Warum es uns andererseits nicht egal sein sollte, ob Relotiusʼ Geschichten falsch sind
Natürlich ist es nur in gewisser Hinsicht egal, ob Relotiusʼ Geschichten falsch sind (bei der Diskussion meiner und anderer Leute Thesen in einem Kolloquium konnte ich das noch einmal deutlich manchen). Man könnte mein Argument noch mal beispielhaft so zusammenfassen: Um zu verstehen, wie er die Redaktionen und Jurys dermaßen in den Bann ziehen konnte, müssen wir verstehen, was Jurys und Redaktionen eben so in den Bann zieht und warum. Wenn wir wissen wollen, wie er mit seinen Erfindungen durchkommen konnte, müssen wir herausfinden, was insgesamt in Redaktionen gegengeprüft wird und was nicht und warum. Oder auf einen anderen Gegenstandsbereich bezogen: Wir brauchen keine Forschung zur Verbreitung von „Fake News“, wenn wir ohnehin eine Forschung zur Verbreitung von Dingen auf sozialen Medien haben, wie eine Kollegin betonte. Bei allen solchen Untersuchungen müssen wir unsere Haltung zur Wahrheit und Falschheit von Aussagen einklammern, natürlich ohne dass wir sie aufgeben müssen. Im Gegenteil, sie können uns ja durchaus motivieren und die Relevanz unseres Gegenstandes und unsere kritische Stellungnahme zu sozialem Geschehen begründen.
Jedenfalls sollte mein Argument nicht beiseite gewischt werden mit der Schelte, mit der früher auch der so genannte radikale, in Wirklichkeit aber erkenntnistheoretisch etwas platte und performativ selbstwidersprüchliche Konstruktivismus in unserem Fach versehen wurde. Die Antwort lautete damals sinngemäß: Aber wo kommen wir da hin?! Was ist dann überhaupt noch wahr?! Soll denn alles erlaubt sein, kann man jetzt einfach alles erfinden?!
Die mit dem Symmetrieprinzip gefordert Urteilsenthaltung ist aber eben paradoxerweise notwendig, um bestimmte Urteile klar fällen zu können: Wir müssen unser eigenes Urteil über die Wahrheit einer Aussage ausklammern, um ein Urteil fällen zu können, welches die beste Erklärung dafür ist, dass andere diese Aussage glauben oder nicht. Die Urteilsenthaltung, der Relativismus führen also nicht in bodenlose Zweifel, sondern zu handfesten Erkenntnissen, auf die wir uns (vorläufig) als wahr festlegen.
Diese Lage führt zu einer paradoxen Verkehrung der Lager: Ein Erzpositivist wie Bloor konnte dann in die Nähe irgendwie radikaler Postmoderner gerückt werden. Die Erzpositivisten bei uns im Fach stürzen sich auf die Forschung zu „Fake News“, obwohl sie eigentlich konsistenterweise nicht nur werturteilsfrei, sondern überhaupt mit Blick auf die fraglichen Nachrichten urteilsfrei (im Sinne von: symmetrisch) forschen müssten. Und es ist paradox, dass Forschung, die sich des Urteils enthält, manchmal provokativer und kritischer ist als eine, bei der klare Urteilskriterien, ja sogar die Urteile bereits im Vorhinein feststehen.
Aber natürlich bin ich überzeugt von der Legitimität, ja der zwingenden Notwendigkeit normativer Forschung. Die Wissenschaft kann nicht alleine einen Typus von Aussagen beackern, nämlich Realitätsbeschreibungen, sondern sie sollte sie sollte auch normative Fragen mit der ihr eigenen Gründlichkeit systematisch und methodisch bearbeiten.
Ich muss gestehen, dass ich es nun nicht sonderlich interessant finde, die Richtigkeit journalistischer Aussagen im Rahmen einer normativen Qualitätsforschung zu erheben und zu vergleichen, wie jemand nahelegte. Journalistischen Beiträgen hinterherzurecherchieren ist vielleicht eher Aufgabe von entsprechenden Fachleuten, aber man kann dies natürlich auch als eine legitime Fragestellung in der Kommunikationswissenschaft ansehen. Ähnlich die Analysen zur Verbreitung so genannter Fake News. Hier erklärt die Zuschreibung der Unwahrheit zwar nichts und Festlegung der Stichprobe kann methodisch gefährlich werden, aber die Forschung kann hier mit ihrer datenanalytischen Kompetenz zu einer Problemdiagnose beitragen, indem sie die Dynamik der Verbreitung aufzeigt. Wichtiger wäre mir aber z.B. eine gründliche Diskussion und Operationalisierung von Diskurskriterien, etwa wie Ansprüche auf Wahrheit und Wahrhaftigkeit eingelöst werden sollten, eingelöst werden oder nicht. Das würde erst einen normativen Standard liefern, den man an inner- und außerjournalistische Beiträge anlegen könnte.
Gerade auch eine kritische Forschung, die grundlegender und normativer ansetzt mit ihren Erklärungen und Funktionszuschreibungen, muss sich bei der Analyse bestimmter Zusammenhänge des Urteils enthalten, um nicht zu Fehlschlüssen und Pseudoerklärungen zu gelangen, so sehr ihre Kategorien ansonsten normativ aufgeladen sein mögen.
Meiner Auffassung nach inspiriert der Fall Relotius zu I. politökonomischen Erklärungen und entsprechender Kritik und II. zu anerkennungstheoretischen normativen Forderungen (ohne dass ich hier zur klassisch z.B. bei Fraser und Honneth diskutierten Frage Stellung nehmen möchte, in welchem Verhältnis beide Arten der Kritik stehen).
I.
Es entspann sich zunächst in besagtem Kolloquium eine Kontroverse, ob die Fälschung völlig konträr zur Logik des Journalismus oder die natürlich Fortsetzung seiner Logik sei. Zunächst scheint klar, dass erfundene Aussagen sicher nicht konform zu den Normen des Journalismus und seinem Ansehen schädlich sind. Aber das natürlich nicht falsche Beharren auf Faktentreue im Detail blendet doch auf bequeme Weise die umfassendere Frage aus, welche Realität der Journalismus insgesamt konstruiert. Dass Relotius der platten Lüge überführt werden konnte, entlastet ferner von der Frage, ob die ideologischen Implikationen seiner Geschichten nicht auch problematisch waren.
Und vor allem stellt sich ja trotzdem die Frage, ob es nicht systemimmanente Gründe gab, warum er erfand, und ob es völlig beliebig war, was er in welchem Zusammenhang erfand. Die Erklärung sollte jedoch keine allzu platte Kommerzialisierungsschelte sein. Es gibt nämlich eine teilautonome Ökonomie eines elitären Journalismus, der im Grenzfall auf zweckfreie Diskursanregung, ja -erregung oder auf Bestaunen seines Stils und seines narrativen Aufbaues statt auf reinen Massenkonsum und unmittelbare Reichweitenmaximierung abzielt (und in dem dann die exotisierende Reportage oder auch die von jeder Betroffenheit und Perspektivübernahme entlastete Diskussion à la „Oder soll man es lassen?“ gedeihen). Erst indirekt über ein ähnlich gestimmtes oder (lustvoll) empört klickendes Publikum ist er auch kommerziell einträglich, aber teilweise vom Markt abgeschirmt. Seine Währung ist eher das kulturelle Prestige, ja die innerjournalistische Anerkennung (etwa in Form von Preisen oder des seltenen Lobes des Chefredakteurs).
Es handelt sich im Grenzfall um l‚art pour l’art, etwa um eine Kunstform der Provokation (mein eigener Vortrag war ja auch ein wenig eine solche Glosse eines privilegierten Schönredners oder -denkers – trotzdem muss sich die Forschung gerade vor Fehlschlüssen und epistemologischen Problemen hüten, wenn es um viel geht, etwa um die Wahrheit oder menschenfeindliche Ideologien. Relevanz und Engagement ersetzen ja keine systematische Theoriebildung und methodische Strenge…) oder eine Kunstform des Erzählens. Trotz augenscheinlicher gesellschaftlicher Relevanz des jeweiligen journalistischen Themas gewinnen die Atmosphäre, die Stilmittel, die tieferen Narrative die Oberhand über die wirkliche Beschäftigung mit dem Gegenstand bzw. die Begegnung auf Augenhöhe und die Widerständigkeit des sozialen Sachverhaltes.
Eine Kollegin wies überdies außerhalb des Kolloquiums darauf hin, dass gewisse Felder anfällig sind für einen Personen-, ja Wunderkinder- oder Geniekult. Hier zeigen sich nach ihrer Auffassung Parallelen zu jüngeren Fälschungsskandalen in der Wissenschaft (wo ja die Unwahrheit zu verbreiten ebenfalls systemfremd, die Währung der Reputation und der Drang nach sensationellen Neuigkeiten und nach „Geschichten“, die zu schön sind um wahr zu sein, aber ebenfalls tendenziell systemimmanent sind). Der Hype um eine Person gewinnt womöglich früher oder später Macht über die Betreffenden selbst, die dann liefern müssen und entweder glauben, anders als durch Fälschung nicht mehr liefern zu können, oder vor Entdeckung sicher zu sein. Und zugleich scheut das Feld davor zurück, einen Betrugsverdacht überhaupt zu schöpfen oder, wenn doch, ihn zu äußern und ihm nachzugehen.
II.
Welchen Schaden hat Relotius nun angerichtet? Ein Kollege betonte energisch, die relevanteste Frage sei doch die, in welchen Diskursen der Fall eingewoben und als Munition gegen die etablierten Medien gewendet werde (aber auch zur Reinwaschung des regelkonformen, professionellen Journalismus in Abgrenzung zu den Betrügern herangezogen).
Nun scheint klar, dass der Fall den Lügenpresse-Rufenden in die Hände spielt. Wie sollte er auch nicht? Aber auch hier ist es interessant, einmal von der Frage zu abstrahieren, wer nun mit welcher Kritik recht hat, und die Einflüsse und Bedingungen zu erörtern, welche dafür sorgen, dass der Fall einerseits gewissen Lagern Rückenwind verlieht, andere aber gerade darin bestärkt werden, dass sich Verallgemeinerungen über den Journalismus verbieten und er gerade besonders verteidigt werden müsse.
Ein ökonomisch und risikotheoretisch ausgerichteter Beitrag im Kolloquium kam zu dem Schluss, ein materieller Schaden sei den falsch Dargestellten (so es sie denn gab, oder den in ein schlechtes Licht gerückten Gruppen) nicht direkt entstanden – höchstens schwer greifbar auf Umwegen (was noch ein Grund sein könnte, warum es keine Anreize gibt, solche Vorkommnisse mit viel Aufwand zu verhindern bzw. unwahrscheinlicher zu machen, so führte er aus).
Es entstand stattdessen vor allem Schaden der Anerkennung bei den Betroffenen. Sie wurden in ihrer gemeinsamen Eigenart und persönlichen Identität nicht ernst genommen und nicht als vollwertige Gegenüber anerkannt. Eine solche anerkennungsbezogene Kritik der Medien muss freilich von der rechtspopulistischen Medienkritik abgegrenzt werden. Auch sie fordert letztlich Anerkennung, jedoch auf eine sehr ausschließende Weise. Sie behauptet ja letztlich, dass es innerhalb eines Landes nur eine wesentliche Perspektive und eine vor allen anderen anerkennungswürdige Identität gebe: die des „wahren“, weil angestammten und einer traditionellen Kultur treuen Volkes. Dies müsse sich dann auch in den Medien äußern, die ansonsten mit allerlei Beschimpfungen belegt werden, wenn sie dem nicht Folge leisten.
Freilich nutzt der Rechtspopulismus vor allem auch Normen der Demokratie und des Journalismus, um die Presse unter Druck zu setzen: Regeln der Ausgewogenheit und neutralen Berichterstattung zielen eigentlich auf Pluralismus, aber letztlich geht es im Rechtspopulismus vor allem um den eigenen Vorteil und die Konstruktion eines Opfermythos, während er anderer politische Lager und die Identitäten und Geltungsansprüche von Minderheiten eigentlich als illegitim ansieht.
Das bringt uns dazu, auch unser eigenes öffentliches Wirken zu reflektieren. Wir müssen exklusive Anerkennungsforderungen zurückweisen und dürfen nicht naiv in Diskurse hineingehen. Sonst legitimieren wir eigentlich nicht diskursbereite Gruppen und Akteure, welche „Kritik“ und Gründlichkeit simulieren (etwa durch Ausführlichkeit, scheinbaren Klartext oder einseitige Spiele des Zweifels), aber die sich in höchst asymmetrischer und manipulativer Weise auf diskursive Regeln berufen: Viele, die es schon immer gewusst haben wollen, was sich jetzt beim Spiegel gezeigt habe, tolerieren weitaus gravierende Normverletzungen, wenn sie die eigene Seite betreffen, geben sich aber als die gründlichen und mutigen Skeptiker, wenn sie raunende Fragen ohne konkrete Anhaltspunkte formulieren, und lassen gar Triumphgeheul vernehmen, wenn tatsächliche Verfehlungen der verfeindeten Seiten offenbar werden. Sie sprechen marginalisierten Gruppen oder auch nur abweichenden Parteien die Legitimität ab, fordern aber von diesen als gleichrangig, ja letztlich als unterdrückt anerkannt zu werden. Wir können nicht alle abschreiben, die den Medien misstrauen, auch weil diese ihnen letztlich ebenfalls teilweise die Anerkennung versagt haben. Aber der Versuch, sie zu erreichen und einen Diskurs über die Begründetheit dieser und jener Medienkritik zu führen, darf nicht bedeuten, dass man die Forderung aufgibt, dass alle Seiten den jeweils anderen diejenige Anerkennung zukommen lassen muss, die sie selbst verlangen.