt es nichts, was es nicht gibt –, sondern für die einzelne Person im Augenblick), so dass Unkonventionalität selbst wieder ihre Konventionen kennt: als nicht konventionell geltende Antworten, die nicht in der Gefahr stehen, allzu abgefahren zu sein. Der Bewerber hat dann lediglich zu entscheiden (bewusst oder unbewusst), in welchen Typus der konventionell Unkonventionellen er sich einordnen lassen will. Überhaupt kann er vielfach nur noch entscheiden, welche der üblichen nichtssagenden Antworten er geben will, die trotzdem noch als Antwort durchgehen kann (so kann man auf die Frage nach den eigenen Schwächen, auf die man natürlich keine ernsten Schwächen nennen kann, bekanntlich entweder Perfektionismus erwähnen, oder dass man Bitten anderer nicht abschlagen kann; so ordnet man sich in einen Typus ein, ohne sich eine Blöße zu geben, vor allem wenn man, wie allgemein angeraten, die Schwäche dann sogleich noch einschränkt und/oder in eine Stärke uminterpretiert).

Erst so lässt sich erklären, dass Vorstellungsgespräche überhaupt funktionieren und nicht vielmehr unter der Last dieser Paradoxien, ja Absurditäten zusammenbrechen. Sie folgen eben bestimmten Konventionen, die im Idealfall allen bekannte sind, die bestimmte Exzesse (der Reflexivität, der unaufrichtigen Selbstdarstellung, der taktlos-intimen Ausforschung usw.) mehr oder weniger ausschalten und trotz der relativen Vorhersehbarkeit einige Informationen produzieren, schon aus dem Grunde, dass eben doch nicht alles bis ins Letzte vorhersehbar und kontrollierbar ist. Das Bewerbungsgespräch ist sozusagen scheinheilig, heuchlerisch, aber dafür eben in der Regel nicht anarchistisch, nicht maximal gefährlich, nicht bis zum Letzten konfrontativ und intim. „L’hypocrisie est un hommage que le vice rend à la vertu“, schrieb Bourdieu gerne, indem er de la Rochefoucauld zitierte. Das Vorstellungsgespräch ist sozusagen die Hummel unter den sozialen Situationen (wie, natürlich fälschlicherweise, behauptet wird, der Flug der Hummel sei physikalisch nicht zu erklären): Es dürfte theoretisch gar nicht funktionieren, weil es sich in Paradoxien verfangen müsste und sein Informationswert genau Null wäre. Das ist so eine Wendung des Denkens, die ich bei Luhmann gelernt habe: das Paradoxieren, bzw. die Methode, das Gelingen, das Funktionieren eines sozialen Phänomens als unwahrscheinlich anzusehen (ihr reales Funktionieren sozusagen einmal theoretisch einzuklammern), um sich dann zu fragen, warum es trotzdem mehr oder weniger gut geht. Das kann eine sehr erhellende Denkmethode, eine Fragetechnik sein, gerät aber in die Gefahr, zu reinen akademischen Selbstbefriedigung zu werden, indem man Probleme erfindet, die es gar nicht gibt und offensichtlich sehr gängige Dinge als eigentlich undenkbar hinstellt. Dass das Vorstellungsgespräch trotzdem einigermaßen funktioniert und durchgeführt wird, hängt von der Strukturbildung durch Zufall ab (d.h. das Gespräch ist nicht bis ins letzte steuerbar, Zufälle können es eine informative Wendung geben), und der Tatsache, dass man durch Befolgung von Konventionen und dosierte Abweichung davon Signale setzen kann, die schon deshalb nichtbeliebig sind, da man ja später in der entsprechenden Organisation arbeiten will und zurechtkommen muss, so dass man ein gewisses Interesse hat, solche Eigenschaften seiner selbst zu signalisieren, die eine gewisse reale Passung zwischen Bewerberin und Unternehmen nahelegen. Das verhindert natürlich nicht, dass in der Praxis krasse und teure Fehlbesetzungen vorkommen, z.B. selbst wenn ein ganzes Institut voll schlauer Leute einen neuen Professor oder eine neue Professorin beruft, deren Arbeit noch dazu in Publikationen bereits vergleichsweise transparent dokumentiert ist (besser jedenfalls, will mir scheinen, als in Arbeitszeugnissen, die ja das Gegenstück zum Vorstellungsgespräch sind in ihrer Heuchelei und Absurdität, und die trotzdem weiter verfasst und vorgelegt werden).

Das Vorstellungsgespräch setzt also paradoxerweise auf allseits bekannte Verschleierung, auf individuelle Information mittels konventioneller Antworten, auf konventionelle Unkonventionalität, auf Selbstdarstellungskompetenz als Zeichen von Kompetenz, auf das Mitspielen in einer bekanntermaßen absurden Situation als Zeichen von Erfahrung, und darauf, dass der Zufall einem dann doch das eine oder andere Signal zukommen lässt.

Zeit haben

Zeit haben. Welch ein seltsamer Ausdruck! Die Sprache ist wieder einmal weise und sie ist verführerisch oder verwirrend vieldeutig. Man hat ja genau dieunddie Zeit, seine unbekannte Lebenszeit. In diesem Sinne kann man mehr oder weniger haben, aber das ist selten gemeint (höchstens wenn man selbst weise geworden ist und über ein genaues Vorhaben verfügt, für das die Lebenszeit nicht ausreichen wird: Ach hätte ich [oder oft: Ach bliebe mir] nur mehr Zeit, ich würde eine umfassende Geschichte der Zeit schreiben!). Sonst hat man zwar Zeit (man überspringt ja nicht etwa einen Zeitraum), kann aber etwas Bestimmtes nicht tun (hat „keine Zeit“). Die Rede vom Zeit-Haben changiert zwischen mehreren Sprachbildern. Zunächst Ausdrücke, die einen Besitz von mehr oder weniger Zeit nagelegen, einer „Zeitmenge“: Man kann sich die Zeit nehmen, sie verschwenden, seine Zeit für etwas einsetzen, jemandem seine Zeit schenken usw. „Sich Zeit lassen“, ist sehr interessant, denn das heißt einerseits: Etwas langsam tun, aber irgendwie auch: Man gibt sich, man überlässt sich selbst mehr Zeit für etwas, als man erwartungsgemäß tun würde. Nicht ganz eindeutig, aber auch irgendwie eine Vorstellung von Zeit als Substanz nahelegend: Die Zeit dehnt sich, man verplant Zeit (man kann neben Substanzen aber auch leeren Raum verplanen), man nutzt die Zeit (man kann Substanzen nutzen, aber auch Platz ausnutzen). Irgendwo zwischen aktivem Wesen und passiver Substanz liegen die Bilder der Zeit, wie sie eilt und verrinnt, gar heilt, aber auch einfach nur fließt, verbraucht wird, gar wie als löse sie sich ins Nichts auf: vergeht (das „Vergehen“ der Zeit erscheint uns als eine der neutralsten Wendungen, bei rechter Verbildlichung verweist sie aber auf ein Verschwinden, eine Selbstelimination).

Die Zeit als scheinbare Substanz erweist sich aber als etwas widerspenstig, denn obwohl es ganze Apparate und Logiken, eine ganze Ökonomie ihrer Verteilung gibt, widersetzt sie sich einer beliebigen Verfügung, der etwa das Geld unterliegt, jener ganz prototypischen sehr realen Fiktion, die eine Nicht-Substanz ist, aber oft wie eine behandelt wird (etwa nach dem Prinzip der Massenerhaltung), die man einfach per Anordnung verschieben, vermehren oder für nichtig erklären kann („kann“ heißt: Man könnte es jedenfalls grundsätzlich durchführen – ob sich jemand etwas Bestimmtes traut, z.B. die Währung zu entwerten, und ob andere das anerkennen, ist etwas anderes; anerkannt wird das auch nur, wenn dieses „Man“ bestimmte Akteure sind, z.B. Zentralbanken oder rechtmäßige Kontoinhaber, die aber auf jeden Fall per fiat Geld zuweisen, die anerkannte fikive Substanz und Nicht-Substanz beliebig hier- und dorthin verfügen). Zeit kann man nur in der Zukunft haben, bzw. genauer: ab sofort – im Gegensatz zu einem Gegenstand, von dem man sagt: Ich habe ihn (jetzt), was heißen kann, aber nicht muss: Ich werde ihn haben. Bei der Zeit kann man sagen: Ich habe Zeit, ich werde Zeit haben, und das ist ungefähr dasselbe (wenn man sagt: Ich habe noch viel Zeit für…, so kann die Zeit gestückelt in der Zukunft liegen), oder der Unterschied besteht darin, dass im ersten Fall diese Zeit jetzt anfangen kann („Ich habe jetzt Zeit“, heißt: ab jetzt), im zweiten Fall erst später („Ich werde Zeit haben“, kann heißen: später – aber man benutzt das Futur selten).

Zeitbudgets aus der Vergangenheit kann man aber kaufen. Von anderen durchgeführte Arbeit, die in ihrem Produkt „geronnen“ ist, erspart mir Arbeit und damit Zeit – Zeit also aus anderer Leute Vergangenheit, aber nur unter Ersparung meiner eigenen Zeit. Zeit ist Geld, sagt man. Hier in dem Sinne, dass der Wert der Arbeit mit demjenigen Wert der Zeit in Verbindung steht, den sie subjektiv für mich hat. Es ist der Wert, welchen die Ersparnis mir bringt, welchen die Aussicht für mich hat, die Arbeit nicht in meiner eigenen Zeit und mit meiner vielleicht lustlosen Einstellung oder Inkompetenz durchführen zu müssen. Zeit wird hier vollends vom „Raum“, von der Leere zu einer Art Geld, das man budgetiert. Man verschiebt sie zwischen Personen und Aktivitäten hin und her, tauscht sie gegen Geld und andere Dinge. Gelegentlich haushalten wir so auch mit der Lebenszeit: X Jahre verschenkt fürs Studium, Y verlorene Jahre in der trostlosen Ehe. Irgendwie kann Zeit zwischen Personen „überwiesen“ werden, aber letztlich doch nur innerhalb ihrer Lebenszeit (die dann wiederum als Leere den „Lebensinhalt“ aufnehmen muss).

Haben mehr Leute auch mehr Zeit? Z.B. auf eine Baustelle würde man vielleicht durchaus so rechnen – mehr Personen, mehr „Mann“stunden; aber eher nicht auf einer Party – jeder und jede Einzelne hat Zeit oder nicht, um zur Party zu kommen; und wenn sie auf die Party kommen, weil sie Zeit haben, dann haben Sie keine Zeit für anderes, sie haben dann keine Zeit! Die Zeit kann ja nicht mehr werden, oder doch? Die Zeit verschiedener Personen ist ja nach Perspektive aufaddierbar oder nicht. Wenn zehn Personen arbeiten, dann z.B. so viel wie eine Person in der zehnfachen Zeit, aber in einer kürzeren Zeit (die nur einmal abläuft). Wenn zehn Personen einer Darbietung beiwohnen, wird diese nicht länger und wird die Darbietung individuell erlebt – dabei wird aber womöglich auch die Arbeitszeit von zehn Personen vergeudet, wenn die Darbietung der Faulenzerei dient.

Es gibt aber auch Vorstellungen von Zeit, die sich von dieser verfügbaren Substanz oder zumindest substanzlosen, aber verfügbaren Quantität unterscheiden: in der Zeit liegen, zur rechten Zeit etwas tun, etwas auf einen Zeitpunkt oder Zeitraum legen, die Rede vom time slot usw. Gewiss, man kann viel Zeit haben, und muss sie dann füllen. Zeit ist also je nach Bild einerseits selbst eine Fülle, andererseits (oder zugleich) eine Leere, ein „Zeitraum“ (welch ein paradoxer und sogleich derart vielsagender Begriff!).

Unter heldenhafter oder gedankenloser Missachtung der begrenzten Lebenszeit oder eines „Zeitbudgets“, gar der Unverfügbarkeit der Zeit sehnen wir etwas herbei (möchten die dazwischen liegende Zeit überspringen oder wegnehmen) oder zögern etwas hinaus (legen mehr Geschehnisse zwischen den jetzigen und den Zeitpunkt des betreffenden Ereignisses) – je nach Betrachtung beides ungefähr dasselbe (Zeit unnötigerweise weggeben) oder fundamental Verschiedenes (der Wunsch nach Wegfall von weniger schöner Zeit oder ihrer Vermehrung als Verlängerung des Schönen, mehr von demselben).

Wir haben eine Zeitlupe, aber einen Zeitraffer.

Statt Zeit zu budgetieren, kann man gemäß anderer Vorstellungs- und Redeweise eben auch Dinge darin arrangieren, sie nacheinander oder parallel anlegen (mal ist Zeit ein Strahl, eine schmale Linie, mal ein breiter Strom, in dem so manches nebeneinander Platz findet). Zeit kann dabei auch eine Art Umgebung sein: Man legt Dinge dahin, wo eine Gelegenheit ist, was nicht nur heißt: eine freie Zeit, sondern auch dass bereits andere Dinge vorliegen und vorkommen, zu welchen die hinzukommende Sache passt.

Es gibt den geraden Zeitstrahl der Physik und die Prozessdiagramme der Unternehmensplanung. Diese gelten dann übrigens eher für das Management – auf der ausführenden Ebene fällt dann meist repetitive Arbeit, eine zirkuläre Zeiteinteilung an: regelmäßige Schichten und wiederholte Abläufe statt eines zielorientierten Prozesses oder gar eines vorwärts strebenden Spiels des strategischen Managements, in dem ständig die Regeln geändert werden.

Zeit kann auch als ein Standort, eine Perspektive aufgefasst und formuliert werden. Das Futur 2 („werde gewesen sein“) ist z.B. der etwas komplizierte Versuch, zwei Perspektiven zu verbinden: Die heutige, wonach etwas in der Zukunft liegt, und die eines anderen, zukünftigen Zeitpunkts, von welchem betrachtet etwas dann wiederum in der Vergangenheit liegt. Man kann aber auch ein halb standpunktloses Vorher und Nachher sprachlich verwirklichen: Zuerst werde ich das tun und dann das (es bleibt die standpunktbezogene Zukunft, die weitere Reihenfolge ist aber unabhängig von einem Standpunkt formuliert). Und wenn das dann gelungen ist, werde ich weiterhin sagen können: Zuerst tat ich dieses und dann jenes. Die Reihenfolge bleibt gleich aber ganz werde ich den Standpunkt aber nicht los: Der Satz über die Zukunft ist nicht in derselben Weise wahr, kann nicht auf dieselbe Weise scheitern wie einer über die Vergangenheit. Man kann sagen: Du hast das doch gestern gar nicht getan! Was aber nicht dasselbe ist wie: Du hast gestern gesagt, du würdest das heute tun, hast du aber nicht. Oder: Du hast das ja gar nicht ernsthaft vor. Oder: Das wird morgen sicher nicht gehen, bzw.: Wie kannst du so sicher sein, dass du das morgen tun wirst?! Prognosen und Absichten sind etwas anderes als Aussagen über die Vergangenheit oder Gegenwart (die im strengen Sinne wahr oder falsch sind). Prognosen können wohlbegründet sein, aber nicht eintreffen; Absichtserklärungen ernsthaft, aber unverwirklicht. Eine Prognose oder Absichtserklärung kann aber zum Zeitpunkt ihrer Äußerung nicht eigentlich eigentlich falsch sein.

Oder man sagt: Ich tat zuerst dieses, dann jenes. Das kann ich heute so sagen, und es ist womöglich wahr. Anders dagegen, mit „mehr“ Perspektiven: Ich tat zuerst dieses und würde/sollte dann jenes tun, bzw.: plante dann, hatte dann vor, jenes zu tun. Womit eine vergangene Perspektive wiedergegeben wird, die nicht falsch sein muss, selbst wenn ich „jenes“ dann nicht getan habe (es kann aber auch sein, dass es falsch ist, diese Absicht zu unterstellen, weil sie nicht wahrhaftig vorlag). Die Absicht oder Aussicht wurde nur womöglich nicht verwirklicht.

Zeit erscheint so als eine Art Standort, von dem man dieses oder jenes sehen kann, aber die Art der Sätze, die man über Beobachtungen in die eine Blickrichtung formulieren kann, weicht systematisch von Sätzen über die andere ab. Man kann Sätze über andere Standpunkte formulieren, ohne dies aufzuheben, sondern man verdoppelt, verschränkt nur die so strukturierten Perspektiven.

Verbunden mit dem Bild der Standpunkte erhebt man auch bestimmte Forderungen. Wenn man schon daunddort in der Zeit ist, soll man auch… zeitgemäß sein etwa – „die Zeit“ ist hier keine Größe, sondern ein Inhalt. Spricht man von „unserer Zeit“, so handelt es sich um diejenigen Denk- und Handlungsweisen, die Strukturen und Vorgänge, welche heute vorherrschen, im Gegensatz zu früherer. Dahinter steckt die Annahme, es gebe eine Geschichte in demjenigen Sinne, dass sich wirklich etwas ändert, und nicht nur Wiederholtes oder Beliebiges früher oder später stattfindet, gerade diese oder jene Zeit in Anspruch nimmt.

Man kann Zeit budgetieren, Dinge darin arrangieren oder einfach mal ohne Rücksicht auf das Ende mit etwas anfangen. Die falsche Strategie, die falsche Sichtweise und Beschreibung zu wählen kann aber je sozialem Bereich normwidrig oder zumindest befremdlich sein. Vorab die Dauer eines Rendezvous, einer Ehe, zum Teil auch eines Partybesuchs festzulegen, ein genaues Zeitbudget zuzuweisen, erscheint widersinnig, sich dagegen im Fernsehprogramm oder in einem Computerspiel zu verlieren als ein Mangel an Selbstbeherrschung (anders vielleicht schon bei einem Buch!). Ambivalent in dieser Hinsicht auch die Arbeitszeit: Mehr oder weniger arbeiten, einfach pünktlich aufzuhören oder aus eigenem Antrieb weiterzuarbeiten – wie man das beurteilt (als Faulheit und Einsatz, Selbstausbeutung und Idealismus), hängt von der Tätigkeit ab. Schon die Rede von „Überstunden“ hat in manchen Bereichen etwas Lächerliches (aber nicht deswegen, weil es sachlich völlig undenkbar wäre, Zeitbudgets so zu verwalten, sondern weil sich darin ein falsches Berufsethos zu offenbaren scheint).

Der Umgang mit zeitlichen Perspektiven kann auch sehr weitreichende moralische Implikationen haben: Konnte man wissen, vorhersehen, hatte man die ernsthafte Absicht, kann man das von heute aus noch genau nachvollziehen, darf man etwas in Aussicht stellen, gibt es ausreichende Gründe für Prognosen und ist man dafür verantwortlich, usw.?

Wir reden aber nicht nur über die Zeit, wir schauen auch auf die Uhr, zeigen sie mittels Uhren an. Die runde Uhr mit Ziffernblatt ist heute womöglich ein Anachronismus. Sie ist zumindest nicht mehr technisch notwendig in Zeiten der unterschiedlichsten Displays (war aber seinerzeit ja ein erheblicher Fortschritt). Aber noch die Digitaluhr und die als Ziffern aufgeschriebene, nicht angezeigte Zeit basiert ja auf einem Zyklus – anders als etwa die Zeitrechnung einiger Computersysteme, die immer nur die Sekunden seit einem bestimmten Zeitpunkt zählen, eine gerichtete Zeit ohne wiederkehrende größere Einheiten und Zyklen. Jedenfalls funktioniert eine geschriebene, nicht kreisförmig dargestellte Zeit auch analog, wie die Faltblattanzeige (vgl. den ikonischen Radiowecker) beweist. Trotzdem soll uns das runde Ziffernblatt, insbesondere einer Turmuhr, als das Symbol einer zyklischen Zeit mit ihren täglichen Verrichtungen und Pflichten gelten: Beten und Arbeiten. Es handelt sich um eine geregelte und regelnde Zeit, die nicht nur koordiniert ist (man kann sich auf Basis der Turmuhr zumindest innerhalb ihrer Sicht- und Hörweite verabreden), sondern auch regelmäßig und damit zu einem geregelten Tagesablauf verhilft und ermahnt.

Denken wir weiter an die allegorischen Darstellungen des Todes mit einer Sanduhr. Weniger als eine gerichtete Zeit, die das Leben auch ist (wo man es auf übergeordneter Ebene immer als zyklisch betrachten kann), verweist dieses Bild auf die Begrenztheit der Zeit, das Haben einer bestimmten, aber dem Menschen unbekannten Zeit, die abläuft.

Schließlich suchen wir die Zeit auch in den natürlichen Dingen: Gesteinsschichten, Baumringe, Eisschichten. Wir vergleichen z.B. das Gedächtnis mit diesen Ablagerungen, stellen es uns als ein Abfolge von Schichten vor, mit immer tiefer eingegrabenen, immer schwerer zugänglichen Erlebnissen – obwohl die Gedächtnisforschung meint, wir hätten es eher mit Überformungen, Färbungen, Verzerrungen, Verschmelzungen, fallweiser Zugänglichkeit je nach Gedächtnisfäden und ihrer Verwobenheit zu tun, und was der Bilder mehr sein könnten, weniger mit Schichten oder einem geordneten Archiv. Auch die Geschichte kann man sich (ohne dass das etymologisch oder theoretisch zwingend wäre) als Schichten vorstellen, ihre Erforschung als Archäologie. Umgekehrt kann aber zu einem gegebenen Zeitpunkt Altes und Neues nebeneinander vorliegen: Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Die Generationen lagern sich wie Schichten übereinander und behalten einen Teil ihrer früheren Prägungen bei. Soziale Transformationen, in Strukturen wie in der Haltung von Individuen, gehen nicht überall gleichzeitig von sich.

So ist die Zeit kulturell in Bildern (Sprachbildern und symbolischen Gegenständen) darstellbar und vorstellbar, die untereinander nicht recht vereinbar sind, aber fallweise die Erfassung dieses Unfassbaren erlauben: Die Zeit läuft im Kreis, ohne dass die meisten im strengen Sinne an die ewige Wiederkunft des Gleichen glauben; die Zeit ist ein nackter Zeitstrahl, der uns aber auf die natürlichste Weise in die kuriosesten Einheiten geteilt scheint (in den bekannten Schritten zu 60 und 24, 7, 28 bis 31, aber auch Jahrtausenden und Jahrhunderten), ohne dass diese wiederum die Weltgeschichte und den Gang der Welt überhaupt zu etwas verpflichten, etwa zur Neuerschaffung der Welt alle soundsoviele tausend Jahre oder dass präzise bestimmbar das jüngste Gericht eintritt; die Zeit ist ein ablaufendes Stundenglas, aber ständig tauchen neue und ungleich befüllte auf; die Zeit ist ein Schatz und ein schnödes Konto, lagert sich ab und kann verschoben werden, ein Ort und das Gegenstück zum Raum, usw.

Ökonomie der Monogamie (2)

Nachdem wir ein wenig die im weitesten Sinne ökonomischen Überlegungen rund um Monogamie und Polygamie erörtert haben, interessiert uns vielleicht die Statistik: Wie häufig sind diese Formen nun im Vergleich der Kulturen? Wir werfen also einen Blick in die Daten und sind überrascht: George P. Murdock und Douglas R. White haben eine Stichprobe von Kulturen initiiert, für die standardisiert Merkmale erhoben werden (hinsichtlich der herrschenden Wirtschaftsformen, Familienstrukturen, Ritualen, Erziehungsweisen, Umgangsweise mit Konflikten usw.). Die Kulturen sind so gewählt, dass sie möglichst voneinander, durch westliche Christianisierung, Modernisierung usw. unbeeinflusst und gut dokumentiert sind (die 186 Kulturen betreffen überwiegend Stammeskulturen, aber auch einige moderne und historische Fälle). In diesem Standard Cross-Cultural Sample (SCCS, vgl. das Codebuch; zu den hier interessierenden Variablen näher diese Darstellung) herrscht in nur 16% der Gesellschaften echte Monogamie (unter 1% lebt polyandrisch), 7% leben in monogamen Kernfamilien und 5% siedeln neolokal. Es ist klar, dass diese Stichprobe nicht primär dem Zweck dienen kann, Anteile bestimmter Formen zu untersuchen, sondern Zusammenhänge herzustellen, weil sie zwar möglichst vielfältig und umfangreich, aber nicht im strengen Sinne repräsentativ sein kann. Trotzdem mögen die Häufigkeiten zum Ausdruck bringen, was einigermaßen gängig und selten ist.

Man darf aber auch nie vergessen, dass für die kleine Minderheit an Gesellschaften mit außergewöhnlichen Strukturen (Polyandrie, Besuchsehe usw.) diese die natürlichste (oder übernatürlichste) Sache der Welt sind. Das ist genau ihre Art zu leben (eben ihre Welt), umso mehr als diese mit anderen Gegebenheiten meist gut zusammenpassen (in der Vorstellungswelt und funktional gesehen), insbesondere den Bedingungen des Wirtschaftens, vor allem unter den geografischen Bedingungen und abhängig von benachbarten Gruppen, mit denen man sich friedlich austauscht, im Konflikt liegt oder sich ignoriert. Aber die Lebensweise ist eben auch diejenige, die einem überliefert oder oktroyiert wurde oder die bei Migration in neue Umwelten erhalten blieb. Das heißt also: Verschiedene Aspekte einer Kultur müssen zwar einigermaßen zusammenpassen (Matrilokalität und Polgynie passen schwer zusammen) und das Überleben sichern, aber eine einmal erworbene Kultur hat ein Eigengewicht und kulturelle Überlieferung oder Überformung überbringen ganze „Pakete“ kultureller Elemente, von denen nicht alle Teile funktional sein müssen.

So zeigen einige Auswertungen des SCCS und anderer Daten, dass Monogamie in der Tat kulturell zwischen benachbarten und sprachlich verwandten Gesellschaften übermittelt sein könnte, aber auch häufiger ist bei komplexerer Arbeitsteilung, gleicherer Ressourcenverteilung und günstigen natürlichen Bedingungen (anderer Studien aber auch: bei weniger Ackerland, aber großen Beitrag der Frauen zur Versorgung), seltener dagegen bei hohen Krankheitsrisiken und hohem Gewaltpotenzial. Freilich muss man zugestehen, dass die Forschungslage schwierig ist, da viele Einflussfaktoren auf die Eheformen untereinander zusammenhängen und es kompliziert ist, ihren jeweiligen Einfluss klar von demjenigen anderer zu trennen. Außerdem verwenden die Studien unterschiedliche Datengrundlagen und Auswertungsverfahren. Jedenfalls darf man schlussfolgern, dass Monogamie oder Polygamie nicht einfach in allen Fällen biologisch vorteilhaft sind, sondern damit zusammenhängen dürften, wie man je nach Umgebung, abhängig von Krankheiten, Nahrungsangebot, Kriegsführung usw., überleben kann und wie verschiedene Regeln des Zusammenlebens untereinander verknüpft sind und überliefert wurden.

Vereinfachung der Beziehungsstrukturen führt dazu, dass wiederum komplexe soziale Strukturen aufgebaut werden können (Vereinfachung heißt aber nie vollständig schematische Betrachtungs- und Handlungsweisen, sondern auch eine nötige Flexibilität und Kreativität). Wenn alle mit allen können und dürfen, entsteht ein nicht offensichtlich strukturierter Heirats-„Markt“ (der natürlich bestimmte Verteilungen und damit Strukturen hervorbringen kann, also wer mit welcher Wahrscheinlichkeit was abbekommt; das ist aber nicht so offensichtlich wie klare Regeln, die allgemein bekannt sind). Wenn Beziehungen dagegen binär und exklusiv kodiert und auch ansonsten kodifiziert sind, also nach bestimmten Regeln geschlossen werden, kann man auf ihnen komplexe Strukturen aufbauen. Die Wahrnehmungs- und Verarbeitungskapazität geht nicht dafür drauf, komplizierte Einzelbeziehungen zu verstehen, sondern dafür, basierend auf einfachen Beziehungen komplizierte Strukturen zu praktizieren. Verwandtschaftsverhältnisse können dann weite Teile des gesellschaftlichen Lebens regeln, weil man sehr weit damit kommt, relativ klare Unterscheidungen und Regeln wenn nötig vielfach zu kombinieren und durchzudeklinieren. Sind Beziehungen dagegen vielgestaltig und offen, werden sie selbst problematisch und kann man damit auch keinen Staat, keine organisierte Wirtschaft usw. machen, sondern man hat wie heute überwiegend einen gesonderten Staat und eine eigentliche Wirtschaft mit Unternehmen, die nicht mit Verwandtschaftsstrukturen zusammenfallen. Diese neuen Systeme sind komplex, brauchen aber wiederum Vereinfachungen, damit Einzelne damit umgehen können, wie etwa eine Währung und die eindeutige Unterscheidung von Kaufen und nicht Kaufen bzw. Zahlen und nicht Zahlen, oder scharf abgegrenzte Abstimmungssysteme (Partei A oder Partei oder Partei C; für die Maßnahme oder gegen die Maßnahme usw.). Umgekehrt bedeutet deren Existenz gerade, dass die persönliche Beziehung sich darauf konzentrieren kann, Beziehung zu sein und damit kompliziert und vielgestaltig zu werden. So kann sie sich aber gerade auch wieder an die Erfordernisse anderer Bereiche der Gesellschaft anpassen (z.B. an die Erfordernisse der Wirtschaft, mit Fernbeziehungen statt Lokalitätsregeln), ohne darin aufzugehen. Diese Beziehung bzw. die Familie ist dann zunehmen davon befreit, sehr viele verschiedene Funktionen zu erfüllen, also zugleich ein wirtschaftliches Tauschgeschäft bzw. die wirtschaftliche Einheit überhaupt zu sein, ein „politischer“ Pakt zwischen Gruppen, Träger der verschiedensten rituellen Funktionen usw.

Zusammengefasst: Vormoderne, kleinteilig segmentierte Gesellschaft – die Familienstruktur übernimmt vielfältige Funktionen und ist deshalb detailliert geregelt, aber in recht schematischer Weise, selbst wenn das nicht im Detail befolgt wird. Moderne Gesellschaft – die Familienstruktur oder oft auch die reine Zweierbeziehung kann innerlich komplex werden, ist aber tendenziell (!) losgelöst von anderen Funktionen und weniger geregelt, nur sehr abstrakt kodiert (zusammen/nicht zusammen, meist ohne konkrete Vorgabe oder Mitspracherecht anderer bei der Wahl des Partners). Andere Funktionen werden von entsprechenden Gesellschaftsbereichen wie Staat und Wirtschaft übernommen, basierend nicht mehr auf Familienstrukturen, sondern oft anonymen Verhältnissen (Anbeiter und Nachfrager, Wählerinnen und Politikerinnen müssen nicht kennen), was mit der Flexibilität korrespondiert, mit der Personen Partner, Wohnorte usw. wählen und auch wieder verändern können. Personen können sich teils befreit von anderen Funktionen, teils in Anpassung an deren großmaßstäblichen Erfüllung in den genannten Gesellschaftsbereichen zusammentun und lösen.

Die Beziehung wird „privat“ (ihrem idealen Kern nach nicht-ökonomisch, nicht-politisch, selbst wenn sie weiterhin anderen Einflüssen unterliegt) und „romantisch“. Man könnte meinen, diese relative Eigenständigkeit spräche für eine Abkehr von starren Prinzip der Monogamie. Das hat sich aber nur zum Teil bewahrheitet.

Romantik ist Verschwendung ökonomischer Ressourcen, indem man gerade bekundet, dass es auf diese nicht ankommt und sie deshalb scheinbar ohne Sinne und Verstand (natürlich in Wirklichkeit trotzdem wohldosiert) herauswirft. Verschwendung nicht nur des Geldes (das nicht alle gleichermaßen haben), sondern auch der Zeit. Zeit fürs Reden, Zeit für das Lesen von Romanen (sowie Zeit und Mittel für das Lesenlernen), denn Romantik kommt aus den Romanen, wenn diese alte These gestattet ist, oder ihren heutigen Nachfolgern. Diese aufwändige Beschäftigung mit Romantik hat Folgen: Die Kompliziertheit der jeweils anderen Person und der Beziehung, der Glaube an die Vollendung des Menschen in der Liebe, die Widerspiegelung im anderen, die Unerschöpflichkeit des Wesens der anderen usw,, insgesamt die gesteigerte Intensität und Komplexität der Partnerschaft sowie die Forderung nach einer idealtypischen Einheit der Liebe („geistige“ Beziehung, Sexualität. Alltag etc.) machen sie jetzt zu einem seltenen Gut. So verbieten sich allzu viele vollgültige Beziehungen gleichzeitig. Ja viele hängen eben der Überzeugung an, man könne nur eine haben (gar nur die eine wahre im Leben), weil die beschriebene Intensität und Komplexität unteilbar seien. Sofern man sich natürlich dieser historisch erst gewachsenen, eben „romantischen“ Vorstellung nicht verweigert.

Auch diese Form der Beziehung und ihre Verweigerung (schon das ein Dualismus, in den die Gesellschaft das Verhalten tendenziell zwingt: Entweder es ist eine Beziehung oder ein Seitensprung, eine klassische geschlossene oder eine offene Beziehung) führen zu ökonomischen Problemen, die nach einigermaßen überschaubaren und handhabbaren Regelungen zu verlangen scheinen (so zumindest die sozial vorherrschende Auffassung).

Erstens will man auf die Regelung ökonomischer Angelegenheiten in Paarbeziehungen nicht verzichten, heute etwa durch den Staat und mittels Verträgen beim Notar. „Es ist kompliziert“, ließe sich als Beziehungsstatus schlecht steuerrechtlich fassen. Verträge unter mehr als zwei Personen zur gemeinsamen und getrennten Verfügung über Güter lassen sich durchaus denken, werden aber in eine andere Kategorie eingeordnet als der Ehevertrag. So viele andere Beziehungen man haben mag, es bleiben doch Schematisierungen, oft in komplexitätsreduzierender Weise auf das exklusive Verhältnis zweier Personen reduziert,

Man versucht die Probleme heutiger komplexerer Beziehungsgestaltung zweitens mit Rekurs auf biologische Fakten zu beheben. Nehmen wir etwa an, eine Frau A. ist promisk eingestellt oder teilt ihre ernsthafte Liebe zwischen zwei Männern auf, sagen wir dem finanz- und zeugungskräftigen B. und dem arbeits- und mittellosen aber ebenso fruchtbaren C. Wenn sie nun innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums mit beiden Geschlechtsverkehr hat und schwanger daraus hervorgeht, so ist es eine reine Lotterie, wer von den beiden Herren der biologische Vater ist. Wenn insbesondere keiner von beiden sich genötigt fühlt, die so genannte soziale Vaterschaft zu übernehmen, und weil man aus ihrer Sicht nicht unbedingt Geld verschenkt, stellt Frau A. die Vaterschaft fest und lässt den Erzeuger Unterhalt zahlen. So ergibt sich quasi per Zufall, wer von beiden hierzu verpflichtet wird und in welcher Höhe die Restfamilie mit einem Zusatzeinkommen rechnen kann. Man kann die Lotterie der Vaterschaft und Zahlungsverpflichtung für gerecht halten (während es kurios ist, dass die Höhe der Unterstützung von Kindern davon abhängt – aber sonst ist es ja auch so, dass man qua Geburt einer mehr oder weniger begüterten Familie zugelost wird): Zuteilung unteilbarer Verpflichtungen per Los ist ein altes Verfahren, das Gleichheit verbürgen soll. Man wird auch eingestehen, dass der Nachweis des unzureichend geschützten Geschlechtsverkehrs mit dem Mann, der nicht der biologische Vater ist, schwer zu führen sein wird. Trotzdem schwebt über diesem Fall die biologische Elternschaft wie ein Gottesurteil. Wenn sie in anderen Fällen der Eitelkeit schmeichelt und als eine Art Verdienst an der natürlichen Ordnung erworben wird, so ist sie hier Verpflichtung wider Willen aufgrund höherer Fügung. Sie ist ein unsichtbares Band zwischen Elternteil und Kind, welches als das allerrealste gilt (ganz im Gegensatz zu den „weichen“ Beziehungen, welche „nur“ sozial, freiwillig usw. sind). Man kann die biologische Elternschaft als Notbehelf rechtfertigen, um eine Versorgung von Kindern sicherzustellen, welche Alleinerziehende oder Patchwork-Familien nicht leisten können. Sie wäre ein Ausgleich für die Tendenz, die Fürsorge für Kinder überwiegend den Frauen zuzuschieben und möglicherweise zur Zeugung führenden Geschlechtsverkehr aus Männersicht zu banalisieren, so als sei es nicht ihr Problem, wenn dabei eine schwanger wird (man kann natürlich auch die umgekehrte Tendenz beobachten, dass manche Frauen eben die Aufzucht der Kinder für sich monopolisieren wollen und sich eine alleinige Kompetenz darin zubilligen – die Polemiken dazu füllen das Internet und die Leserbriefseiten). Aber dass biologische Elternschaft das unausweichliche, allerhärteste und aufgrund ihrer „Natürlichkeit“ einzig richtige Kriterium sei, die Verhältnisse in niemals entstandenen, bestehenden und aufgelösten Beziehungen und Familien zu regeln, kann als Ausweis eines Biologismus gelten, der statt nach unabhängigen Gerechtigkeitskriterien und Modellen des guten Lebens und Zusammenlebens zu suchen, zufällige Fakten der Natur zum selbstverständlichen Gesetz erheben will. Insbesondere da ja andere Zeiten und Kulturen eben dieses Kriterium nicht nutzen konnten, aber darüber nicht verdrießlich wurden, sondern andere entwickelten, die sie wiederum für die natürlichste Sache der Welt hielten.

Biologismus ist nicht die Rückkehr zur Natur, sie ist die Wiederkehr der Natur auf einer anderen Ebene: Eine Vorstellung von Natur wird zur sozialen Norm oder zur Erklärung von Verhalten, weil sie offensichtlich nicht so selbstverständlich ist, wie die Natur selbst eigentlich ist (die Natur braucht keine Normen, um das „Natürliche“ herzustellen, sie ist schon natürlich). Dass man sich den Kopf über Monogamie zerbrechen kann, zeigt also, dass uns weder von der Natur, noch von der Kultur klare Anweisungen und Begründungen mitgegeben sind, sondern sie eine vieldeutige Vereinfachung ist, die wie alle Vereinfachungen mehrere Seiten hat. Eine dieser Vereinfachungen lautet heute eben auch, dass man es „natürlich“ machen solle, was immer das heißt. Die Natur des Menschen ist ja nun einmal die Kultur.

(Nun mögen die Ethnologen und andere wirkliche Auskenner kommen und mir auf die Finger klopfen, weil ich Unsinn geschrieben habe. Aber ich wollte nur eine bestimmte Grundbotschaft vermitteln: Eine verbreitete, allzu vulgäre Soziobiologie denkt immer nur an Sex bzw. projiziert das immer in andere. Freilich muss der Mensch auch überleben, sich in der Welt zurechtfinden, in einigermaßen geordneten Verhältnissen mit anderen leben, wozu man nicht nur mit dem Schwanze und der Gebärmutter denken darf. Sofern nun die populäre Theorie des Paarverhaltens das anerkennt, dass man auch überleben muss, übersieht sie freilich oft weiter, dass das scheinbare Standardmodell der monogamen Kleinfamilie mit dem womöglich zum Seitensprung neigenden Ernährer hierzu nicht unbedingt die beste Lösung ist. Außerdem wollte ich mal gesagt haben, dass bevor man Polygamie und Monogamie diskutieren kann, sich erst einmal darüber wundern muss, dass Beziehungen überhaupt binär kodiert und dann weiter geordnet werden. Es ist also auf den ersten Blick erstaunlich, dass gerade in fragilen Gesellschaften Beziehungen so detailliert geregelt werden anstatt sie einer „natürlichen“ Auswahl zu überlassen. Das klärt sich aber auf, wenn man die Vorteile dieser Formen des Zusammenlebens und ihre Verbindung untereinander und zu anderen Eigenschaften einer Kultur berücksichtigt.)

Zum Weiterlesen:

Einige neuere Studien, auch wenn ich nicht allen Schlussfolgerungen zustimmen würde und die unterschiedlichen verwendeten Daten und Auswertungsverfahren einen Vergleich erschweren:
Ember, Ember & Low (2007). Comparing explanations of polygyny.
Barber (2008). Explaining cross-national differences in polygyny intensity. Resource-defense, sex ratio, and infectious diseases.

Ferner einige Klassiker:

Murdock, Social structure
Lévi-Strauss, Les structures élémentaires de la parenté (Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft)

Zur heutigen Romantik:

Luhmann, Liebe als Passion
Illouz, Der Konsum der Romantik

In meinem Buch gibt es auch ein Kapitel zu heutigen nichtehelichen „festen“ Beziehungen („Akte der Paarbildung“).

Ökonomie der Monogamie (1)

Eine simple biologische Analyse des Paarverhaltens scheint zu unterstellen, dass Paare relativ isoliert ihren Nachwuchs aufziehen, weshalb die Frau ein Interesse habe, möglichst lange einen Ernährer oder Unterstützer oder eine emotionale Stütze oder was immer zu haben, der Mann aber das Interesse habe, seinen Samen möglichst weit zu verteilen oder eben auch seinen Nachwuchs zu beschützen und dessen Wohlergehen und Status zu sichern, damit die Gene… (und wie solche Erklärungen eben so gehen). Das widerspricht schon den Gegebenheiten in der Mehrheit der nichtindustriellen Gesellschaften. Man muss hier auf der Ebene des Familienverbandes rechnen, und dann gehen ganz andere Größen ein. Die genetische Nähe nimmt mit der Größe einer Gruppe Verwandter schnell ab, die wechselseitige soziale Abhängigkeit tritt in den Vordergrund, und insbesondere die Ökonomie. Die spricht für eine Regelung von Beziehungen, aber nicht zwingend für Monogamie, wie wir analysieren werden. Erst in einem zweiten Teil werden wie sehen, warum diese für uns heute plausibel sein kann.

Bevor man sich einer (scheinbar) konkreten Gegenüberstellung von Mono- und Polygamie widmen kann, muss man erstmal grundsätzlicher zur Kenntnis nehmen, dass es überhaupt eindeutig Kodierungen von Beziehungen gibt. Es ist ja nicht selbstverständlich, dass diese nach dem Entweder-Oder-Prinzip organisiert sind (selbst heutige westliche nichteheliche Beziehungen neigen dazu), sondern viele Übergänge wären denkbar. Und erst wenn es ein solches Prinzip gibt statt offener Beziehungen und feiner Abstufungen im Verhältnis zueinander, kann man Monogamie und Polygamie einigermaßen klar unterscheiden. Beides, die Frage nach der binären Kodierung und dieser Unterscheidung, soll uns als im weitesten Sinne ökonomisches Problem interessieren.

Unter Ökonomie ist natürlich nicht das zu fassen, was man gemeinhin darunter versteht, also das Wirtschaftssystem, unter dem wir als der kleinste Teil der Gesamtmenschheit seit ihrem Bestehen leben. Vielmehr die Versorgung und auch der symbolische Tausch mit nicht mühelos zu erhaltenden Gütern, sofern dies über den Augenblick und die instinktive Bevorratung hinausgeht, über die unmittelbare Versorgung seiner selbst und eventuell noch des Nachwuchses, sondern sofern man in gesellschaftstypischer Weise haushaltet und mit anderen Güter austauscht. Dabei muss nicht „ökonomisch“ gedacht werden in der Weise, die wir für typisch halten, sondern der subjektive Zweck kann auch rituell, magisch, religiös, moralisch usw. sein, die Güter eher symbolischer Art als über ihren reinen Nutzwert, z.B. als Nahrung oder Baumaterial, definiert.

Vormoderne Gesellschaften, selbst noch die ländlichen Gebiete vergangener Jahrhunderte, sind letztlich kleinteilig segmentiert: Diejenigen Personen, die eine enger verbundene Gruppen bilden, die also wirklich häufiger Kontakt haben und sich gegenseitig wesentliche Ressourcen zukommen lassen, umfassen wenige Dutzend bis wenige hundert Personen (spätere Zeiten kennen ja Segmentierungen ganz anderer Größenordnung, in denen man aber nicht in derselben Weise aufgehen kann, wie etwa das Großunternehmen oder den Nationalstaat). Solche Gruppen sind unter vielen Umweltbedingungen zerbrechlich und brauchen ein hohes Maß an ökonomischer Sicherheit und gefestigter Beziehungen zwischen den sie bildenden Familienverbänden. Deshalb gibt es zumeist Regeln über das Zusammenwohnen: Junge Paare leben entweder beim Vater des Mannes oder bei der Mutter der Frau (oder alle bei sich, was dann auf Besuchsehen hinausläuft, in welcher Paare nicht denselben Haushalten angehören, sondern statt des andernorts lebenden Elternteils andere Verwandte eine stärkere Rolle in der Erziehung und Versorgung von Kindern einnehmen). Die Regelung der Wohnstätte geht oft mit der Auffassung einher, was eigentlich eine Familie sei – nämlich oft nicht ein Paar mit Kindern, sondern eine männliche oder weibliche Linie (Patri- oder Matrilinearität) mit den angeheirateten Partnern und den unverheirateten Nachkommen, aber nicht mehr die verheirateten Nachkommen des je anderen Geschlechts, die einer neuen Familie zugehören. Neolokalität, d.h. die Wahl eines neuen Wohnsitzes für Paare, zersplittert die Haushalte, führt zu vermeidbaren Aufwendungen und ist deshalb nur unter bestimmten Bedingungen sinnvoll. Wegziehende Familienmitglieder sind aber unabhängig von der Lokalitätsregelung ein Verlust für den ursprünglichen Haushalt, der sich nicht so leicht anpassen kann: Zu bearbeitende Flächen, zu versehende Funktionen in der Gemeinschaft sind nicht kurzfristig anzupassen, verbleibende Alte, Kranke, unverheiratete Familienmitglieder und Kinder sind zu versorgen, aber plötzlich alles mit weniger Personen. Deshalb kennen viele Kulturen Mitgifte und Halbehen: Zieht das Paar zur Wohnstätte einer männlichen oder weiblichen Familienlinie, so wird diejenige Linie dafür entschädigt, die eine Person verliert, entweder durch Güter oder Arbeitsleistungen, oder indem der Auszug verzögert wird, bis der Verlust „abgearbeitet“ ist (erst dann ist die Ehe voll gültig, während man vorher noch der alten Familie angehört). Auflösungen von Paarbeziehungen wären wiederum mit dem Verlust einer Person verbunden – ob das betreffende Paar nun bereits Kinder hat oder nicht – und müssen deswegen ebenfalls reguliert werden (nicht notwendig verboten, aber formalisiert). Gänzlich ungeregelte Beziehungen zu verschiedenen Partnern würde dagegen bedeuten, dass Zugehörigkeiten und damit auch Leistungen unklar werden. Das heißt aber nicht, dass neben einer offiziellen Partnerschaft nicht noch weitere Beziehungen oder spontane Kontakte bestehen können, sofern die Versorgung aller Beteiligten und des Nachwuchses sichergestellt ist (Vaterschaft ist ja ohne bestimmte Technologien nicht sicher nachzuweisen; es braucht also ohnehin eine offizielle Regelung, welche mit biologischer Abstammung nichts zu tun haben muss, aber die Versorgung und Erziehung sicherstellt).

Eindeutigkeit, Vereinfachung ist in diesen relativ fragilen ökonomischen Strukturen also recht notwendig. Zumindest sollte der Beziehungsstatus binarisiert werden, in ein einfaches Zweierschema: Ehe oder nicht, und eventuell: erlaubter und unerlaubter Geschlechtsverkehr mit anderen, so dass für alle wichtigen Aspekte eindeutige Regelungen bestehen und Personen nicht ökonomisch und hinsichtlich ihrer Zugehörigkeit „in der Luft hängen“.

Polygamie ist nun möglich bei ausreichender Ressourcenversorgung – sie bleibt aber in vielen Gesellschaften ein Phänomen statushoher Männer (Polyandrie ist viel seltener als Polygynie). Man muss es sich leisten können, aufgrund der ökonomischen oder einer Machtposition – oder es braucht umgekehrt Bedingungen, unter denen größere Haushalte vorteilhafter sind. Das heißt nicht einfach nur: mehr Besitz und mehr Ressourcen eines Mannes, denn viele Kulturen kennen eine starke Umverteilung bzw. Vergemeinschaften von Gütern. Zum Beispiel könnte die Zuteilung, etwa von gejagtem Wild, automatisch mit der Familiengröße anwachsen, so dass Polyganie kompensiert wird. In nicht wenigen Kulturen tragen Frauen die Hauptarbeit der Ernährung, so dass ein Zahlenverhältnis von vielen Frauen zu wenigen Männern für einen Haushalt günstig ist. Unter anderen Bedingungen ist der umgekehrte Fall günstiger und Polygamie sozusagen Luxus oder eben verboten. Man darf sich hier Ökonomie nicht einfach als individuelles Wirtschaften und Besitzen vorstellen, sondern muss die genauen Regelungen beachten, wer was behält und weitergibt, die Unterscheidung zwischen privaten und Allgemeingütern und welchen symbolischen Status das aber wiederum bringt, wenn man in all dem eine bestimmte Rolle einnimmt. Zusammenfassend, und weitere Gründe:

„Monogamy is therefore more likely where male resources consist of rivalrous private goods, such as food; where variation across males in resource endowments is low; where there exist few institutions treating food or productive resources as common goods; and where there is little demand for male-provided non-rivalrous public goods, such as defense.“

Und:

„There are a number of ways in which a larger household would increase fitness. First, an additional female allows increased within-household specialization, so that efficiency and diversification increase, improving access to food, an advantage where there is high extrinsic risk due to famine. Second, in environments with high extrinsic risk due to violence, a larger household will be more able to defend itself from others. Third, where the additional female is unrelated to the original female, the network of kin relations linking the household to the surrounding society expands, so that resources during periods of famine and allies during periods of strife are more easily obtained.“

(Dow & Eff, 2010: When on wife is not enough)

Und selbst wenn der im engeren Sinne ökonomische und demografische Druck begrenzt ist, bleibt noch die kognitive und moralische Ökonomie: Eindeutigkeit, die Orientierung schafft und Frieden stiftet. Dass die konkreten Strukturen der Verwandtschaft und Beziehungen (Heirat, Zusammenleben, Geschlechtsverkehr usw.) mit der gedanklichen Vorstellungswelt zusammenhängen und dass dies dem Prinzip der Sparsamkeit folgt, hat George P. Murdock aufgezeigt (in „Social structure“, 1949). Es gibt eine riesige Zahl an möglichen Verwandtschaftsbeziehungen, wenn man alle erdenklichen Differenzierungskriterien anwendet: Gehört die benannte Person zur gleichen, nächstälteren, übernächsten, jüngeren Generation usw., ist sie männlich oder weiblich, mit dem Vater oder Mutter verwandt, über Brüder oder Schwestern eines Elternteils, angeheiratet oder nicht, jünger oder älter an Jahren, noch lebend oder gestorben, geschieden, wiederverheiratet, verwitwet, Erst- der Zweitfrau oder -mann, usw. Alle Kombinationen gehen in die Hunderte wenn nicht Tausende. Man kann unmöglich für alle eine gesonderte Bezeichnung haben und selbst zusammengesetzte werden irgendwann unpraktisch. Murdock hat nun gezeigt, dass bevorzugt jene Verwandtschaftsbeziehungen gesondert bezeichnet und damit von anderen unterschieden werden, für welche es besonders geregelte Beziehungen gibt. Personen etwa, für die das Inzestverbot gilt, werden eher zu einer Kategorie zusammengefasst und häufiger von denjenigen unterschieden, für die es nicht gilt. Das Inzestverbot hält sich kulturübergreifend nämlich kaum an den biologischen Verwandtschaftsgrad, sondern bevorzugte Partner in der einen Kultur können in der anderen absolut tabu sein. Damit eine Kultur Ordnung in diese Dinge bringen kann, wer mit wem (Geschlechtsverkehr hat, die Ehe eingeht, zusammenlebt, gemeinsam wirtschaftet), braucht eine überschaubare, handhabbare Menge an Kategorien und Bezeichnungen. Die Form der Vereinfachung variiert aber eben erheblich.

Es geht bei diesen Heiratsregelungen aber nicht um Ressourcen im Familienverband, sondern auch um die Regelung von dessen Verhältnis mit anderen, als um die materielle und moralische Ökonomie im Austausch mit weiteren Familien. Dafür wird die Beziehungsgestaltung weiter schematisiert. Nicht nur welche Beziehungstypen es gibt, sondern es wird auch vorgeschrieben oder zumindest nahegelegt, mit wem. So gebieten viele Völker die Heirat eines Mannes mit der Tochter der Schwester des Vaters oder des Bruders der Mutter (die Kreuzkusinenheirat). Das erscheint zunächst beliebig, führt aber bei einigermaßen konsequenter Durchführung dazu, dass zwei männliche Linien fortgesetzt Frauen austauschen, denn wenn eine Familie als Reihe der männlichen Vor- und Nachfahren definiert ist, dann gehört eine verheiratete Schwester des Vaters zu einer anderen männlichen Linie und ihre Tochter wird dieser Linie zugerechnet. Umgekehrt könnte der Sohn der Schwester des Vaters wiederum die Tochter des Vaters heiraten, weil sie die Tochter des Mutterbruders ist. Mit diesem Tausch kann ein hohes Maß an Gegenseitigkeit zwischen zwei Familien hergestellt werden, zumal wenn dabei noch weitere Güter ausgetauscht werden. Selbst im einmaligen Fall gehen zwei Familien einer Verbindung ein, die bei einer Parallelkusinenheirat in patrilinearen Familienformen nicht unbedingt zustande käme (wenn ein Mann die Tochter der Schwester der Mutter heiratet bleibt das Paar bleibt bei Patrilinearität ganz in der Familie – aber auch sein Besitz!). Im modernen System, bei dem man abstammungsmäßig zwei Herkunftsfamilien zugehört, bzw. in einer je neue Familie geboren wird und eine solche gründen kann, herrscht ein verallgemeinerter Tausch, d.h. die Familien geben Söhne und Töchter zwecks Heirat, aber ohne Gegenseitigkeit. Eltern und Schwiegereltern tauschen in der Regel nichts mehr im eigentlichen Sinne aus und können sich recht fremd bleiben, die neue Familie sich von beiden absetzen. So ist die Gesellschaft, zumal ob ihrer Größe, nicht mehr durch Verwandtschaftsbeziehungen zu integrieren und zu befrieden, während es umgekehrt auch nicht mehr nötig oder legitim scheint, Ressourcen durch Heirat innerhalb derselben Linie in Familienhand zu behalten.

Es geht bei dem Aspekt der Ordnung und Befriedung nicht einfach um gemütliches Zusammenleben, sondern kann eine Frage von Krieg und Frieden, von Mord und Totschlag sein. Ressourcen müssen auch für die Verhinderung von Frauenraub und Vergewaltigung, Gattenmord und Fehden eingesetzt werden, Zweit- und Drittfrau (oder die seltenen Zweit- und Drittmänner) können in Streit verfallen, Männer (und je nach Praxis der Kriegsführung auch Frauen) im Krieg zu Tode kommen. Verteidigung muss also ebenfalls als wichtige Ressource gesehen werden, die ja nach der Art der möglichen Konflikte für individuelle Partner oder kollektiv geleistet werden muss und damit unterschiedliche Auswirkungen darauf hat, wie viele Personen man ehelichen kann und will. Außerdem können tödliche Auseinandersetzungen die Geschlechterverhältnisse verschieben und den Druck erhöhen (auch wieder abhängig von der Notwendigkeit, sich versorgt zu sehen!) mehr oder weniger Partner, diese oder jene Partner zu nehmen oder neben sich zu akzeptieren.

(Fortsetzung folgt)