So ziemlich das Gegenteil von Populismus

von Benjamin

Wenn „Populismus“ nicht nur ein Schimpfwort sein soll, sondern auch was aussagen, eine sinnvolle Unterscheidung treffen, dann müsste man wissen, was Populismus ist. Und damit auch, was Populismus nicht ist.

Populismus oder sein Gegenteil könnten vielleicht irgendwas mit Demokratie zu tun haben, möchte man vermuten. Etwa so: populus – Volk – Demokratie? Oder so: Populismus – irgendwie böse – keine Demokratie?

Nun, wie stehen denn Populismus und Demokratie zueinander? Schlaumeier, nicht zuletzt populistische, übersetzen das einfach mit „Volksherrschaft“ und glauben, damit sei die Sache erledigt. Weg mit all denen da oben, den Herrschenden, die nicht das Volk sind, „wir sind das Volk“, und das Volk an die Macht! Nur, was heißt das, das Volk an der Macht? Wenn man Demokratie nach dem Prinzip der Herrschaft denkt, dann ist das, wie wenn man den absolutistischen Staat köpft (den Monarchen guillotiniert oder davonjagt) und „das Volk“ an seine Stelle setzt. Das herrscht dann, und das ist richtig so, weil Demokratie (woher weiß der Populismus eigentlich, dass das die beste Regierungsform sein soll?). Nur, über wen herrscht denn das Volk? Über sich selbst, würde man meinen. Aber zu welchem Zweck und mit welchem Inhalt? Es muss ja feststehen, was das Volk will, damit es herrschen kann. Ja, streng genommen müsste das gesamte Volk einer Meinung sein, denn sonst herrscht nicht es, sondern vielleicht ein Teil davon. Aber wozu eine Herrschaft über ein Volk, das sowieso schon einverstanden ist? Was soll diese Herrschaft bewirken, wenn ja alle eh schon den gleichen Willen haben? Oder es läuft eben doch auf die Herrschaft der Mehrheit über eine Minderheit, oder über Minderheiten hinaus: die Kriminellen, Zugewanderten, Unangepassten, und auf Abgrenzung und Abwehr nach außen: gegenüber jenen, die nicht zum Volk gehören. Der Populismus muss also einige aus dem Volk herausdefinieren, um von Volksherrschaft reden zu können. Populismus als Wunsch nach der Herrschaft eines einheitlich gedachten Volkes statt der da oben.

Man hat nun gesagt, darum sei das Gegenteil von Populismus die liberale Demokratie mit Minderheitenrechten, Gewaltenteilung, freiem Mandat usw. Hierin liegt aber das Dilemma der Liberalen: Man glaubt fürchten zu müssen, dass die geschätzten Freiheiten nicht unbedingt mehrheitsfähig wären (ob das nun stimmt oder nicht) und muss auf Verfassungsgerichte als heimliche Gesetzgeber oder auf „unbequeme“ oder Gewissensentscheidungen von Abgeordneten und Regierungen hoffen. Manche haben dabei noch ein schlechtes Gewissen, weil’s irgendwie undemokratisch ist, andere sagen direkt, dass es angesichts des Populismus auch „zu viel“ Demokratie geben könne (gehen also von einem Nullsummenspiel zwischen Demokratie und Freiheitsrechten aus, und da beides irgendwie gut ist, muss es im rechten Maß gemischt werden). Und da liegt es nahe, dass andere wiederum den Populismus als Rettung der Demokratie gegen die „liberalen“ Eliten feiern, welche nach Gutdünken Verfassungen schreiben, auslegen, diktieren (z.B. auf Herrenchiemsee in den Block ihrer Sekretärinnen), und „liberale“ Meinungen diktieren (oder z.B. heute selbst in den Computer tippen, zwecks Veröffentlichung in der Lügenpresse, und damit allen aufzwingen wollen). Populismus als zu viel Demokratie, oder eben: liberale Demokratie als zu wenig Demokratie und Populismus als Heilmittel dagegen – beides liest man so auch in der wissenschaftlichen Literatur.

Aber wie wären Minderheitenrechte, wie wären Verfassungen zu legitimieren, außer demokratisch? (In vielen Verfassungen steht drin, dass alle Menschen die Rechte sowieso hätten, sie damit geboren seien oder so. Aber zur Sicherheit hat man dann doch über die Verfassung abgestimmt. Oder andernorts die Grundrechte nicht in diese hineingeschrieben, weil sie sich eh von selbst verstehen. Später aber dann doch. Usw. Aber wenn sie nicht vom Himmel fallen, muss man sie eben beschließen…) Und in einer heterogenen Gesellschaft müssen die Regeln der Demokratie liberal sein. Keine Gruppe darf sich auf Kosten anderer als das Volk definieren, sondern muss die anderen anerkennen: ihre Freiheit, zunächst einmal so zu sein, wie man ist; und dann die Freiheit, am politischen Prozess teilzunehmen statt als böse Elite oder nicht volksangehörig herausdefiniert zu werden. Das wäre aber nur ein Idealbild: eine freiheitliche Ordnung, welche demokratisch legitimiert wiederum die Teilnahme aller an demokratischer Politik ermöglicht. Denn schränkt nicht die real existierende liberale Demokratie die Teilhabe ein?

Ein Teil dessen, was der Populismus womöglich gar nicht so ganz zu unrecht verabscheut, ist aber nicht so sehr liberale Demokratie, sondern Technokratie. Auch hier wird nicht mehr die Vielfalt möglicher Interessen und Werturteile anerkannt, sondern Expertentum soll über die „richtigen“ Maßnahmen entscheiden. Nur bleibt das eben immer ein Werturteil: Man kann Probleme unterschiedlich sehen, unterschiedliche Ziele und Prioritäten haben. Man kann auch uneins sein über die Wahl der Mittel. Die Technokratie schiebt aber allen gleiche Ziele unter (bzw. redet gar nicht mehr über Ziele, sondern nur noch über alternativlose Maßnahmen).

Aber letztlich wird diese Technokratie, zum Teil über lange Ketten, durch repräsentative Demokratie legitimiert – so wird es zumindest dargestellt: Es werden Abgeordnete gewählt, die eine Regierung oder deren Spitze wählen, welche mit anderen gewählten Regierungen in einem Rat zusammenkommt, der Ämter mit Personen besetzt, die dann etwas entscheiden, usw. Da mag es dann irgendwann nur noch reiner Zufall sein, wenn am Ende eine Entscheidung mit demjenigen übereinstimmt, was sich die Wahlbevölkerung gewünscht hat, oder wenn sie dem zumindest im Nachhinein zustimmen könnte. Ein Heilmittel dagegen sollen nun Volksabstimmungen sein, welche auch von Populisten gefordert werden.

Nun setzen sich so manche für Plebiszite ein. Demnach wären z.B. grüne Parteien in verschiedenen Ländern populistisch – einige sehen das so, aber zumindest für Rechtspopulisten sind Grüne ja das leibhaftige Böse. Was will also der Populismus mit Volksabstimmungen und warum sind populistische Bewegungen und Parteien dann eigentlich so wenig basisdemokratisch?

Oft genug ist die populistische Forderung nach Volkabstimmungen der Ausdruck eines tiefen Misstrauens gegenüber Eliten und des Wunsches, bestimmte Probleme ein für alle Mal zu erledigen. Statt des endlosen Parteiengezänks wird das Volk geeint, entledigt sich der ihm fremden Elemente und Strukturen: Schluss mit der Zuwanderung, der EU, dem ganzen Schweinkram und Verbrechen, den Bankern und Politikern. Ein Plebiszit ist dann die einmalige Offenbarung des Volkswillens, nicht Teil eines Ringen, wo die Abstimmung nur der vorläufige und immer ein wenig unbefriedigende Schlusspunkt ist, an dem die Diskussion abgebrochen wird. Nicht Teil eines Alltagsgeschäfts, wo verschiedenste Interessen zu den unterschiedlichsten Streitthemen ausgehandelt werden müssen.

Und vielleicht ist die Volksabstimmung für den Populismus auch Ausdruck der Wut über das Zuspätkommen, über das längst Entschiedene, wenn man die Debatten nicht recht mitbekommen hat oder sich seit Jahrzehnten hätte einmischen müssen. Oder Ausdruck der Angst, was da noch von oben hereinbricht, das man nicht durchschaut und kommen sah. Durch sein statisches Verständnis von Volk und Volkswillen, durch seine Idee, Dinge ein- für allemal erledigen zu können statt ständig mitdiskutieren zu müssen, durch die Definition des eigenen Standpunktes vor allem in Gegnerschaft zu anderen (den Eliten) verpasst der Populismus oft genug die politischen Prozesse oder formiert sich zu spät, und reagiert dann nur noch (empört). Sofern er nicht selbst regiert. Und das ist ja vielleicht der wirkliche Traum, anstelle von Volksabstimmungen als Strafaktion für die Herrschenden: wahre Volksvertretung.

Der Populismus zieht eine Art der Repräsentation vor, bei der die Repräsentierenden den Repräsentierten fast auf magische Weise entsprechen, unmittelbar den einheitlichen Volkswillens (minus den der nicht Dazugehörenden) erfüllen. Dazu muss man nicht notwendig so sein wie die meisten. Es muss nur deutlich werden, dass man das Volk auf die richtige Weise verkörpert und in diesem Sinne mit ihm praktisch identisch wird. Das Volk bestellt, die Führung liefert, oder noch besser: liest die Wünsche an den Augen ab, ja kennt sie schon immer; das Volk verschmilz in seinen Repräsentanten, ohne lästige Verfahren. Im Grenzfall läuft das Cäsarismus oder Bonapartismus hinaus: Ein starker Mann, der weiß, was nötig ist. Dann braucht es auch nicht so viele Abstimmungen, Gremien und Ämter. Das erklärt dann die oft so hierarchische Struktur populistischer Bewegungen, die geringe Mitbestimmung im Innern.

Insgegheim ist es also wohl am ehesten der Traum des Populismus, sich ohne die ganzen komplizierten Verfahren gleich vertreten lassen von Leuten, die schon wissen, was man will. Oder das zumindest sagen. Oder, was weiß man schon, wenn man sich nicht drum kümmert? Wer sich ganz und gar vertreten lässt, und sei es durch die charismatischsten und entschlossensten Vertreter des Volkswillens, wird nicht mehr vertreten, sondern ersetzt. Volksvertretung ohne ständige Einmischung oder zumindest Kontrolle durch das Volk ist Selbstabdankung, ist Glaube an die Magie, dass der Volkswille per Gedankenübertragung schon den Repräsentierenden zur Kenntnis gelangen werde oder dass alle auf geheimnisvolle Weise denselben Willen haben.

Für den Populismus ist die herrschende Politik ein Ausnahmezustand, der durch Entscheidungsschlachten in Form von Volksabstimmungen entschieden werden muss, oder gleich durch akklamatorische Einsetzung wahrer Repräsentanten, die das wahre Volk ganz und gar verkörpern. Das ist natürlich ein Idealtypus, kennen wir doch populistische Bewegungen, die als Parteien im alltäglichen politischen Betrieb mitmischen oder über Einzelfragen abstimmen lassen wollen. Aber auch wenn ein Kopftuch- oder Minarettverbot oder gar eine einzelne Ortsumgehung nicht das große Ganze sind, wird dabei doch irgendwie sehr allgemein und grundsätzlich klargestellt, was Sache ist: So nicht, ihr Ausländer und Politiker! (ich sehe zumindest diese Doppeldeutigkeit des populistischen Umgangs mit Einzelthemen und -maßnahmen).

Idealtypischer Populismus will also die Mühe, die Arbeit des Politischen umgehen, hält sie für überflüssig. Das steht doch eigentlich im Gegensatz zur sonst im Populismus oft vertretenen Auffassung, dass wer nicht arbeitet auch nicht essen soll (die Eliten, die auf unsere Kosten leben, oder z.B. die „Wirtschaftsflüchtlinge“). Aber als Populistin und Populist hat man bereits seine Pflicht erfüllt. Man hat die rechte Haltung, die sich in ehrlicher Arbeit ausdrückt, und dieser gesunde Menschenverstand und gute Wille stellen bereits sicher, dass der Volkswille vernünftig ist. Also muss nicht rumdiskutiert werden. Dieses ganze Gerede lenkt ja nur ab, schwächt die Tatkraft und verzögert das Notwendige, und soll sowieso die Leute irre machen, ist Ablenkung und Verdummung durch die Eliten. Und dafür ziehen sie einem das hart und ehrlich erarbeitete Steuergeld aus den Taschen und stecken es in ihre.

(Nur scheinbar weicht davon der besonders verschwörungstheoretische Populismus ab, der sich viel auf die Arbeit der Kritik zugute hält. Es wird nämlich zwar viel herumgezweifelt, aber ebenso detailversessen wie am Ende pauschalisierend, um dann aber doch nur zu bestätigen, dass man selbst vernünftig und im Besitz der Wahrheit ist. Das gesunde Volksempfinden muss zwar wieder von der Propaganda gesäubert werden, aber ist es einmal wiederhergestellt, besteht kein Anlass für mühsames Gerede und komplizierte Verfahren. Die schlussendliche Meinung entspringt doch mehr einer vermeintlichen Erleuchtung oder einem Wiederfinden seiner selbst als dem ständigen Studium und Dialog, die nie enden und nie zu endgültigen Ergebnissen führen. Die weitere Recherche liefert dann nur noch Futter – weitere Belege und Befriedigungen beim Durchschauen. Würde das Volk erkennen, was wirklich in seinem Interesse ist, wäre das die Erlösung der Welt und zugleich ein tragischer Verlust für die Heilsbringer, nämlich ihres Sonderstatus als Eingeweihte. Mit seinem Skeptizismus, mit der Kritik an Autoritäten mag der verschwörungstheoretische Populismus ein Kind der Moderne sein, weswegen er nicht einfach als Gegenteil derselben, als rückständig begriffen werden kann – selbst wenn der vermeintliche gesunde Menschenverstand daran glauben mag, dass konventionelle Institutionen wie die heterosexuelle Kleinfamilie oder der Nationalstaat ewig und natürlich seien und nur düstere Mächte das Gegenteil propagieren. Der Populismus hat sein moderne Lektion gelernt, aber oberflächlich: Demokratie ist irgendwie gut, kritisches Denken ist irgendwie gut. Aber man muss sich über die Methoden des Demokratisierens und Zweifelns im Klaren sein.)

Nun kann man die Benachteiligten nicht selbst für ihre Lage verantwortlich machen: Hättet ihr euch nur mehr an der Politik beteiligt und wärt nicht so faul gewesen, dann müsstet ihr nicht über Fremdherrschaft jammern! Die Voraussetzungen sind hoch und ungerecht verteilt. Aber dem Populismus wäre entgegenzuhalten: Man muss die Mühen des Politischen auf sich nehmen. Die bestehen aber nun nicht darin, seinen einmal gefassten Willen, seine Wahrheit und sein gesundes Volksempfinden, vielleicht auch seinen Zorn bei Gelegenheit an der Wahlurne oder in einer Versammlung abzuliefern und damit Schluss. Das ist Demokratie nach dem Prinzip des einmal gefassten und nie wieder in Frage gestellten Vorurteils, das dann massenhaft ausgedrückt als Mehrheit die verbleibenden Minderheiten überwältigt (zur Enttäuschung populistischer Bewegungen fällt die Mehrheitsmeinung dann oft nicht so aus wie ihr eigenes Vorurteil, weshalb sie eine Verschwörung erfinden müssen, welche den gesunden Menschenverstand systematisch verdorben hat). Das betrifft auch die Sprache: Politik ist ein ständiges Übersetzen in die Sprache der verschiedenen Bevölkerungsgruppen und auch fremder Staaten, die Sprache der Wirtschaft, Wissenschaft, Verwaltung usw., und zurück, nicht ein Dem-Volk-nach-dem-Maul-Reden. Das Gegenteil des Populismus ist auch nicht der Elitismus, der sich was auf seine stilvolle Sprache und Rhetorik oder auch nur seine Rechtschreibung zugute hält (oder sogar auf seine tatsächlichen Verschleierungstaktiken), sondern das Bemühen, die Fähigkeit zur Übersetzung zu verbreiten, und der Kampf gegen das Vorurteil, dass Dinge wahr sind, wenn sie nur forsch und eingängig genug ausgesprochen werden.

Zusammenleben in einer heterogenen Gesellschaft (und ich sage ausdrücklich dazu: Weltgesellschaft, nicht nur Nationalstaat!) braucht aber mehr als phantasierte Einstimmigkeit. Man kann den Populisten nur zurufen: Wehe, wenn ihr mal unter die Räder des mehrheitlichen Volkswillens geratet! Und das kann schneller gehen, als man denkt, denn da wird nicht lange gefackelt; der (vermeintliche, populistische) Volkswille lässt nicht mit sich reden, hat was gegen das Herumdiskutieren und Kompromisse. Kein Mensch ist immer in der Mehrheit. Die Definition dessen, wer das Volk ist, kann sich ändern, oder die eigene Lage oder Meinung – auf einmal ist man Sozialschmarotzer, ideologische Abweichlerin, Teil des Systems und der Elite. Das geht’s einem an den Kragen, mit Legitimation durch das wahre Volk.

Sich schlau machen, einmischen, organisieren, diskutieren; das Wechsel-, ja Säurebad der öffentlichen und private Debatte, durch das die Meinungen zuerst und immer wieder gehen müssen; die Freiheit der Lebensform und das Recht, Probleme zu aufzuwerfen; das Verhandeln und Problemlösen; das Weltbürgertum und die Anerkennung der anderen; direkte Demokratie mit dem Schwerpunkt auf öffentlicher Debatte und Repräsentation mit freiem Mandat, weil nach der Wahl die Diskussion erst losgeht, aber mit Programm, weil Charisma Aberglaube ist; organisierte Interessenvertretung und hilfreiche, unbequeme Expertise,… Das wäre was anderes.

Partizipative Demokratie – das wäre also das Gegenteil des Populismus (oder besser: das ziemliche Gegenstück, weil es nicht das eine Gegenteil gibt: Technokratie, liberale Verfassungsinstitutionen, repräsentative Demokratie, aber ja auch ganz andere Herrschaftsformen, die dem Populismus auch nicht schmecken würden – oder in die er sich, wenn man nicht aufpasst, verwandeln könnte…).

Ergänzung: Ich habe dann auch mal aufgeschrieben, was (Rechts-)Populismus auszeichnet – 42 Antworten auf die Frage: Was ist Rechtspopulismus?