Man kennt die Klage, dass man für andere oder „den Staat“ arbeitet – für Steuern und Sozialbeiträge, insbesondere wenn das Geld ins Ausland fließt, oder an Personen, die selbst nicht arbeiten. Es soll hier um die Norm gehen, die dieser Klage zugrunde liegt, nämlich dass jeder zur Arbeit verpflichtet sei und dann auch die Früchte derselben ernten dürfe, oder umgekehrt zugespitzt: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Dagegen wird hier ein Modell gestellt, das kollektive Notwendigkeiten und kollektive Pflichten annimmt. Der genaue Unterschied wird sich hoffentlich bald aufklären.
Bevor wir zur Frage kommen, ob jeder für sich arbeitet (bzw. arbeiten darf, sollte), die Frage der Steuern und Abgaben. Zunächst einmal ist die Entscheidung für oder gegen eine Abtretung von Erträgen an die Allgemeinheit teilweise eine Frage der Effizienz bei der Bereitstellung von wünschenswerten Dingen: Wir zahlen ja unter anderem, damit öffentliche Güter zur Verfügung stehen (von solchen unerwünschten Dingen wie Zinsen für übertriebene Staatsschulden sehen wir einmal ab – über die Berechtigung vorübergehender begrenzter Verschuldung kann man wiederum streiten). Jeder findet z.B. in gewissem Umfang Verkehrswege nützlich, auch wenn man sich über die Gesamtlänge und -fläche, die genauen Verkehrsmittel sowie die einzelnen Streckenführungen streiten kann. Nun tritt aber nicht jeder Bürger einzeln, wenn auch nach Abstimmung mit anderen, an eine Stelle des zu bauenden Verkehrswegs und richtet ein paar Meter der Strecke selbstständig her. Die einzelne Bürgerin überweist auch nicht, in Absprache mit weiteren, einzeln einer Baufirma einen gewissen Beitrag zur Erstellung des Verkehrswegs. Die Straße ist ein öffentliches Gut, dessen Erstellung und Nutzung nicht ohne Weiteres teilbar sind – wegen des Koordinationsaufwandes und weil einige sich als Trittbrettfahrer vor ihrem Beitrag (zum Bau oder für die Benutzung) drücken könnten, aber trotzdem die Straße nutzen würden (wir betrachten eine Maut für jegliche Nebenstraßen als eher unpraktikabel). Es kommt also allen oder zumindest vielen zu Gute, wenn alle sich von vornherein zu Beiträgen verpflichten oder sich entsprechenden Mehrheitsbeschlüssen beugen und wenn dann die Erbauung zentral geregelt wird (wobei der Auftrag dazu durchaus an auf dem Markt konkurrierende Anbieter gehen kann). Das ist, selbst wenn es einer langen Diskussion verschiedener Einschränkungen bedürfte, Lehrbuchwissen.
So weit erst einmal die kollektiven Güter, von denen allen mehr oder weniger profitieren, wenn auch nicht nach dem Alles-oder-nichts-Prinzip: Man kann streiten, wie viel Straßenbau, öffentliches Schulwesen, öffentlich-rechtlicher Rundfunk, Landesverteidigung, Polizei usw. als kollektiv organisierte und bezahlte Güter notwendig sind. Sofern man den öffentlich geplanten Maßnahmen mehr oder weniger zustimmt, sind Steuern und Abgaben dafür im Grenzfall lediglich Preise für Güter, die einem selbst nützen (deren Nutzung aber oft nicht teilbar ist), die man halt aber auf einem etwas anderen Weg zahlt, nämlich über den Staat statt direkt an einen bestimmten Hersteller. Das Teeren einer Straße kommt dem Betonieren der eigenen Garageneinfahrt gleich, nur dass die Straße noch andere nutzen und man sich die Kosten aufteilen kann. Umgekehrt ist mein Nutzen aus der Landesverteidigung deinem Nutzen nicht entgegengesetzt oder dazu zu addieren, sondern entsteht für uns gemeinsam und wird deshalb von uns sinnvollerweise gemeinsam finanziert. Wir sehen natürlich hierbei vereinfachend von Streitigkeiten über den Verteilungsschlüssel ab…
Es steht aber weiter außer Frage, dass unser Lebensstandard auf Arbeit beruht. So lange nicht alle Güter (einschließlich Dienstleistungen) technisiert erstellt werden können, muss jemand in der Gesellschaft arbeiten, auch damit öffentliche Güter bezahlt und erstellt werden können. Die Annahme lautet nun, dass prinzipiell jeder arbeiten sollte und aufgrund dessen einen Lohn verdient, von genau seiner Arbeit lebt. Hier stellen sich zwei Probleme: die Bestimmung und Rechtfertigung des Lohns, und die Frage, ob man für sich selbst oder für andere arbeitet und arbeiten sollte.
1. Aber was ist der Lohn für diese meine, deine usw. Arbeit? Würden wir alle so arbeiten, dass jeder für sich der Natur Rohstoffe in genau der Menge entnähme, die er oder sie gerade verarbeiten kann (angenommen, es gäbe genügend, so dass um die Rohstoffe kein Streit entbrannte), und dass jeder alleine hieraus ein genau definiertes Endprodukt herstellte, dann könnte man womöglich noch genau angeben, was der Wertbeitrag des Einzelnen wäre, und man könnte ihm oder ihr den Endpreis zurechnen. Nur die Verhältnisse, sie sind nicht so… Gewiss, es gibt allerlei Lehrbuch- und Buchhalter-Formeln zur Berechnung der Produktivität jedes Arbeitsbeitrags. Man könnte womöglich Marktpreise für Zwischenprodukte und alle Einzelleistungen herausfinden oder schätzen, aber Unternehmen sind gerade keine Märkte: Sie beruhen darauf, dass es sinnvoller erscheint, eine Leistung nicht in beliebig kleine, am Markt zu beschaffende Einzelleistungen zu zerlegen, sondern gebündelt in einer Organisation zu erbringen. Gewiss, es bilden sich für alle Tätigkeiten notwendigerweise Arbeitslöhne heraus („Löhne“ hier durchweg im weitesten Sinne, als Gegenleistung für jede Form von persönlicher Leistung), aber dass sie der Wertschöpfung durch genau die betreffende Tätigkeit entsprechen, trifft höchstens im (unrealistischen) Grenzfall zu.
Je höher die Löhne, desto unbestimmbarer ist in der Regel der Wertschöpfungsbeitrag der Arbeitenden, desto weniger standardisiert ist die Arbeit, und desto mehr verliert sich demnach die Preiskonkurrenz zwischen verschiedenen Bewerbern auf eine Stelle zugunsten letztlich niemals ganz vergleichbarer Eigenschaften und individueller Aushandlungen der Preise dafür. Umso preislich flexibler sind in der Regel auch die Endabnehmer der Leistungen, weil es sich nicht um ein standardisiertes Produkt handelt, sondern eines, wo man wenig Vergleichsmöglichkeiten hat und sich deshalb am geforderten Preis orientieren muss, ob dieser nun etwas geringere oder höhere Arbeitslöhne beinhaltet. Was Arbeit wert ist oder wert wäre, lässt sich also vielfach höchstens ungefähr schätzen – und das betrifft erst einmal den faktischen Wert der Arbeit, nicht den moralischen, also was man nicht nur tatsächlich verdient, sondern verdienen würde.
Man stellt sich Löhne weiter (faktisch und moralisch) als Anreize für Arbeit vor. Gewiss sind sie das. Aber wer von den Gutverdienenden würde seine Arbeit sogleich drastisch verringern, wenn man dafür weniger Lohn erhielte (analog zum klassischen Argument vieler Ökonomen gegen höhere Steuern)? Viele dagegen unter den weniger gut Verdienenden würden sogar bei gleichem Lohn ihre Arbeit wechseln, wenn sich eine bessere böte. Gewiss, man kann einen Manager dazu bringen, in seiner knappen Freizeit noch irgendwo einen Vortrag zu halten oder ein Buch zu schreiben, sofern sich das für ihn gewaltig lohnt. Aber brauchen wir diese Maximierung des Outputs? Sie trägt zum Bruttosozialprodukt bei und befriedigt mit Kaufkraft versehene Bedürfnisse. Man könnte damit aber auch andere Bedürfnisse befrieden, weniger effizient im Sinne ausgehandelter Marktergebnisse, aber womöglich berechtigter und letztlich befriedigender.
Auch sind Löhne nicht einfach ein Beitrag zur Deckung der Herstellungskosten der Arbeitskraft, selbst wenn manche mit Blick auf die finanziellen Anreize eine Ausbildung abschließen oder nicht. Auch wenn einem in Ausbildungszeiten Löhne entgehen, gehen diese später häufig über diese Ausfälle hinaus und orientieren sich auch nicht streng am sonstigen, womöglich variierenden Aufwand, um seine Arbeitskraft zu erhalten und erfolgreich vermarkten zu können: Löhne sind mehr als eine Ausbildungsvergütung und Werbungskostenpauschale.
Was sind sie denn nun? Während niedrigere Löhne für standardisierte Arbeiten sich durchaus einigermaßen an kalkulierbarer Produktivität orientieren (aber auch an Machtasymmetrien in Verhandlungen und am Organisationsgrad der Arbeitenden), sind höhere vor allem Prämien für Seltenheit (von Begabung oder einer bestimmten Erziehung und anderer sozialer Einflüsse auf das Arbeitsvermögen), für einen Glauben an Fähigkeiten, die keiner so recht überprüfen kann (Ginge es dem Unternehmen in diesem Quartal mit einem anderen Manager besser? Man kann es plausibel machen, beweisen kaum), gar für mehr oder weniger zufällige Prominenz (Es gibt in vielen Fällen Leute, die durchaus dasselbe leisten könnten. Nur sind sie eben nicht prominent. Es können auch nicht alle prominent sein. Wer es ist, hat einen gewissen Seltenheitswert). Erst die Seltenheit einer bestimmten Form der Arbeitskraft oder der Persönlichkeit überhaupt macht es notwendig, mittels hohen Löhnen die Betreffenden dazu zu bringen, genau so und dort zu arbeiten, wie und wo sie es tun, und zwar natürlich nur dann, wenn einigermaßen plausibel ist, dass durch die Arbeit ein Wert entsteht, der größer ist als der Lohn (in vielen Fällen ist dieser Wert eine Fiktion, eine Schätzung aus dem Bauch, wenn die Arbeitsleistungen eben nicht trennbar sind: gemeinsam entwickelte Ideen, Zwischenprodukte, die nie am Markt gehandelt würden, die Werte, die durch Zusammenspiel planender und ausführender Tätigkeit entstehen, die im Voraus nicht kalkulierbaren Einnahmen aus Werbeauftritten Prominenter usw.).
Wenn wir uns umgekehrt im Gedankenexperiment vorstellen, es gäbe keine großen Lohnunterschiede und auch keine sonstigen geldwerten Vorteile und Annehmlichkeiten rund um die Arbeit, dann bestünde der Anreiz in der Arbeit selbst; die „Arbeitgeber“ (im weitesten Sinne) konkurrieren darum, die befriedigendste Form der Arbeit anzubieten, und würden sich möglichst geeignete Kandidaten für ihre Stellen auswählen, sofern sie sich bewerben. Wer würde dann welche Arbeit ausüben? Welche würden wir tun, welche die nach geltendem System Wohlhabenden, welche die weniger Wohlhabenden? Es gäbe keine Seltenheitsprämien und sonstigen Anreize, aber, so lässt sich behaupten, vielfach durchaus eine gewisse Motivation zu einer bestimmten Arbeit.
Wenn wir aber annehmen, dass prinzipiell jeder arbeiten müsse und genau für seine Leistung einen Lohn erhalte, sind wir aufgrund unserer Gesellschaftsform geneigt, uns die Ausnahmen nach dem Versicherungsprinzip vorzustellen. Das klingt so schön marktwirtschaftlich und selbstverantwortlich: Jeder arbeitet nach Kräften, und wenn man einmal nicht (mehr) kann (oder der am Markt gebotene Lohn nicht reicht), dann springt die Versicherung ein. Die Arbeitsunfähigkeit kommt über den prinzipiell Arbeitsfähigen wie ein Hagelschaden. Darin impliziert ist die Annahme, dass jeder grundsätzlich die meiste Zeit seines Lebens arbeitsfähig sei. Manche sind es aber nicht. Und die Renten„versicherung“ versichert heute ja auch nicht gegen mehr Arbeitsunfähigkeit, sondern alimentiert die per Renteneintrittsalter aussortierten. Wer nicht arbeitet und keine Beiträge eingezahlt hat, bekommt trotzdem Sozialleistungen, wenn auch teilweise weniger und aus anderen Töpfen. Sich alle Sozialtransfers nach dem Versicherungsprinzip, als Vorsorge der prinzipiell Arbeitsfähigen, vorzustellen, ist da eine Verschleierung der Tatsachen. Wir brauchen also eine tiefer reichende Metapher für Gerechtigkeit rund um die Arbeit. Individuelle Arbeitspflicht, Entlohnung und Versicherung sind wacklige Vorstellungen. Bei der Suche nach Alternativen kann die Frage, inwieweit der Wert der Arbeit einer einzelnen Person zugeschrieben werden kann und ihr ein Anreiz ist, zwar Anstoß für weitere Überlegungen sein, aber selbst wenn sie einigermaßen zu lösen wäre, sagt das noch nichts über die gerechte Verteilung von Arbeit und ihren Erträgen, über die moralische Eignung der gefundenen Zuschreibungsregeln. Denn was wird aus den längerfristig nicht Arbeitsfähigen? Wie gerechtfertigt sind Knappheitsprämien für die Leistungen der Arbeitsfähigen? Bevor wir zu dieser Frage kommen, aber kurz zu derjenigen, ob wir eigentlich wirklich für uns arbeiten oder ob wir nicht eigentlich das Gegenteil in vielen Fällen ohnehin akzeptieren.
2. De facto arbeiten also nicht alle, und für andere zu arbeiten ist normal. Selbst unter Arbeitenden wird nicht jede Tätigkeit aufgerechnet, sondern man leistet Gefälligkeiten auch am Arbeitsplatz. Das entspringt gewiss oft der Aussicht auf Gegenseitigkeit (A hilft B, und B dafür irgendwann A), aber viele entlasten auch ihre Kollegen ohne Gegenleistung, etwa weil jene körperlich benachteiligt sind, sich in schwierigen Lebensphasen befinden, aus reinem Wohlwollen usw. Natürlich arbeiten viele auch für Angehörige oder Partner, im Haushalt oder im Ehrenamt. Man kann sogar sagen, dass wir immer dann für andere arbeiten, wenn diese nicht so viel bezahlen, als sie zu geben bereit wären, sondern einen niedrigeren einheitlichen Marktpreis (die Differenz nennt der Ökonom die Konsumentenrente; sie entsteht, weil an Märkten oft nur ein einziger Preis genommen werden kann und nicht von jedem Konsumenten genau so viel, wie er zu zahlen bereit wäre – die Differenz entgeht dem Produzenten als Einnahme). Natürlich steht uns das Recht zu, die Erträge unserer Arbeit uns nahestehenden Personen zukommen zu lassen; trotzdem ist es nicht sinnlos zu fragen: Wer arbeitet für die Alleinstehenden hierzulande (insbesondere wenn sie nicht arbeitsfähig sind), wer z.B. gar für die Aidswaisen in Afrika?
Wir haben plausibel gemacht, dass man gar nicht so einfach sagen kann, jeder arbeite für sich und ernte die Früchte daraus. Es besteht aber auch gar nicht die Notwendigkeit, dass jeder arbeitet, selbst wenn alle es könnten. Es müssen nur ausreichend viele arbeiten (wie viele, das hängt von unseren Ansprüchen an das Wohlstandsniveau ab) – eine Notwendigkeit auf der Ebene des Kollektivs, nicht jedes Einzelnen. Und wenn nun einige nicht können, und selbst wenn alle könnten, ist es eine Frage der Gerechtigkeit, Effizienz und des Anspruchsniveaus, wer es tun sollte. Es besteht die kollektive Notwendigkeit und Pflicht zur Arbeit, nicht die individuelle. Selbst in einer Gesellschaft, in der alle als durchweg arbeitsfähige Handwerker nicht arbeitsteilig Produkte über alle Herstellungsschritte hinweg schüfen, könnte man sich auf Modelle einigen, nach denen nicht jeder immer arbeiten muss. Aus Gerechtigkeitsgründen würde man die Nicht-Arbeit gleichmäßig verteilen. In der realen Gesellschaft ganz anders. Es kann nicht um individuelle Pflicht zur Arbeit und ein natürliches Recht auf die wohlbestimmten Früchte daraus gehen, sondern um die Erfüllung der kollektiven Notwendigkeit der Arbeit und die gerechte Verteilung der Produkte und eine gerechte Entlohnung der Arbeitenden, indem man aber berücksichtigt, dass Arbeitsfähigkeit eine ungleich verteilte Gabe oder Last ist. Wir kennen längst intuitiv oder bewusst die Zweifel an und die Ausnahmen von der individuellen Arbeit und Entlohnung. Es käme nur darauf an, sie in eine systematische Vorstellung der gerechten kollektiven Arbeitsnotwendigkeit umzumünzen.
Der Mensch ist ein zum Altruismus fähiges Tierchen (nicht unbedingt ein von Natur aus immer altruistisches) und ein kooperatives (seine Tätigkeit geht in Ergebnissen auf, die sich nicht ohne Weiteres in die Einzelbeiträge der Individuen zerlegen lassen). Der Mensch ist ein Tier, das Bedürfnisse hat, die es nicht alleine erfüllen kann, selbst wenn es körperlich und geistig dem Normalmaß entspricht und erst recht dann, wenn es dahingehend Einschränkungen unterliegt. Man kann nicht alles selber machen. Denken wir also mehr von diesen drei Annahmen her und weniger von individueller Arbeitspflicht und Entlohnung. Dann kann man immer noch über Arbeitsanreize und gerechte Löhne reden.
(Fortsetzung folgt)