Synästhetische Soziologie

Versuche und Unterweisungen, die Gesellschaft mit Sinn und Verstand zu begreifen

Kategorie: Ökonomisches

Die kreolische Synthese: Steueroasen, Naturkatastrophen und Rumcocktails

Ein Gastbeitrag von Philipp Krämer, Linguist (oder Philologe) mit Schwerpunkt Kreolsprachen.

Des Wissenschaftlers Fluch ist es bekanntlich, dass immer alles mit allem zusammenhängt. Es muss nicht unbedingt synästhetisch sein, manchmal genügt auch die unendliche Synthese: Kaum hat man eine Schlussfolgerung gezogen, tun sich wieder drei neue auf. Verflochtene Zusammenhänge in die lineare Struktur eines Textes zu bringen bleibt solange schwierig, bis das mehrdimensionale Schreiben erfunden ist. (Strategien wie Verlinkungen und Verweise bieten Linderung, senden einen aber trotzdem immer nur zu einer anderen Stelle in einem wiederum linearen Text.)

Dass alles mit allem zusammenhängt, sieht und weiß auch der Kreolist. Wenn er auf einer Konferenz am Strand eines für Wissenschaftler eigentlich zu teuren Hotels den weißen Sand durch seine Zehen rieseln lässt, kann er zuverlässig darauf warten, dass ein Kollege an seinem Cocktail nippt und sagt: „Rum… the best by-product of creolisation.“ Die Wärme genießend hofft er darauf, von Naturkatastrophen verschont zu bleiben um ungestört zu grübeln, warum alles mit allem zusammenhängt:

Warum ist das Hotel so teuer, warum der Strand so paradiesisch? Wie kommt er zu seinem Rumcocktail, und warum fürchtet er die Natur?

Er sitzt in diesem Hotel, weil er sich mit großer Wahrscheinlichkeit in einem hochpreisigen Ferienreiseziel befindet: Mauritius, Seychellen, Jungferninseln, Bahamas, vielleicht auch Hongkong oder Macau. Sicherlich neigen Wissenschaftler dazu, für Konferenzen eine angenehme Umgebung auszuwählen. Sind die Linguisten, die sich mit Kreolsprachen beschäftigen, einfach besonders verwöhnt, elitär und verschwenderisch?

Möglich ist auch das, aber zunächst einmal reist der Sprachwissenschaftler doch am liebsten seinen zu erforschenden Sprachen hinterher (wenn er denn reist und kein „armchair linguist“ sein möchte). Den an Kreolsprachen interessierten Linguisten erwartet vor Ort nun also ein solches Netzwerk von Phänomenen, in dem alles mit allem zusammenhängt.

Kreolsprachen sind zunächst in ihrer typischen Entstehungsgeschichte Produkte der Kolonialzeit. Kolonien gab es viele, die allermeisten davon im tropischen Raum – dort fand man die Rohstoffe und Sklaven, die Europa für sich haben wollte. Die Tropen sind aber auch Wirbelsturmgebiet: Mindestens einen Hurrikan oder Zyklon muss der Kreolist erlebt haben, bis er auf einen Platz in der Fachgemeinschaft hoffen kann. Besonderes Pech für z.B. deutsche Wissenschaftler: Die vorlesungsfreie Zeit nach dem Sommersemester, somit die Konferenzperiode schlechthin, fällt ziemlich genau zusammen mit der atlantischen Wirbelsturmsaison.

Nicht alle tropischen Ex-Kolonien sprechen heute Kreolisch, vor allem eher selten die großen kontinentalen Gebiete. Stattdessen finden wir Kreolsprachen auf den kleinen tropischen Inseln. Für die Entstehung waren nämlich kompakte, eher abgeschlossene und durch die Sklaverei extrem ungleiche Gesellschaften besonders förderlich.

Kleine Inseln bringen aber weitere Merkmale mit sich: Sie sind zum Beispiel häufig für die Landwirtschaft nicht sonderlich rentabel, weil ihre knappen Flächen zu wenig abwerfen. Zu Zeiten der Plantagenwirtschaft mit kostenloser Sklavenarbeit konnte das Geschäft vielerorts noch aufgehen. Die Plantagen wiederum waren Geburtsort der Kreolsprachen und Ursprungsort der Rumherstellung. Während auf dem Feld nach und nach eine neue Grammatik aus den sprachlichen Ingredienzen des erzwungenen Zusammenlebens gebraut wurde, distillierte man zeitgleich seinen Zuckerrohrschnaps. Noch heute liest sich jede Liste der Rumproduktionsländer wie ein Who is Who der Kreolophonie: Jamaika, Barbados, Haiti, Réunion, Martinique und dergleichen mehr. (Kubaner und Brasilianer mögen mir das Auslassen ihrer Spezialfälle verzeihen.)

Nach der Sklavereiära war Zucker oder Kaffee nur noch aus Großbetrieben marktfähig. Für die war auf den Inseln kein Platz – oft genug weil das Relief es nicht zuließ. Wieder ein Zusammenhang: Nicht zufällig haben viele der Inseln ihren eigenen Vulkan, aktiv oder erloschen. Vulkangebiete haben zwar fruchtbare Böden, aber sie sind häufig genug auch zerklüftet, gefährlich und schwer zugänglich. Was also tun auf so einer Insel, die im Primärsektor nicht mehr mithalten kann, aber auch keine nennenswerten Bodenschätze oder Industrien hat? Man wird zum Dienstleister. Am besten für Dienste, die man nicht unbedingt am Mann verrichten muss – dafür ist die eigene Bevölkerung zu klein, die großen Bevölkerungen zu weit weg. Die Wahl fällt schnell auf das Finanzgeschäft, geboren ist die Steueroase.

Im Falle von Steueroasen sucht also nicht unbedingt das Geld sich die schönsten Orte aus (wer einmal in Monaco war, der weiß, wie Reichtum auch landschaftlich reizvoll gelegene Plätze entstellen kann). Es suchten sich umgekehrt die schönen Orte das Geld aus. Dem Anleger ist das natürlich recht, falls er überhaupt sein Offshore-Konto einmal am Platze besucht. Der Wissenschaftler mit knapperem Budget flucht darüber: Er kann sich das Hotel der Steuerflüchtlinge kaum leisten und interessiert sich ohnehin weniger für geldversteckende Europäer und ihre unsichtbaren Briefkastenfirmen. Vielmehr möchte er lieber dem kreolophonen Servicepersonal beim möglichst authentischen Gespräch untereinander lauschen. Selbstverständlich erst nachdem er seinen Ti Punch genossen hat, eine Vulkanwanderung unternommen oder eine Runde am Riff entlanggeschwommen ist. Denn auch das ist Teil der Berufsbeschreibung: Angesichts der bunten tropischen Meeresfauna ist kein Kreolist, wer nicht schnorchelt oder taucht. Aufsätze schreiben kann man sowieso am besten nach der Rückkehr zuhause im „armchair“. Vorausgesetzt, man ist gesund: Die Natur schlägt nämlich seltener in Form von Vuklaneruptionen zu, sondern sie bevorzugt die feine Ironie gegenüber dem tropenfremden Europäer. Der hat nicht etwa Gelbfieber, sondern aus den warmen Gefilden einfach nur eine Erkältung aus eisgekühlten Konferenzräumen mitgebracht.

Berliner Kneipen

„Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.“
(Goethe, West-östlicher Divan)

(für Mme H.)

Und wer nicht Wirt wird, der bleibt ewig Gast auf der dunklen Erde. Ziemlich viele werden Wirt in Berlin, und viele der Kneipen vergehen bald wieder und weichen immer neuen. Kaum einer fragt nach den Wirten und ihrem Werden, außer vielleicht der existenziell und poetisch denkende Ökonom: Ihm ist alles, das entsteht, nicht unbedingt wert, aber wahrscheinlich, dass es dereinst auch zugrunde geht – mal schneller, mal langsamer. Wirtschaft ist bekanntlich die schöpferische (poe(i)tische) Zerstörung. Kneipen also in Berlin entstehen und vergehen. Was mag uns das lehren?

Wir gehen intuitiv (und vielleicht von einem kulturtypischen Ordnungssinn geleitet) oder theorieverblendet davon aus, dass der Normalfall in der Wirtschaft das tragfähige Unternehmen sei, dass alle immer zahlungskräftig sind. Die Insolvenz erscheint uns als unschöner Ausnahmezustand, ein Normverstoß irgendwo zwischen Straftat und tragischem Unglück. So schwer dieses Schicksal sein kann, geht ja unsere Wirtschaftsordnung eigentlich von Unsicherheit aus: Zahlungsunfähigkeit steckt in den Zinsen schon drin, es gibt (teils wieder marktförmig organisierte) Institutionen zur Eintreibung von Zahlungen und zur Absicherung von Ausfällen, es gibt sicherere und spekulativere Anlagen, man fragt sich, wie viel Sicherheit man für wie viel Geld in der Marktforschung bekommt, usw. Es ist so zwar zynisch, den Gescheiterten zuzurufen, sie hätten es wissen müssen im Kapitalismus, wie es aber ebenso naiv ist, von einem immerdar rund laufenden Markt ewig bestehender Unternehmen auszugehen. Die erste Lehre ist also genau das Stirb und Werde, mit dem Zusatz, dass die Gescheiterten nicht unbedingt nochmal was werden – das Unternehmertum aller und das fröhliche Aufstehen nach dem Fallen sind ja doch Ideologie.

Viele Kneipen sind einander verdammt ähnlich. Natürlich gibt es Einzelstücke, einige davon erfolgreich. Für akademische Milieus sind Originalität und Individualität ein Wert an sich, aber das bekommen selbst wir nicht hin. Der wirtschaftstheoretisch perfekte Markt ist dagegen ohnehin der homogene: alle Angebote vergleichbar, kein Anbieter mächtiger als der andere, der günstigste mögliche Preis für alle. Was nicht ist wie der Rest, wird aussortiert: zu teuer, zu geringe Qualität usw. Natürlich ist ein solcher Kneipenmarkt unerbaulich und unrealistisch. Ich wage aber die These, dass typische Kneipenanfänger entweder ohnehin aus Milieus kommen, welche das Typische und Konventionelle mehr schätzen, oder aus solchen Milieus, welche standardisierte Formeln der Individualität und Unkonventionalität nutzen, oder dass sie schließlich von ihren Gästen denken, dass sie das Gängige oder eben die paradoxe pseudo-Originalität schätzen. Wenn jedoch die Kneipen eben in diesem Sinne standardisiert sind, dann hängen die Leute aus Bequemlichkeit an ihren Stammkneipen oder gehen in die am besten erreichbaren, und selbst wenn die Leute einigermaßen flexibel wären, hinge es vom Zufall ab, ob sich die Klientel nun gerade in der neuen Kneipe wiederfindet, denn Zufall heißt ja nicht gleichmäßige Verteilung. Keine guten Aussichten also für eine neue Standardkneipe, wo es doch scheinen könnte, dass es bei so vielen Kneipen auf eine einzige nicht ankommt und sich schon ein paar Kunden umverteilen würden, ohne dass wiederum andere gleich in den Ruin getrieben werden. Im Durchschnitt würde das stimmen. Im Einzelnen kann man ja bereits an ein paar Prozent Einnahmen zu wenig scheitern (natürlich auch grandioser) oder genau an der neuen, sehr ähnlichen Kneipe nebenan.

Oder man besetzt eine Nische. Dafür braucht man Ideen und Kundschaft. Dass beides zusammenkommt und -passt ist natürlich nicht sichergestellt, zumal in einem Bereich, in dem Marktforschung und auch nur systematische Marktbeobachtung nur die wenigsten durchführen (können). Und wenn man dann doch seine Nische gefunden hat, bleibt man nicht unbedingt lange alleine, und die anderen machen es oft billiger oder es entsteht sogar den Anschein, sie seien der eigentliche Prototypus. Mal gibt es Erstlingsbonus, oft kann man sich aber nichts dafür kaufen, etwas erfunden zu haben.

Die Lehre wäre also, dass wir uns nicht allzu sehr wundern sollten über die Ähnlichkeit der Kneipen. Das ist auch Unternehmertum. Umgekehrt dann auch nicht über das Scheitern statt einer gleichmäßigen Verteilung des Kuchens. Der homogene Markt ist ja auch nur so ein Modell. Man mag „theoriekonform“ scheitern, an zu hohen Kosten und nicht marktgerechtem Angebot. Es gibt aber auch ein zufälliges Scheitern, zumal in Märkten, in denen es vielfach so knapp zugeht wie in der Gastronomie. Zufallsfluktuation für den Markt, schicksalshafte Ungerechtigkeit für den Einzelnen.

Aller Anfang ist schwer. Aber unterschiedlich schwer. Bei den Münchner Mietpreisen etwa eine Kneipe aufzumachen, ist in vielen Vierteln eine Großinvestition. In Berlin aber eben etwas geringere Einstiegshürden. Auch sonst erscheinen sie relativ niedrig. Allerdings fragt man sich, ob gerade in diesem Gewerbe ein gewisser Informationsmangel besteht. Es scheint kein etabliertes Standardmodell für einfache Gastronomie (wir reden ja nicht von der Sterneküche) zu geben, also standardisierte Abläufe, eine Arbeitsteilung, ein Niveau an Servicequalität usw., an denen sich alle orientieren. Effizienz durch Imitation wie in anderen Märkten scheint hier nicht recht zu gelten. Manches erscheint improvisiert, zufällig, nicht recht vom Gast her gedacht: Wie man gerade Zeit hat, wie etwas fertig wird, wer gerade da ist oder nicht… Oder handelt es sich doch um ein ökonomisches Problem? Wären bestimmte Abläufe und Qualitäten durchaus gewünscht, sind aber einfach zu teuer? „Gutes Personal ist schwer zu finden“, hieß es früher in großbürgerlichen Kreisen. Der Versuch, mit möglichst wenigen Angestellten auszukommen und jeden alles machen zu lassen, die fehlende Schulung mancher Servicekräfte in grundlegenden gastronomischen Kenntnissen, eine gewisse Hast in der Abwicklung aller Bestellungen und zugleich Wartezeiten wegen Engpässen, das alles entspringt gewiss teilweise auch ökonomischen Rahmenbedingungen.

Trotzdem scheinen manche die Anforderungen zu unterschätzen. Mit der einfachen Gastronomie ist es so wie mit den Ausbildungsberufen und der Studienwahl: Viele halten sich daran, was sie kennen. Fast jeder war schon mal beim Frisör, unter einer Kfz-Werkstatt kann man sich etwas vorstellen. Leute aus Nicht-Akademiker-Familien strömen eher in Studienfächer, deren berufliche Bedeutung ihnen schon anschaulich geworden oder leicht vorstellbar ist, wie das Lehramt oder betriebswirtschaftliche Fächer. Gastronomie hat im Gegensatz zu vielen anderen denkbaren Kleingewerben ebenfalls etwas Anschauliches: Man glaubt zu wissen, was eine Kneipe ist und wie sie funktioniert, erwartet sich freundlichen Kundenkontakt und denkt womöglich vor allem an Bewirtung als eine grundlegende Fähigkeit, die einem aus Haushalt und Sozialleben vertraut ist, weniger an Buchführung und Vermarktung. Aber so ist eben noch nicht sichergestellt, dass alles perfekt fließt und aus der Sicht des Gastes angenehm und nachvollziehbar ist. Die beiden Perspektiven, von Gastronom bzw. Servicekraft und Gast, sind ja nicht deckungsgleich und trotz der Tatsache, dass wohl jeder schonmal Gast war, nicht beliebig zu koordinieren. Perspektivübernahme braucht einen Moment für den entsprechenden Gedanken oder sogar ein paar Worte (also geldwerte Zeit und Aufschläge für kompetentes Personal).

Die Lehre wäre also, dass die Gastronomie den Anschein des Unternehmertums für alle erweckt, aber so einfach dann doch nicht zu meistern ist.

Der Markt ist also nicht jener reibungslose Austausch, der auch mehr oder weniger kalkulierbare Risiken bereithält, die überall schon eingepreist sind und sich zu einem verlässlichen Gleichgewicht hin ausgleichen. Er ist nicht zuvorderst eine Ansammlung von Stehaufmännchen, die sich fröhlich ins unternehmerische Abenteuer stürzen, das Scheitern in Kauf nehmen und sofort wieder lachend aufstehen, wenn sie straucheln. Der Markt ist auch nicht durchweg jener Dschungel, wo große Bestien Kleintiere verspeisen, oder wo man im Dickicht mit Hieb- und Stichwaffen oder Giftpfeilen aufeinander lauert. Eine Form der Tragik liegt dann vor, wenn die Gründe des Scheiterns eines Helden seiner eigentlich nicht würdig sind. Nun hatten wir es mit einem Markt zu tun, dessen Protagonisten man nicht unbedingt als Helden besonderer Fallhöhe ansehen würde, sofern es sich nicht um Idealisten handelt, die eine Kooperative für lateinamerikanische Küche aus Biozutaten gründen. Tragik besteht hier ansonsten darin, dass der Untergang oft lautlos, mit einem Blick in die Bücher besiegelt wird, ohne Preis- und Werbeschlachten, Solidaritätskundgebungen, Tränen in der Familienvilla unter den Bildern der Unternehmensgründer, nächtliche Verhandlungen, sondern irgendwann macht die Kneipe einfach nicht mehr auf, oder man spaziert vorbei und Besitzer, Name und Einrichtung sind ausgewechselt. Dahingerafft von den Unwägbarkeiten der Kundenströme, den Umsatzschwankungen und sich aufaddierenden kleinen Fehlkalkulationen, Unkenntnissen und Ideenlosigkeit. Aber das beruht nur auf kneipenexistenzphilosophischen Spekulationen von außen.

Über Gebühren

Bildung muss eine Investition sein in die eigene Zukunft, hört man allenthalben. Nun denn, seien wir konsequent: Echte Investition heißt freie Entscheidung und eigenes Risiko. Wo hinein man wie viel investiert, muss der freien Wahl überlassen bleiben. Wer sich davon einen Nutzen verspricht, soll investieren dürfen. Es darf keine höhere Instanz geben, die beurteilt, ob man gut investiert, zum Investieren geeignet ist, vernünftig ist, denn es ist per Definition im Eigeninteresse der Investierenden, vernünftig zu sein. Andere können einen über die Investition informieren, mit ihren Vor- und Nachteilen, Chancen und Risiken. Ob sie Erfolg verspricht, muss man letztlich aber selbst wissen (auch ob eine Investition etwa noch mehr Vernunft beim Investieren bewirkt, wie es vielleicht die Bildung vermöchte?!). Das heißt nun: Über die Bildungsfähigkeit dürfen nicht andere entscheiden, sondern jeder und jede nach eigenen Gewinnerwartungen, etwa eines Einkommenszuwachses (Glauben Sie etwa einen anderen Nutzengewinn durch Bildung? Wo leben Sie denn?!). Wenn man sich einen Einkommenszuwachs durch Bildung verspricht, soll man Bildungsplätze nachfragen dürfen, sofern man zahlungsbereit ist und das Risiko in Kauf nimmt, dass sie sich nicht auszahlt. Zulassungsbeschränkungen nach Kompetenz sind dann systemwidrig, sondern wer sich Gewinn verspricht, muss gegen Gebühr studieren (oder sich sonstwie bilden) dürfen!

Das heißt weiter: Studienplätze (oder ja Plätze in Bildungseinrichtungen überhaupt, bis in den Kindergarten – alles was einen Nutzen bringt!) dürfen nicht vorab kontingentiert werden, sondern müssen so lange angeboten werden, wie einerseits ausreichend gute Lehrkräfte gefunden werden können, welche so lehren, dass das andererseits noch jemand bezahlen möchte. Die letzten Nachfragenden, welche noch für einen Bildungsplatz (welcher Qualität auch immer) kostendeckend zu zahlen bereit sind, müssten in einem Bildungsmarkt bedient werden. Das sind nicht notwendig alle (wo kämen wir da hin! There ain’t no such thing as a free lunch!). Die eigene Zahlungsbereitschaft ermisst sich im Grenzfall darin, dass Investitionen in Bildung vernünftigerweise höchstens gleich den erwarteten Mehreinkünfte sein sollten (sie können aber auch viel geringer sein, wenn man rentablere Investitionen findet!). Das heißt, alle investieren maximal so viel in Bildung, wie sie nachher mehr zu verdienen glauben. Bildungsinvestitionen können also im Grenzfall praktisch die gesamten Einkommenssteigerungen auffressen – das ist rational, denn so lange man durch Bildung nur einen Euro mehr verdient, sollte man vernünftigerweise auch bis zu einem Euro in sie investieren (schöne gerechte Welt der Grenznutzenlehre!), wenn es auch freilich viel lohnendere Geldanlagen geben könnte. Da aber Bildungsplätze niemals ganz umsonst zu haben sind, werden nicht alle potenziell Nachfragenden bedient, denn wenn man selbst sehr teure Betreuung bräuchte, um einen bestimmten bescheidenen Gehaltszuwachs zu erzielen, der aber in dieser Höhe nicht die Kosten dieses Bildungsgangs deckt, dann geht man leer aus oder fragt weniger oder billigere Bildung nach, die sich noch rentiert. Die geschicktesten Bildungsanbieter schöpfen aber möglichst viel von den Mehreinnahmen ab, welche sich die Bildungsaspiranten versprechen, und für wen sich Bildung nicht lohnt, möge sich leichten Herzens ohne begnügen. Es gibt ja so viele Möglichkeiten des Geldverdienens und der Freizeitgestaltung!

Das heißt aber natürlich umgekehrt auch, dass die Kosten der Bildungsgänge und die Anzahl der Plätze freigegeben werden müssen, denn sonst sind die Investitionen ja künstlich gedeckelt und man kann nicht diejenige aufwändige Bildung nachfragen, die einem den größten Nutzen verspricht und für die man zu zahlen bereit ist. Jedes beliebige Betreuungsverhältnis und jeder Bildungsinhalt müssen denkbar sein, wenn man anschließend dadurch mehr zu verdienen glaubt. Umgekehrt dürfen zahlungsbereite Bildungsnachfrager, wenn sie kostendeckende Preise zahlen können, nicht deshalb abgewiesen werden, weil künstlich die Zahl der Plätze begrenzt ist. Noch so bescheidene Bildung von einfachster Qualität muss angeboten werden können, wenn sich Anbieter und Nachfrager auf einen günstigen Gleichgewichtspreis einigen können! Irrtümlicherweise wird gegenwärtig das Recht auf Bildung an diejenigen vergeben, die bevorzugt aus politisch genehmen (nämlich vorgebildeten) Familien stammen, und bestimmt derzeit die Politik oder bestimmt die Bildungsoligarchie der Ordinarien selbst, welche Art von Bildung ihr gefällt und angeboten werden soll, welche Voraussetzungen man erfüllen muss, um in den Genuss von Bildung zu kommen. Einheitspreise (z.B. alles für 500 €) bei knappem Angebot durch zentrale Planung der Produktionsmengen, die bevorzugt der Nomenklatura zugute kommen, das ist ja Sozialismus!

Oder muss man es vielleicht anders betrachten?: Wenn sich der Beitrag einer Person zum gesellschaftlichen Wohlstand in ihrem Einkommen äußert, so kann ein relativ höheres Gehalt in verschiedener Weise zustande kommen. Den einen schenken die Natur, die Gottheit oder die Eltern Talente und Vorzüge, die offenbar einen solchen gesellschaftlichen Nutzen stiften, dass sie ohne große weitere Investitionen hohe Gehälter erzielen. Sie werden Star-Fußballer, Models, Self-Made Men oder Millionenerbinnen und andere lassen ihnen entsprechende Einkünfte infolge freiwilliger Marktgeschäfte zufließen. Andere bedürfen teurer Bildung, um auch nur annäherungsweise in ähnliche Einkommensklassen zu gelangen. Da Bildung nun eben Geld kostet, und das nicht diejenigen bezahlen sollten, die ihrer ob der Gnade der Geburt nicht bedürfen, müssten vorrangig solche Mehreinnahmen abgeschöpft werden, welche auf Bildung beruhen, statt solche Personen zur Kasse zu bitten, die ganz ohne Bildung Wohlstand schaffen! Eine Steuer auf bildungsbasierte Einkommen wäre also geboten, eine Sondersteuer für reiche Akademiker, sprich nachlaufende einkommensabhängige Studiengebühren. Die Unis werden dann schon lernen, Wohlstandsmehrer mit entsprechenden Löhnen hervorzubringen!

Doch anders besehen müssten eigentlich umgekehrt jene bezahlen, welche die Bildungseinrichtungen in Anspruch nehmen und Kosten verursachen, ohne später mehr ökonomischen Nuten zu stiften! Also wären die Folgerung nicht einkommensabhängige, und eigentlich auch nicht einkommensunabhängige, sondern Studiengebühren, die umgekehrt proportional sind zum Einkommen, die höher sind, je geringer das Einkommen trotz teurer Bildung noch ist.

Aber vielleicht muss nicht der Staat seine Bildungsausgaben wieder reinholen, sondern man kann die Bildungsstätten ja auch alle privatisieren. Aber was dann unbedingt Staat bleiben muss, das soll auch durch jene bezahlt werden, denen der Staat nützt. Denn überhaupt kostet diese ganze Bildungspolitik, einschließlich etwaiger Volksabstimmungen über Studiengebühren, ja viel Geld! Und das vor allem zum eigenen Nutzen der an der Politik Interessierten, etwa derjenigen, die zum Thema Studiengebühren abstimmen möchten. Es geht ja um ihr Recht, ihren Geldbeutel durch kostenlose Bildung zu schonen, oder anderen darum, so viel in genau diejenige Bildung investieren zu dürfen, wie es ihren Gewinnerwartungen entspricht, oder drittens sind wieder andere vielleicht auch für bildungssozialistische Einheitsgebühren für zum eigenen Vorteil kontingentierte Studienplätze. Wenn Politik derart der Mehrung des Wohlstandes dient, sollten ihre Kosten auf die Wählenden umgelegt werden, und zwar sollten vor allem jene zahlen, die sich den größten Nutzen versprechen. Politik dient eben genau dann der Mehrung des Wohlstandes, wenn vor allem just diejenigen an der Politik beteiligt werden, welche dafür am meisten bezahlen, weil sie den größten Nutzen daraus erwarten. Wenn also Politik von denjenigen bezahlt wird, die am meisten davon profitieren, dann wird wiederum genau jene Politik gemacht, welche die größte Wohlstandsmehrung verspricht. So wird schlussendlich klar: Wir brauchen eine Politikgebühr!

richtiges_leben

Wissenschaftler der Länder, vereinigt euch

Für diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die als Angestellt der Länder forschen, beginnen demnächst die Tarifverhandlungen. Tarifverhandlungen? Ist das nicht dieses lächerliche Ritual, wo Leute mit hässlichen Westen in Signalfarben auf der Straße herumstapfen und in Trillerpfeifen blasen, wo tagelang bis zur Erschöpfung hinter verschlossenen Türen palavert und gepokert wird, nur um eine von vornherein ungefähr feststehende Prozentzahl hervorzuzaubern? Selbst wenn man das für eine Karikatur hält und einige Forderungen hinsichtlich der Beschäftigung von Forscherinnen und Forschern anerkennt, so herrscht doch einerseits vielfach Unkenntnis und Desinteresse (wer hat nicht Besseres zu tun, als die Flugblätter und Webseiten der Gewerkschaften zu studieren?) und verhindern es das Berufsethos und die soziale Prägung vieler Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, dass sie sich näher mit Tarifverhandlungen und der Gewerkschaftsarbeit auseinandersetzen.

Der Wissenschaftler ist infolge seiner erworbenen Wahrnehmungsschemata und seines Selbstverständnisses abgestoßen durch die „Grobheit“ des gewerkschaftlichen Kampfes. In einem mehrfachen Sinne: Die Parolen der Gewerkschafter erscheinen ihm unzulässige Vergröberungen der sozialen Realität und platt formuliert statt tiefgehende Analysen und eleganter Formulierungen, umso mehr wenn die Gewerkschaft nicht nur höher gebildete Berufsgruppen organisiert. Die Wissenschaftlerin glaubt, dass ihre Forderung entweder schon gar nicht auf ein Transparent passt, oder dass man zumindest nicht die Slogans irgendwelcher Funktionäre unbesehen übernehmen könne. Grob erscheint ohnehin das Mittel der Demonstration und des Streiks: Physische Präsenz, Vermassung und Erpressung – das stößt den Wissenschaftler ab, der viel auf seine Individualität und Überzeugungskraft hält. Er ist ein Original und denkt selber; er hat per Beruf recht; wozu also in der Masse verschwinden und Druckmittel einsetzen? Die Akademikerin kann nur den Kopf schütteln: Die Politiker, die öffentlichen Arbeitgeber müssten es doch besser wissen! So viel Ignoranz und Inkonsequenz! So als sei Politik nur eine Frage der Einsicht und der intellektuellen Redlichkeit. Man mag die Utopie eines anderen politischen Prozesses hegen, in dem nicht Recht bekommt, wer am lautesten schreit und an dreistesten droht, wer am gewieftesten verhandelt und am geschicktesten lobbyiert. Freilich ist die existierende Politik nicht so schmutzig und unlauter, dass man nicht um den Preis von etwas mehr öffentlicher Präsenz und etwas mehr kollektiven Drucks den eigenen Argumenten Geltung verschaffen könnte.

Grob erscheint ferner die Repräsentation ein sehr heterogenen sozialen Kategorie wie der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler durch eine oder einige wenige Organisationen, einige wenige Sprecherinnen, einige wenige Unterhändler. Mehr als womöglich alle anderen sozialen Gruppen fürchten die Forschenden eine Enteignung durch Repräsentanten, eine Verzerrungen ihrer Haltung durch Delegation, ist doch ihr gesamter Wahrnehmungsapparat auf Differenziertheit und Originalität ausgerichtet. Das ist auch dem aufklärerischen Ideal gemäß, sich seines (eigenen) Verstandes (ohne Hilfe oder Stellvertretung anderer) zu bedienen. Freilich sagt auch die Logik kollektiven Handelns, dass man durch Zusammenschluss mehr – wenn auch nie alles – erreichen kann als ohne zentrale Repräsentation die je eigenen Forderungen individuell mit wem auch immer verhandeln zu wollen. Umso mehr, wenn das Gegenüber noch den Eindruck vermitteln kann, die Allgemeinheit (Steuerzahler, Bildungswillige, Öffentlichkeit, Quelle der Gesetzgebungsmacht usw.) zu vertreten. Man selbst ist dann schlimmstenfalls nur ein eigensinniger Querulant. Die Rolle der Akademiker kann hingegen im besten Falle sein, mittels ihres kollektiven Handelns die je besten Formen von Repräsentation vorzuleben, also sorgfältig gewählte Repräsentanten statt selbsternannte Volkstribunen oder PR-Agenten von pseudo-Graswurzelbewegungen, wohlabgewogene Programmatiken statt derjenigen erpresserischen Logik einer Delegiertenversammlung, welche ohne Diskussion ein „sozialistisches“ Abstimmungergebnis zum Ruhme der Führungspersönlichkeiten produzieren soll, usw. Es gibt keinen einfachen Ausweg aus dem Dilemma, dass kollektive Interessensvetretung eine homogene Gruppe erst erschafft, die so eigentlich nicht existiert, dass Repräsentanten pauschal formulieren, ohne dass das der Sichtweise aller Vertretenen exakt entspricht, dass Repräsentation immer ein Stück souveräner Selbstentmachtung darstellt. Die einfache Lösung ist, sich nicht zusammenzuschließen und sich nicht vertreten zu lassen, sich für unvertretbar zu erklären. Der Preis kann aber sehr hoch sein, und die Einfachheit dieser Haltung entspricht eigentlich nicht dem wissenschaftlichen Ethos, sondern ihm gemäß wäre eigentlich eher die Reflexion auf die Paradoxien der Repräsentation und die Suche nach den besten Verfahren kollektiver Organisation.

Grob erscheint schließlich der Kampf ums Geld überhaupt. Würden wir den Job um des Geldes willen machen, würden wir ihn nicht machen. Gewiss hätten wir nichts gegen bessere Bezahlung, sichere Verträge und ganze Stellen einzuwenden, und der Vergleich mit manchen ehemaligen Kommilitonen, die nun in der Privatwirtschaft arbeiten, offenbart absurde Lohndifferenzen. Aber der Leidensdruck ist für Idealisten nicht groß genug. Sie leiden lieber im Stillen an der Irrationalität der Politik und des Kapitalismus, spötteln in der Mittagspause über die Ungerechtigkeiten im Hochschulwesen. Wenn die Situation nur gründlich durchschaut, die Ideologien zergliedert, die Schlechtigkeit der Welt mittels Insiderwitzen satirisch gebannt ist, dann scheint unsere Arbeit getan und unser Wesen verwirklicht. Durchschauen (oder zumindest im Glauben leben, dass es gute Leute gibt, deren Spezialgebiet das ist), nicht Durchgreifen. Die Analyse neutralisiert die Probleme, hält sie auf Distanz: Alles lässt sich erklären, der Vergleich zeigt, dass es noch schlechter kommen könnte. Einfach nur ein paar hundert Euro mehr zu verlangen, das ist so unsophisticated. Klassenkampf ist nicht der state of the art der wissenschaftlichen Gesellschaftsdiagnose.

Natürlich gibt es viele Ausnahmen, sehr aktivistische und politische Forscherinnen und Forscher. Aber im Durchschnitt über die Fächer, und in einigen ganz besonders, liegt eine Population vor, die beim Eintritt ins System bereits vorsortiert ist: idealistisch auch im schlechtesten Sinne, dabei aber in vielen Dingen vor der Zeit desillusioniert, zurückhaltend, auf eine theoretische Haltung in einem sehr ursprünglichen Sinne verpflichtet (von altgriechisch theorein, anschauen), kritisch und deshalb ohne die naive oder interessengeleitete Begeisterung für politische Spiele, altruistisch und zugleich von der Durchtriebenheit und dem Materialismus der anderen abgestoßen, selbstkritisch, aber gerade selbstbewusst genug, um zu glauben, dass man sich nicht hinter anderen „verstecken“ müsse, was die eigene Meinung betrifft.

Dass die Länder seit Längerem nicht mehr gemeinsam mit Bund und Kommunen (und einige Länder nochmals gesondert) ihre Tarifverträge aushandeln, kann sie ständig zur Spekulation verleiten, dass bei ihnen besonders viele harmlose und nützliche Idioten (von altgriechisch idiotes, für Personen, die nicht aktiv am politischen Leben teilnehmen) beschäftigt sind. So lange aber nicht die Könige Philosophen und die Philosophen Könige werden, was auch im alten Griechenland nie eintrat, wird man mit gewitzter Analyse und spöttischer Rede alleine nicht weiterkommen (schon gar nicht begrenzt auf das Mittagessen im Kollegenkreis), sondern bedarf es einer „Realpolitik der Vernunft“, welche mit wirksamen Maßnahmen auf gerechte Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft und ein aufgeklärtes Gemeinwesen hinwirkt. Dazu würde gehören, wann immer es irgendwie mit dem eigenen Gewissen zu vereinbaren ist, zumindest als passives Mitglied einer Gewerkschaft beizutreten, um damit zu signalisieren, dass einem hochschulpolitische Auseinandersetzungen und die Tarifentwicklung nicht völlig gleichgültig sind und so die Verhandlungsposition der Arbeitnehmervertreter zu stärken. Einmal ganz grob gesagt jedenfalls.

Verschleierungen

Wir alle kennen den Ausspruch Marxens, Religion sei das Opium des Volkes. Erving Goffman dagegen befand: „Gender, not religion, is the true opiate of the masses.“ Welches er ungefähr so meinte, dass die Konzentration auf Geschlechterunterschiede wesentliche Ungleichheiten in der Gesellschaft verschleiere und letztlich ein Wahrnehmungsschema liefere, mit der allerhand soziale Sachverhalte auf vermeintlich natürlich Ursachen zurückgeführt werden, so dass sie nicht länger problematisch erscheinen. Kurioserweise sind viele geneigt, Geschlechterunterschiede in Deutschland ob der (vermeintlich) herrschenden großen Freiheiten in der Tat auf natürliche Ursachen zurückzuführen, während in der so genannten islamischen Welt eine gesellschaftliche Unterdrückung der Frau erwiesen scheint. Und diese dann alleine religiös zu erklären: Islam halt. Womit wir bei den beiden Eingangszitaten wären. Religion und Geschlecht ersetzen die nähere Analyse der verworrenen kulturellen Ursprünge geschlechtsspezifischer Vorstellungen und der sozialen Unterschiede in verschiedenen Ländern. Nun muss man nicht bestreiten, dass es Personen gibt, welche sexistische Normen als eine Interpretation des Koran lehren und Geschlechterdiskriminierung religiös begründen, auch hierzulande. Trivial. Nur wer kennt schon die Traditionalismen, die keine näheren muslimischen „Verschleierung“, keiner Verhüllung in Verse heiliger Schriften bedürfen, um Unterdrückung und irregeleitete Vorstellungen zu schaffen? Wer kennt umgekehrt all die Traditionen, welche den einen oder anderen Aspekt der Gleichberechtigung begründen? Wer kann schon zweifelsfrei diese oder jene Einstellung auf religiöse Zugehörigkeiten, oder aber auf viel ältere Traditionen oder auf ein gar nicht an Religion festzumachendes soziales Milieu zurückführen? (D.h., reden wir bei den „Muslimen“ in Deutschland nicht eher über bildungsferne Landbevölkerung aus uralten patriarchalischen Gesellschaften, die zu einer entwurzelten Arbeiterklasse zweiter Klasse und dann einem städtischen Prekariat umgeschmolzen wurde? Reden wir bei der „islamischen Welt“ nicht über fragile autoritäre Staaten mit teils von oben verordnetem Laizismus, teils taktischer Inanspruchnahme der Religion für verschiedenste politische Zwecke, mit offenen oder verdeckten Kämpfen zwischen verschiedenen Milieus?) Und wie bequem ist die Vorstellung, das hänge alles mit dieser einen Religion zusammen; diese sei auf Misogynie, bestenfalls noch einen weltlichen Allmachtsanspruch, zu reduzieren – wobei man leichten Herzens eingesteht, dass „wir“ auch einmal eine solche Religion hatten, die aber nach einer vermeintlich allumfassenden Aufklärung ihre Macht und ihren Schrecken verloren habe. Sowohl die stereotype Zuschreibung von allerhand Problemen auf den Islam (so als gebiete er gar noch Jugendkriminalität von Zuwanderern) wie auch die wohlwollende Differenzierung zwischen allerhand Strömungen und Auslegungen (so interessant sie ist) oder der gut gemeinte Vergleich mit der früheren kirchlichen Hegemonie in Europa – sie alle verschleiern doch in ihrer Summe die sozialen Verhältnisse hier wie dort, die Herrschaftsverhältnisse und Benachteiligungen, die Traditionen und Wandlungen, die Machtkämpfe und Kämpfe um die alltägliche Lebensführung.

Wenn nun Reisende z.B. nach Istanbul kommen, so wie ich dieser Tage, werden sie so ihre Vorstellungen haben und dieses und jenes sehen. Und anderes wird ihnen verborgen bleiben, teils verschleiert durch ihre Art der Wahrnehmung, teils ihren Blicken entzogen.

Straßenszenen aus Istanbul also. Die Kopftuchträgerinnen etwa, die man so sieht, zerfallen in höchst verschiedene Kategorien. Etwa: mehrfach erblickte Grüppchen von Frauen mittleren Alters, aus wohl eher einfachen Verhältnissen, welche an einer ruhigeren Stelle innehalten oder vor Häusern sitzen und kräftig qualmen; sportlich, aber züchtig gekleidete junge Frauen in Händchen haltenden Paaren auf den Einkaufsstraßen und Flanier- und Ausgehmeilen; ältere Frauen mit lose übergeworfenen Tüchern, welche eifrig auf den Bürgersteigen Waren feilbieten; erkennbar teuer gekleidete jüngere Frauen mit edel gemusterten, elegant fallenden Stoffen und anmutiger Silhouette (wenn man derart dem gar nicht so diskreten Charme einer Art Bougeoisie verfallen darf); vollverschleierte Frauen, die aber meist arabisch sprachen; Moschee-Touristinnen mit geliehenen und teils seltsam drapierten und verwickelten Tüchern, usw. Verschleierung: als habe man hier den Kern der Sache und nicht nur die Hülle.

Sofern der Reisende sich nicht verläuft oder Personen aufsucht, sieht er dagegen nicht unbedingt die unbewohnten Straßenzüge, die anmuten wie nach einem Kriege: ramponiert, fensterlos, Schutt auf der Straße, unbeleuchtet.

Schließlich wird der Reisende nur unter besonderen Bedingungen Berichte von kritischen Akademikern und Internetaktivisten über Zensur des Webs und Verfolgung politisch unliebsamer Personen und Gruppierungen hören. Ich hatte das Glück und weiß nun, wie türkische Nerds und resolute Akademikerinnen aussehen: Sie tragen auf der Straße keine für den Reisenden (vermeintlich) eindeutigen Erkennungszeichen wie etwa Kopftücher, legen es nicht notwendig auf Sichtbarkeit im öffentlichen Raum an oder können diese wegen Repressionen oder mangels Masse nicht erlangen (einige Demonstrationen gelangen jedoch durchaus). Und während man von spektakulären Fälle vielleicht gelesen hat (YouTube über Jahre in der Türkei gesperrt), wird man wenig auf all die Fälle kleiner kritischer Websites und tapferer Journalisten und Aktivisten gestoßen, denen kein Prominentenstatus die Präsenz in den mitteleuropäischen Medien sichert. Etwa berichten Wissenschaftler und freiheitliche Hacker: Die technischen Maßnahmen sind zwar zum Teil stümperhaft umgesetzt, aber umso dreister als man die eigentliche Intention nur notdürftig mit Floskeln verschleiert, die kaum noch einen Anschein einer stichhaltigen Begründung aufweisen: Neben den bekannten vermeintlichen Vergehen im Bereich Terrorismus, Staatsgefährdung, Verunglimpfung (insbesondere Atatürks, dessen Porträt auf haushohen Transparenten gerade wieder zur feiertäglichen Zierde der Stadt dienten), Pornografie und Obszönität, Kindesmissbrauch und Glücksspiel sowie Verleitung zum Suizid, scheint es offenbar dringend geboten, Internetseiten zu bekämpfen, die gesundheitsgefährdende Heilmittel anpreisen und Drogenkonsum verherrlichen. Wegen der Dringlichkeit dieser Probleme ermächtigen sich die entsprechenden Ministerien und Behörden dann sogleich selbst, ohne nähere parlamentarische, gerichtliche oder öffentliche Kontrolle, Listen ganzer Websites zu verfertigten, die dem Bürger oder der Nation durch einzelne gefährliche Aussagen schaden könnten. Universitäten ihrerseits gelten der Administration nicht etwa als Orte des kritischen Geistes, an denen mündige Personen sich mit der vollen Breite von Meinungsäußerungen auseinandersetzen können, sondern als Ansammlung schutzwürdiger Individuen, denen nur die gründliche Filterung von Internetseiten Sicherheit und Seelenfrieden verheißt. In einem autoritären und paternalistischen Geist (der den etablierten religiösen wie säkularen Strömungen gemeinsam ist) regiert man in Fernsehserien hinein und erlässt schwammige Paragrafen, mit denen man flexibel und drakonisch aburteilen kann. Die Fälle inhaftierter Journalisten mag man selbst nachlesen. Verbesserung der Lage hin oder her.

Man kann nicht eine Gruppe der Benachteiligten bis Elenden gegen eine andere ausspielen. Aber Frauen mit Kopftüchern auf der Straße sieht man (und Besucherinnen spüren die Blicke der Männer, wenn sie durch manche Gegenden gehen), diejenigen zu Hause und viel der wirklichen Diskriminierung schonmal nicht, sieht auch nicht die wahren Unmenschlichkeiten einiger Traditionen und Praktiken, und schon gar nicht blickt man in die Gefängnisse, sieht nicht die Menschen, die vertrieben und deren Häuser für Einkaufszentren, Luxuswohnungen, Durchgangsstraßen und Geschäftshäuser abgerissen wurden, sieht nicht die ärmliche Landbevölkerung (und auch nicht die Superreichen in ihren abgeriegelten Wohnanlagen), nicht die Kämpfe in den fernen Bergen und die Flüchtlinge. Man kann darf sich bei der Beurteilung dieses herrlichen Landes, dieser herrlichen Stadt jedenfalls nicht zu sehr von Opiaten und Schleiern beeinflussen lassen.

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* * *

Es gibt ökonomische Mechanismen, die funktionieren, wenn allseits die unverschleierte Wahrheit bekannt ist. Etwa klassische Konkurrenz: Die Anbieter kennen die Preise der Konkurrenz, die Nachfragerin alle Preise aller Anbieter, und die Anbieter konkurrieren um den günstigsten, zu dem die Nachfragerin dann kauft, wenn der Preis unter der Schwelle ihrer Zahlungsbereitschaft liegt (deren ungefähre Höhe sie den Anbietern indirekt signalisiert, indem sie kauft oder nicht).

Andere ökonomische Mechanismus basieren aber auf einer Verschleierung, funktionieren nur, wenn sie nicht zu direkt hinterfragt und konterkariert werden, wenn Informationen zwischen verschiedenen Kunden spärlich fließen und Vergleiche zwischen Anbietern nicht oder nur rudimentär vorgenommen werden.

So auf dem Basar. Das Feilschen wird gerne als eine lediglich kulturelle Eigenheit angesehen, was es natürlich auch ist (auch wenn es sich etwa in Istanbul sehr spät durchsetzte, weil die Märkte früher sehr stark reguliert waren). Es hat aber auch einen ökonomischen Sinn, der freilich nicht zu deutlich ins Bewusstsein treten und ausgesprochen werden darf, sonst würde er auf Widerstand stoßen. Ein anderes Beispiel für einen derart nur verschleiert funktionierenden Mechanismus: Man darf den Austausch von Gefälligkeiten oder Geschenk und Gegengeschenk nicht zu direkt gegeneinander aufrechnen, sonst erscheint das Spiel leicht als widersinnig oder ungerecht und erfüllt nicht mehr seine Funktion, die nicht nur im Ökonomischen, hier verstanden im Sinne einer Versorgung mit nützlichen Leistungen, sondern im sozialen Zusammenhalt liegt. Beim Basar ist es umgekehrt: Die kulturelle Eigenheit hat einen eher verkannten ökonomischen Sinn. Die eigentliche Funktionsweise des Feilschens, die von den meisten Käufern eher nur erahnt wird, scheint mir zu sein, das einzuführen, was der Ökonom eine perfekte Preisdiskriminierung nennt.

Käufer haben unterschiedliche Zahlungsbereitschaften. Klebt man an alles einen Preis, gilt der für alle. Die einen werden das Produkt abnehmen, die anderen nicht. Handelt man mit jeder Käuferin einzeln, wird man die Ware auch nicht unter einem solchen Preis verkaufen, der ja in der Regel die Kosten widerspiegelt. Je nach den einzelnen Kunden kann man aber Preise deutlich darüber erzielen, wenn sich diese nicht untereinander austauschen – und selbst in diesem Fall ist ja kein Händler gezwungen, zwei Klienten denselben Preis anzubieten (die rationale Käuferin würde sogar einen höheren Preis akzeptieren, wenn er unter ihrer Zahlungsbereitschaft liegt und die Ware nirgendwo günstiger zu haben ist – aber Menschen neigen in solchen Situationen, wie man aus Studien weiß, eher zu Trotz und Abstrafung statt zum ökonomischen Kalkül). Vergleicht die Kundin wiederum die Anbieter, kann sie sie womöglich auch auf einen Einheitspreis herunterhandeln, der den Kosten entspricht, bzw. einen Preis in Höhe der Kosten des effizientesten Anbieters. Geschieht das nicht, tauschen sich also die Kunden nur rudimentär aus und vergleichen nur oberflächlich oder gar nicht (man müsste ja mit allen Anbietern äquivalenter Waren verhandeln), schöpfen die Händler überall die maximale Zahlungsbereitschaft ab und kassieren die gesamte so genannte Konsumentenrente (die Differenz zwischen einem Einheitspreis und der womöglich höheren Zahlungsbereitschaft) – die Händler dürfen nur die Kundinnen nicht mit überhöhten Anfangspreisen abschrecken oder müssen darauf vertrauen, dass diese schon wissen, dass sie den Anbieter auf ihre Zahlungsbereitschaft herunterhandeln können, falls diese über seinen Kosten liegt, ganz ungeachtet des Einstiegspreises. Außerdem darf sich keine Vorstellung der Form festsetzen, dass man z.B. die Händler immer auf etwa die Hälfte herunterhandeln kann. Dann wären die Einstiegspreise ja letztlich nur notdürftig verhüllte Endpreise. Entweder steigt der Händler dann immer mit derselben Forderung ein, dann könnte er auch gleich Preisschilder anbringen. Oder er taxiert die Kunden und setzt den ersten Preis verschieden an. Das ist aber eine unsichere Sache. Ergiebiger ist eine Mischung aus variiertem Einstiegspreis und dem Austesten der Zahlungsbereitschaft beim Handeln, sofern der Prozess nicht einfach auf eine Halbierung hinausläuft, sondern man womöglich darüber landet (die Differenz zur Hälfte würde dem Händler ja entgehen) oder darunter, aber so, dass der Händler noch Gewinn macht und ein Geschäft tätigt, das nicht zustande gekommen wäre, wäre die Kundin sogleich von der Vorstellung abgeschreckt gewesen, die Hälfte der Anfangsforderung zahlen zu müssen. Das System maximiert aber in der Tat nicht ganz die Erlöse der Händler, weil sie eben doch gelegentlich falsch taxieren und Kunden verschrecken, wenn diese nicht einfach stoisch und unabhängig vom Anfangspreis verhandeln.

Wenn anders als beim Tausch von Geschenken und Gefälligkeiten beim Feilschen auf dem Basar kulturelle Norm und ökonomischer Nutzen zusammenstimmen, neigt man von interessierter Seite wohl besonders dazu, eine solche Praxis vor Abweichungen zu schützen. In Bezug auf kulturelle Normen zeigen so genannte Krisenexperimente (die man besonders mit dem Namen Harold Garfinkels verbindet), wie stark sie verankert sind und welche Widerstände ihre Missachtung herausfordert: Der Forscher widersetzt sich ihnen einfach beharrlich und beobachtet die teils verdutzten, teils regelrecht aggressiven Reaktionen. Nehmen wir an, einer platzt wiederum auf dem Basar in ein Verkaufsgespräch und spricht den Händler direkt an (wie ich es beobachten konnte): Er habe auch Interesse an einem solchen Gegenstand, was denn man denn nun wirklich dafür bezahlen müsse, nachdem in dem Verkaufsgespräch noch kein präziser Preis gefallen ist (denn dazu kommt man erst später, nachdem – offizielle Sichtweise – der Kunde die Ware gewürdigt und man die Vorzüge und Mängel erörtert hat, oder – latente Funktion – man sich gegenseitig taxiert, die Zahlungsbereitschaft bzw. die Hartnäckigkeit des anderen ausgekundschaftet hat). Der Händler erscheint wie auf dem falschen Fuß erwischt, fasst sich aber schnell und weicht aus: Das könne man so nicht sagen, man möge sich doch erstmal die Ware genau ansehen, dann rede man später über den Preis usw. Also keine verbindliche Preisauskunft, schon gar nicht in Anwesenheit anderer Kunden. Über dem ökonomischen Mechanismus muss ein zarter Schleier ausgebreitet bleiben, an dem dann in harter, aber freundlicher Verhandlung gezerrt werden kann, bis er reißt.

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Sic vos non vobis (2)

Nun spricht man auch vom Recht auf Arbeit, was die ganze schöne Vorstellung, dass nicht jeder arbeiten müsse, gefährlich machen könnte. Dieses Recht kann man in zweierlei Sinne verstehen. Zunächst als Recht auf die Früchte der Arbeit, von dem man mit einigem Recht fragen kann, ob es nur den Arbeitenden zusteht: Ist nicht der eigentliche Zweck dieses Rechts die Erfüllung der Bedürfnisse, und sind diese nicht unabhängig von der Arbeitsfähigkeit? (Wir finden diesen Zwiespalt bei Marx, der einerseits beklagt, dass die Arbeiter durch die Kapitalisten um den vollen Ertrag ihrer eigenen Arbeit gebracht würden, der dann aber auch die berühmte Wendung verkündete: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“) Wir können zweitens das Recht als das auf eine sinnvolle, menschenwürdige Tätigkeit verstehen, indem das Leben des Menschen mehr als die Befriedigung seiner körperlichen Bedürfnisse sei, sondern er sich in seinen Produkten verwirklicht und wiedererkennt. Nun ist aber die Frage, ob das nur ein Recht, oder auch eine Pflicht sei: Gibt es eine Pflicht zur Selbstverwirklichung? Möglicherweise eine Pflicht, bei sich jene Fähigkeiten zu verwirklichen, um mit ihnen soziale Pflichten zu verwirklichen. Vielleicht eine für sich selbst wahrgenommene Pflicht, eine Pflicht einem selbst gegenüber, aus sich „etwas zu machen“. Aber eine darüber hinausgehende soziale Anforderung, jeder müsse sich selbst verwirklichen, ist fragwürdig, ein nicht freiheitlicher Perfektionismus. Ohne das länger diskutieren zu können, bestünde das ja wohl darin, andere zu ihrem Glück zu zwingen, und zwar nach durchaus strittigen Vorstellungen, was überhaupt Verwirklichung des Menschen insgesamt oder eines Einzelnen sei. Und wenn wir übrigens schon davon reden wollen, wie der Mensch von Natur aus sei, zum Beispiel sich durch Arbeit verwirklichend, dann ist gewiss auch festzustellen: Er ist auch ziemlich faul. Wenn aber das Recht auf Arbeit das Recht auf sinnvolle Tätigkeit durchaus bedeutet, so ist das ja nicht mit der herrschenden oder gesellschaftlich notwendigen Produktion zu verwechseln, sondern kann sich in allerhand Tätigkeiten, auch zum Nutzen anderer, verwirklichen, die nicht mit Lohnarbeit im engeren Sinne zusammenfallen. Die nach der bisherigen Argumentation nur sehr eingeschränkte individuelle Pflicht zur Arbeit darf also nicht unter der Hand dazu führen, dass einige als „überflüssig“ von jeder sinnvollen Arbeit ausgeschlossen werden. Umgekehrt wäre eine allgemeine Pflicht zur Arbeit noch keine Garantie, dass es sich um eine sinnvolle handelt – im Gegenteil: Man wäre umso mehr genötigt, auch unwürdige Tätigkeiten anzunehmen.

Eine etwas in die Jahre gekommene Theorie der Gerechtigkeit, diejenige von John Rawls, mag, trotz all der Schwächen, die zwischenzeitlich zu Tage getreten sind, unsere Intuition leiten, wenn wir ein gerechtes Ausmaß, Verteilung und Entlohnung der Arbeit bestimmen wollen. Ich referiere frei nach Rawls: Man stelle sich vor wir versammelten als vernünftige Menschen, bevor die große Lotterie des Lebens losgeht. Eine Zusammenkunft also in einem Zustand, in dem wir noch nicht wissen, an welcher Stelle der Gesellschaft, gar in welcher Zeit wir per Geburt und durch die Zufälle des Lebens landen würden. Wir wüssten weder unsere Position noch unsere eigene Ausstattung: körperliche Stärken und Gebrechen, Begabungen und Vorlieben, usw. Wir wissen, dass einige von der Natur beschenkt würden, sollen uns aber nun darauf einigen, wie eine Gesellschaft aussehen könnte, in der wir gerne leben würden, und zwar unabhängig davon, in welche Stellung wir darin aufgrund der Umstände gelangen würden. Und weil es um unser eigenes und eines Leben geht, möchten wir ausschließen, in einer miserablen Position zu landen, und sei es auch nur mit einer kleinen Wahrscheinlichkeit (denn wir wissen auch noch nicht, ob wir gerne Risiken eingehen werden oder nicht). Wir würden es uns ferner nicht wünschen, dass einige aufgrund ihrer Herkunft und Ausstattung große Gewinne einfahren und andere nur aus denselben Gründen schlechter ausgehen. Vorteile sollte es also, wenn überhaupt, dafür geben, dass man etwas tut, was allen und vor allem den am schlechtesten Gestellten nützt. Nur die Erträge seiner eigenen körperlichen oder sozialen Sonderstellung zu kassieren, das würden wir als ungerecht empfinden angesichts der Tatsache, dass einem das ganz ohne eigenes Zutun einfach so zufällt (zumindest wenn wir unparteiisch auf die Sache schauen – deshalb diese fast mythische Erzählung vom Zusammentreffen der Menschen vor ihrem Eintritt in die Gesellschaft hinter dem „Schleier des Nichtwissens“).

Es kommt Rawls und mehr noch seinen kritischen Schülern dabei nicht um auf Effizienz per se an, also die Maximierung der Güterversorgung überhaupt, der Summe oder des Durchschnitts des Wohlstandes. Es geht ihnen um Gerechtigkeit und das gute Leben, die Befriedigung der vielfältigen menschlichen Bedürfnisse, wobei natürlich Effizienz geboten ist: Verschwendung von Mitteln der Bedürfnisbefriedigung darf es nicht geben und sie müssen durchaus in ausreichender Menge vorhanden sein. Ganz besonders ging es ihnen aber darum, dass die je am schlechtesten Gestellten ein würdiges Leben führen können bzw. alle über einem Mindeststandard menschengemäßer Existenz leben (wir würden ungern in eine Gesellschaft eintreten, in der uns ein schlechteres Leben droht). Effizienz muss ja nicht nur Maximierung der Produktion heißen, sondern eben z.B. auch beste Erfüllung einer Norm gerechter Verteilung, oder maximale Produktion unter den Bedingungen genau dieser Norm, oder optimaler Ausgleich zwischen maximaler Produktion und einer Verteilungsnorm, oder…

Rawls war in einer Sache eher zurückhaltend: Er wollte sich nicht alleine auf die Pflichterfüllung Arbeitender verlassen, sondern ihnen Anreize über eine reine materielle Gleichheit hinaus bieten, sofern davon die am wenigsten Privilegierten profitierten. Das ist also nicht mit einer reinen Leistungsgesellschaft zu verwechseln, manche Kritiker gingen aber noch weiter: Mit welchem Recht könnte man Aufstockungen des Gehalts verlangen, die für andere unerreichbar sind, wenn es doch alleine darum geht, Benachteiligten zu helfen? Nun muss man sich keine rein auf moralischer Pflichterfüllung und Altruismus basierte Wirtschaft vorstellen. Aber man mag den für uns so selbstverständlich erscheinenden Gedanken ein wenig kritisch hinterfragen, wonach jede (Mehr-)Arbeit bereits moralisch nach Anreizen bzw. Vergütung verlangt, und sei sie auch zum Vorteil anderer. Dies kann natürlich kein Vorwand zu einer Ausbeutung von Idealisten durch diejenigen sein, die deren Produkte weiterverkaufen. Aber man sollte auch die Einschätzung in Betracht ziehen, dass mit einem gewissen, ausreichend üppigen Lohn oder Gewinnanteil die Leistungen einer Person für die Gesellschaft abgegolten sein könnten. So mag es zu einer Differenz kommen zwischen dem, was eine Person für diesen geringeren Lohn im Eigeninteresse leisten würde, und dem, was sie zusätzlich bei höheren Anreizen leisten würde. Die durch die höheren Löhne womöglich noch zu motivierenden weitergehenden Leistungen sind dann entweder verzichtbar, wenn es nur um Transaktionen zwischen ohnehin Begüterten geht und die Mittel andernorts mehr Nutzen stiften würden, oder es handelt sich um gemeinwohldienliche Aufgaben, die entweder freiwillig erledigt werden könnten oder gar als Pflichten erledigt werden sollten und mit einem würdigen Lohn immer abgegolten sind. Gerechtigkeit nur gegen Leistungsprämien zu üben ist ein Widerspruch in sich.

Bezogen auf die Vorstellung von Arbeitspflicht, die ja unser Ausgangspunkt war, heißt das: Entweder glaubt man an Arbeitspflicht im wirklichen Sinne – wozu dann noch Motivation durch Löhne? Oder man stellt sich das so vor, als schränke man die Arbeitspflicht auf ein Minimum ein und sanktioniere sie nach dem Prinzip „Wer nicht arbeitet, soll nicht essen“, und überlässe den Rest den Leistungsanreizen. Das würde aber bedeuten, dass man nur zur Arbeit im Gegenwert des Existenzminimums wirklich verpflichtet wäre. Mehr noch, es bräuchte keine eigentliche Pflicht, weil ohne Arbeit ja kein Existenzminimum gewährleistet wäre. Die Lösung scheint in einer Entkopplung zu bestehen: Pflicht zur Arbeit für die Arbeitsfähigen, und zwar über ein Minimum hinaus je nach der spezifischen Leistungsfähigkeit für gesellschaftlich nützliche Güter (deren Menge flexibel gehandhabt werden kann). Und andererseits: Recht auf Erfüllung wesentlicher Bedürfnisse aller, mit der die notwendige Arbeit, sofern man dazu in der Lage ist, moralisch abgegolten ist und die sonst der Menschenwürde wegen immer geschehen soll. Die Nützlichkeit bestimmter Prämien kann man dann noch zusätzlich erwägen.

Ich will mit alledem kein bestimmtes Modell, etwa von Einheitslöhnen, Mindestlöhnen, Lohnobergrenzen, Pflichtdiensten, stark progressiver Besteuerung usw. nahelegen, sondern nur einige moralische Überlegungen zur gesellschaftlichen Arbeit und ihren Erträgen anregen. Man möge sich also fragen: Inwieweit ist der Beitrag einer Person zur kollektiv notwendigen gesellschaftlichen Arbeit mit einem würdigen Lohn abgegolten? Inwieweit besteht nicht unbedingt die Notwendigkeit, dass jeder Einzelne immer arbeitet? Inwieweit besteht umgekehrt die moralische Pflicht der dazu Fähigen, ein bestimmtes Maß an nützlicher Arbeit zu leisten, ohne dabei besondere Prämien zur Motivation und für die eigene Sonderstellung zu verlangen?

Haben wir auch die Pflicht, den Verdammten dieser Erde zu helfen (mit den Erträgen unserer Arbeit)? Viele würden da zustimmen. Wir gehen einmal von einer schon etwas plausibel gemachten Position aus, indem wir vorläufig akzeptieren, dass man seinen Wohlstand nicht einfach für sich behalten kann, ob erarbeitet oder nicht. Viele fragen sich aber: Was soll ich da tun? Keiner kann alleine die Probleme der Welt lösen. Wir gehen hier wieder von einer individuellen zu einer kollektiven Pflicht über: Eine Gemeinschaft, die sich als gerecht versteht, muss für globale Gerechtigkeit sorgen und Bedürftigen weltweit zur Hilfe kommen. Die effiziente Erledigung dieser Pflicht verlangt geradezu, dass nicht jeder einzeln irgendwelche Hilfsaktionen startet, sondern dass sie koordiniert und in gewissem Umfang arbeitsteilig vonstatten gehen. Die Grenzen dieser Arbeitsteilung liegen darin, dass reiner Zentralismus zu Einseitigkeiten neigen kann und sich der effektiven Kontrolle entzieht, dass darum jeder in gewissem Maße über die Aktivitäten der Helfer informiert sein sollte, dass aber so nicht jeder gleichermaßen an der Erfahrung der Not und des Helfens teilhat. Teilweise lässt sich das aber durch Rotation beheben – nicht jeder muss immer ein wenig helfen, sondern vieler oder womöglich sogar alle einmal und dann konzentriert, in möglichst gerechter Aufteilung (was nicht zwingend exakt gleiche Aufteilung heißen muss).

Wir können die Überlegungen zu kollektiven Notwendigkeiten und Pflichten auch auf andere Bereiche übertragen als nur die Erstellung und Übertragung von Gütern und Leistungen im engeren Sinne. Weitere Beispiele für kollektive Notwendigkeiten und Pflichten sind Landesverteidigung und Rechtsdurchsetzung – wie umfangreich auch immer und wie sehr man fordern wird, dass diese Tätigkeiten möglichst gleichmäßig unter den dafür Tauglichen verteilt werden. Man hat etwa auch metaphorisch von der Reproduktionsarbeit gesprochen, da ja in der Tat das Gebären und Aufziehen von Kindern mit Arbeit verbunden ist. Es ist liberaler Konsens, dass niemandem die Reproduktion versagt werden sollte. Es ist übrigens nicht gänzlich konsensuell, ob man das Fortbestehen der Menschheit als Gut per se ansehen sollte (z.B. Schopenhauer und eine kleine Bewegung sind anderer Meinung). Hierum soll es aber nicht gehen. Sondern aufbauend auf diesem denkbaren Gut, wird man, wenn man es anerkennt, nur schlussfolgern, dass es keine individuelle Pflicht zur Reproduktion geben muss, sondern nur eine kollektive. Die individuelle Pflicht wäre womöglich schädlich (Selbstschädigung der Menschheit durch übertriebene Vermehrung) und die kollektive ausreichend (genügend Nachkommen für eine ausreichende Wahrscheinlichkeit, dass die Menschheit fortbesteht). Nur um diese Analogie, diesen weiteren Anwendungsfall der Unterscheidung kollektiver von individueller Pflichten sollte es gehen. Davon verschieden ist die Frage, ob es jenseits des genannten Guts ein weiteres gibt, das im Beginnen von Leben an sich besteht. Dann wäre in der Tat maximale Reproduktion zu fordern und wir redeten über etwas ganz anderes – aber nicht hier.

Kollektive Rechte und Pflichten sind nicht gleichmacherischer Kollektivismus, sondern gerade das Gegenteil davon. Weil wir verschieden sind, muss man erst über darüber reden, wie Rechte und Pflichten zu verteilen sind, wie gearbeitet und davon profitiert werden soll. Freiheit, deren Vernachlässigung man ja allen Ansätzen unterstellt, die nicht streng individualistisch sind, Freiheit also besteht darin, dass jede und jeder seine und ihre Bedürfnisse möglichst gut erfüllen kann, sein selbst gewähltes gutes Leben verwirklichen kann, ohne dass alle gezwungen sind, nach einem einheitlichen Schema tätig zu werden. Erst durch eine Auflösung des strengen Schemas der individuellen Arbeit und Entlohnung, der Effizienz bzw. Maximierung des Outputs und des Perfektionismus, gewinnt die Gesellschaft an Freiheitsgraden und an Gerechtigkeit.

Sic vos non vobis (1)

Man kennt die Klage, dass man für andere oder „den Staat“ arbeitet – für Steuern und Sozialbeiträge, insbesondere wenn das Geld ins Ausland fließt, oder an Personen, die selbst nicht arbeiten. Es soll hier um die Norm gehen, die dieser Klage zugrunde liegt, nämlich dass jeder zur Arbeit verpflichtet sei und dann auch die Früchte derselben ernten dürfe, oder umgekehrt zugespitzt: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Dagegen wird hier ein Modell gestellt, das kollektive Notwendigkeiten und kollektive Pflichten annimmt. Der genaue Unterschied wird sich hoffentlich bald aufklären.

Bevor wir zur Frage kommen, ob jeder für sich arbeitet (bzw. arbeiten darf, sollte), die Frage der Steuern und Abgaben. Zunächst einmal ist die Entscheidung für oder gegen eine Abtretung von Erträgen an die Allgemeinheit teilweise eine Frage der Effizienz bei der Bereitstellung von wünschenswerten Dingen: Wir zahlen ja unter anderem, damit öffentliche Güter zur Verfügung stehen (von solchen unerwünschten Dingen wie Zinsen für übertriebene Staatsschulden sehen wir einmal ab – über die Berechtigung vorübergehender begrenzter Verschuldung kann man wiederum streiten). Jeder findet z.B. in gewissem Umfang Verkehrswege nützlich, auch wenn man sich über die Gesamtlänge und -fläche, die genauen Verkehrsmittel sowie die einzelnen Streckenführungen streiten kann. Nun tritt aber nicht jeder Bürger einzeln, wenn auch nach Abstimmung mit anderen, an eine Stelle des zu bauenden Verkehrswegs und richtet ein paar Meter der Strecke selbstständig her. Die einzelne Bürgerin überweist auch nicht, in Absprache mit weiteren, einzeln einer Baufirma einen gewissen Beitrag zur Erstellung des Verkehrswegs. Die Straße ist ein öffentliches Gut, dessen Erstellung und Nutzung nicht ohne Weiteres teilbar sind – wegen des Koordinationsaufwandes und weil einige sich als Trittbrettfahrer vor ihrem Beitrag (zum Bau oder für die Benutzung) drücken könnten, aber trotzdem die Straße nutzen würden (wir betrachten eine Maut für jegliche Nebenstraßen als eher unpraktikabel). Es kommt also allen oder zumindest vielen zu Gute, wenn alle sich von vornherein zu Beiträgen verpflichten oder sich entsprechenden Mehrheitsbeschlüssen beugen und wenn dann die Erbauung zentral geregelt wird (wobei der Auftrag dazu durchaus an auf dem Markt konkurrierende Anbieter gehen kann). Das ist, selbst wenn es einer langen Diskussion verschiedener Einschränkungen bedürfte, Lehrbuchwissen.

So weit erst einmal die kollektiven Güter, von denen allen mehr oder weniger profitieren, wenn auch nicht nach dem Alles-oder-nichts-Prinzip: Man kann streiten, wie viel Straßenbau, öffentliches Schulwesen, öffentlich-rechtlicher Rundfunk, Landesverteidigung, Polizei usw. als kollektiv organisierte und bezahlte Güter notwendig sind. Sofern man den öffentlich geplanten Maßnahmen mehr oder weniger zustimmt, sind Steuern und Abgaben dafür im Grenzfall lediglich Preise für Güter, die einem selbst nützen (deren Nutzung aber oft nicht teilbar ist), die man halt aber auf einem etwas anderen Weg zahlt, nämlich über den Staat statt direkt an einen bestimmten Hersteller. Das Teeren einer Straße kommt dem Betonieren der eigenen Garageneinfahrt gleich, nur dass die Straße noch andere nutzen und man sich die Kosten aufteilen kann. Umgekehrt ist mein Nutzen aus der Landesverteidigung deinem Nutzen nicht entgegengesetzt oder dazu zu addieren, sondern entsteht für uns gemeinsam und wird deshalb von uns sinnvollerweise gemeinsam finanziert. Wir sehen natürlich hierbei vereinfachend von Streitigkeiten über den Verteilungsschlüssel ab…

Es steht aber weiter außer Frage, dass unser Lebensstandard auf Arbeit beruht. So lange nicht alle Güter (einschließlich Dienstleistungen) technisiert erstellt werden können, muss jemand in der Gesellschaft arbeiten, auch damit öffentliche Güter bezahlt und erstellt werden können. Die Annahme lautet nun, dass prinzipiell jeder arbeiten sollte und aufgrund dessen einen Lohn verdient, von genau seiner Arbeit lebt. Hier stellen sich zwei Probleme: die Bestimmung und Rechtfertigung des Lohns, und die Frage, ob man für sich selbst oder für andere arbeitet und arbeiten sollte.

1. Aber was ist der Lohn für diese meine, deine usw. Arbeit? Würden wir alle so arbeiten, dass jeder für sich der Natur Rohstoffe in genau der Menge entnähme, die er oder sie gerade verarbeiten kann (angenommen, es gäbe genügend, so dass um die Rohstoffe kein Streit entbrannte), und dass jeder alleine hieraus ein genau definiertes Endprodukt herstellte, dann könnte man womöglich noch genau angeben, was der Wertbeitrag des Einzelnen wäre, und man könnte ihm oder ihr den Endpreis zurechnen. Nur die Verhältnisse, sie sind nicht so… Gewiss, es gibt allerlei Lehrbuch- und Buchhalter-Formeln zur Berechnung der Produktivität jedes Arbeitsbeitrags. Man könnte womöglich Marktpreise für Zwischenprodukte und alle Einzelleistungen herausfinden oder schätzen, aber Unternehmen sind gerade keine Märkte: Sie beruhen darauf, dass es sinnvoller erscheint, eine Leistung nicht in beliebig kleine, am Markt zu beschaffende Einzelleistungen zu zerlegen, sondern gebündelt in einer Organisation zu erbringen. Gewiss, es bilden sich für alle Tätigkeiten notwendigerweise Arbeitslöhne heraus („Löhne“ hier durchweg im weitesten Sinne, als Gegenleistung für jede Form von persönlicher Leistung), aber dass sie der Wertschöpfung durch genau die betreffende Tätigkeit entsprechen, trifft höchstens im (unrealistischen) Grenzfall zu.

Je höher die Löhne, desto unbestimmbarer ist in der Regel der Wertschöpfungsbeitrag der Arbeitenden, desto weniger standardisiert ist die Arbeit, und desto mehr verliert sich demnach die Preiskonkurrenz zwischen verschiedenen Bewerbern auf eine Stelle zugunsten letztlich niemals ganz vergleichbarer Eigenschaften und individueller Aushandlungen der Preise dafür. Umso preislich flexibler sind in der Regel auch die Endabnehmer der Leistungen, weil es sich nicht um ein standardisiertes Produkt handelt, sondern eines, wo man wenig Vergleichsmöglichkeiten hat und sich deshalb am geforderten Preis orientieren muss, ob dieser nun etwas geringere oder höhere Arbeitslöhne beinhaltet. Was Arbeit wert ist oder wert wäre, lässt sich also vielfach höchstens ungefähr schätzen – und das betrifft erst einmal den faktischen Wert der Arbeit, nicht den moralischen, also was man nicht nur tatsächlich verdient, sondern verdienen würde.

Man stellt sich Löhne weiter (faktisch und moralisch) als Anreize für Arbeit vor. Gewiss sind sie das. Aber wer von den Gutverdienenden würde seine Arbeit sogleich drastisch verringern, wenn man dafür weniger Lohn erhielte (analog zum klassischen Argument vieler Ökonomen gegen höhere Steuern)? Viele dagegen unter den weniger gut Verdienenden würden sogar bei gleichem Lohn ihre Arbeit wechseln, wenn sich eine bessere böte. Gewiss, man kann einen Manager dazu bringen, in seiner knappen Freizeit noch irgendwo einen Vortrag zu halten oder ein Buch zu schreiben, sofern sich das für ihn gewaltig lohnt. Aber brauchen wir diese Maximierung des Outputs? Sie trägt zum Bruttosozialprodukt bei und befriedigt mit Kaufkraft versehene Bedürfnisse. Man könnte damit aber auch andere Bedürfnisse befrieden, weniger effizient im Sinne ausgehandelter Marktergebnisse, aber womöglich berechtigter und letztlich befriedigender.

Auch sind Löhne nicht einfach ein Beitrag zur Deckung der Herstellungskosten der Arbeitskraft, selbst wenn manche mit Blick auf die finanziellen Anreize eine Ausbildung abschließen oder nicht. Auch wenn einem in Ausbildungszeiten Löhne entgehen, gehen diese später häufig über diese Ausfälle hinaus und orientieren sich auch nicht streng am sonstigen, womöglich variierenden Aufwand, um seine Arbeitskraft zu erhalten und erfolgreich vermarkten zu können: Löhne sind mehr als eine Ausbildungsvergütung und Werbungskostenpauschale.

Was sind sie denn nun? Während niedrigere Löhne für standardisierte Arbeiten sich durchaus einigermaßen an kalkulierbarer Produktivität orientieren (aber auch an Machtasymmetrien in Verhandlungen und am Organisationsgrad der Arbeitenden), sind höhere vor allem Prämien für Seltenheit (von Begabung oder einer bestimmten Erziehung und anderer sozialer Einflüsse auf das Arbeitsvermögen), für einen Glauben an Fähigkeiten, die keiner so recht überprüfen kann (Ginge es dem Unternehmen in diesem Quartal mit einem anderen Manager besser? Man kann es plausibel machen, beweisen kaum), gar für mehr oder weniger zufällige Prominenz (Es gibt in vielen Fällen Leute, die durchaus dasselbe leisten könnten. Nur sind sie eben nicht prominent. Es können auch nicht alle prominent sein. Wer es ist, hat einen gewissen Seltenheitswert). Erst die Seltenheit einer bestimmten Form der Arbeitskraft oder der Persönlichkeit überhaupt macht es notwendig, mittels hohen Löhnen die Betreffenden dazu zu bringen, genau so und dort zu arbeiten, wie und wo sie es tun, und zwar natürlich nur dann, wenn einigermaßen plausibel ist, dass durch die Arbeit ein Wert entsteht, der größer ist als der Lohn (in vielen Fällen ist dieser Wert eine Fiktion, eine Schätzung aus dem Bauch, wenn die Arbeitsleistungen eben nicht trennbar sind: gemeinsam entwickelte Ideen, Zwischenprodukte, die nie am Markt gehandelt würden, die Werte, die durch Zusammenspiel planender und ausführender Tätigkeit entstehen, die im Voraus nicht kalkulierbaren Einnahmen aus Werbeauftritten Prominenter usw.).

Wenn wir uns umgekehrt im Gedankenexperiment vorstellen, es gäbe keine großen Lohnunterschiede und auch keine sonstigen geldwerten Vorteile und Annehmlichkeiten rund um die Arbeit, dann bestünde der Anreiz in der Arbeit selbst; die „Arbeitgeber“ (im weitesten Sinne) konkurrieren darum, die befriedigendste Form der Arbeit anzubieten, und würden sich möglichst geeignete Kandidaten für ihre Stellen auswählen, sofern sie sich bewerben. Wer würde dann welche Arbeit ausüben? Welche würden wir tun, welche die nach geltendem System Wohlhabenden, welche die weniger Wohlhabenden? Es gäbe keine Seltenheitsprämien und sonstigen Anreize, aber, so lässt sich behaupten, vielfach durchaus eine gewisse Motivation zu einer bestimmten Arbeit.

Wenn wir aber annehmen, dass prinzipiell jeder arbeiten müsse und genau für seine Leistung einen Lohn erhalte, sind wir aufgrund unserer Gesellschaftsform geneigt, uns die Ausnahmen nach dem Versicherungsprinzip vorzustellen. Das klingt so schön marktwirtschaftlich und selbstverantwortlich: Jeder arbeitet nach Kräften, und wenn man einmal nicht (mehr) kann (oder der am Markt gebotene Lohn nicht reicht), dann springt die Versicherung ein. Die Arbeitsunfähigkeit kommt über den prinzipiell Arbeitsfähigen wie ein Hagelschaden. Darin impliziert ist die Annahme, dass jeder grundsätzlich die meiste Zeit seines Lebens arbeitsfähig sei. Manche sind es aber nicht. Und die Renten„versicherung“ versichert heute ja auch nicht gegen mehr Arbeitsunfähigkeit, sondern alimentiert die per Renteneintrittsalter aussortierten. Wer nicht arbeitet und keine Beiträge eingezahlt hat, bekommt trotzdem Sozialleistungen, wenn auch teilweise weniger und aus anderen Töpfen. Sich alle Sozialtransfers nach dem Versicherungsprinzip, als Vorsorge der prinzipiell Arbeitsfähigen, vorzustellen, ist da eine Verschleierung der Tatsachen. Wir brauchen also eine tiefer reichende Metapher für Gerechtigkeit rund um die Arbeit. Individuelle Arbeitspflicht, Entlohnung und Versicherung sind wacklige Vorstellungen. Bei der Suche nach Alternativen kann die Frage, inwieweit der Wert der Arbeit einer einzelnen Person zugeschrieben werden kann und ihr ein Anreiz ist, zwar Anstoß für weitere Überlegungen sein, aber selbst wenn sie einigermaßen zu lösen wäre, sagt das noch nichts über die gerechte Verteilung von Arbeit und ihren Erträgen, über die moralische Eignung der gefundenen Zuschreibungsregeln. Denn was wird aus den längerfristig nicht Arbeitsfähigen? Wie gerechtfertigt sind Knappheitsprämien für die Leistungen der Arbeitsfähigen? Bevor wir zu dieser Frage kommen, aber kurz zu derjenigen, ob wir eigentlich wirklich für uns arbeiten oder ob wir nicht eigentlich das Gegenteil in vielen Fällen ohnehin akzeptieren.

2. De facto arbeiten also nicht alle, und für andere zu arbeiten ist normal. Selbst unter Arbeitenden wird nicht jede Tätigkeit aufgerechnet, sondern man leistet Gefälligkeiten auch am Arbeitsplatz. Das entspringt gewiss oft der Aussicht auf Gegenseitigkeit (A hilft B, und B dafür irgendwann A), aber viele entlasten auch ihre Kollegen ohne Gegenleistung, etwa weil jene körperlich benachteiligt sind, sich in schwierigen Lebensphasen befinden, aus reinem Wohlwollen usw. Natürlich arbeiten viele auch für Angehörige oder Partner, im Haushalt oder im Ehrenamt. Man kann sogar sagen, dass wir immer dann für andere arbeiten, wenn diese nicht so viel bezahlen, als sie zu geben bereit wären, sondern einen niedrigeren einheitlichen Marktpreis (die Differenz nennt der Ökonom die Konsumentenrente; sie entsteht, weil an Märkten oft nur ein einziger Preis genommen werden kann und nicht von jedem Konsumenten genau so viel, wie er zu zahlen bereit wäre – die Differenz entgeht dem Produzenten als Einnahme). Natürlich steht uns das Recht zu, die Erträge unserer Arbeit uns nahestehenden Personen zukommen zu lassen; trotzdem ist es nicht sinnlos zu fragen: Wer arbeitet für die Alleinstehenden hierzulande (insbesondere wenn sie nicht arbeitsfähig sind), wer z.B. gar für die Aidswaisen in Afrika?

Wir haben plausibel gemacht, dass man gar nicht so einfach sagen kann, jeder arbeite für sich und ernte die Früchte daraus. Es besteht aber auch gar nicht die Notwendigkeit, dass jeder arbeitet, selbst wenn alle es könnten. Es müssen nur ausreichend viele arbeiten (wie viele, das hängt von unseren Ansprüchen an das Wohlstandsniveau ab) – eine Notwendigkeit auf der Ebene des Kollektivs, nicht jedes Einzelnen. Und wenn nun einige nicht können, und selbst wenn alle könnten, ist es eine Frage der Gerechtigkeit, Effizienz und des Anspruchsniveaus, wer es tun sollte. Es besteht die kollektive Notwendigkeit und Pflicht zur Arbeit, nicht die individuelle. Selbst in einer Gesellschaft, in der alle als durchweg arbeitsfähige Handwerker nicht arbeitsteilig Produkte über alle Herstellungsschritte hinweg schüfen, könnte man sich auf Modelle einigen, nach denen nicht jeder immer arbeiten muss. Aus Gerechtigkeitsgründen würde man die Nicht-Arbeit gleichmäßig verteilen. In der realen Gesellschaft ganz anders. Es kann nicht um individuelle Pflicht zur Arbeit und ein natürliches Recht auf die wohlbestimmten Früchte daraus gehen, sondern um die Erfüllung der kollektiven Notwendigkeit der Arbeit und die gerechte Verteilung der Produkte und eine gerechte Entlohnung der Arbeitenden, indem man aber berücksichtigt, dass Arbeitsfähigkeit eine ungleich verteilte Gabe oder Last ist. Wir kennen längst intuitiv oder bewusst die Zweifel an und die Ausnahmen von der individuellen Arbeit und Entlohnung. Es käme nur darauf an, sie in eine systematische Vorstellung der gerechten kollektiven Arbeitsnotwendigkeit umzumünzen.

Der Mensch ist ein zum Altruismus fähiges Tierchen (nicht unbedingt ein von Natur aus immer altruistisches) und ein kooperatives (seine Tätigkeit geht in Ergebnissen auf, die sich nicht ohne Weiteres in die Einzelbeiträge der Individuen zerlegen lassen). Der Mensch ist ein Tier, das Bedürfnisse hat, die es nicht alleine erfüllen kann, selbst wenn es körperlich und geistig dem Normalmaß entspricht und erst recht dann, wenn es dahingehend Einschränkungen unterliegt. Man kann nicht alles selber machen. Denken wir also mehr von diesen drei Annahmen her und weniger von individueller Arbeitspflicht und Entlohnung. Dann kann man immer noch über Arbeitsanreize und gerechte Löhne reden.

(Fortsetzung folgt)

Metaphern für Märkte und Märkte für Metaphern

Märkte sind zweifellos bedeutsam für unsere Gesellschaft. Ebenso ist die Beurteilung der Märkte höchst wichtig, etwa hinsichtlich der Frage ihrer guten politischen Regulierung oder Nicht-Regulierung, aber auch als Gegenstand der Beurteilung durch all jene, welche höchstens sehr indirekt an der Regulierung mitwirken, nämlich als Kommentatoren oder einfach als räsonierende Bürger. In beiden Fällen geht es darum, eine Deutungshoheit gegenüber den jeweils anderen Mitdiskutanden zu erlangen. Dabei werden nicht nur vernünftige Argumente eingebracht, sondern Märkte werden auch sich und anderen verständlich gemacht und gewertet durch den Einsatz von Metaphern. Vielen gesellschaftlichen Strukturen, so ja auch heutigen Märkten (abgesehen von Wochenmärkten), eignet eine erhebliche Abstraktheit und Unanschaulichkeit, und so gebraucht man Sinnbilder, die häufig ja auch eine Moral beinhalten. Gewiss werden dabei auch neue Metaphern ersonnen, aber dies ist nicht immer möglich und nötig, sondern gebrauchte können weiter zirkulieren. Sie haben insbesondere, und da schließt sich der Kreis, einen Markt- oder Kurswert, haben Konjunktur, abhängig von ihrem stilistischen Seltenheitswert (ob es sich um eine „gewählte“ Metapher handelt), ihrem Abnutzungsgrad und der Gegenseite, welche sie akzeptieren soll und ihnen einen verschiedenen Anerkennungswert zumisst. Auch das ist natürlich eine Metapher, und zwar eine gebrauchte (Pierre Bourdieus Redeweise von den „sprachlichen Märkten“). Wir haben es also mit der Metapher der Märkte für Metaphern für Märkte zu tun. Zu einigen dieser Metaphern und ihrem Gebrauch einige Anmerkungen aus Lehrbuchwissen und Alltagsdeutung heraus.

Gleichgewicht. Wir haben wohl alle gelernt: Der Preis ergibt sich aus dem Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage. Das klingt nach Stabilität, Gerechtigkeit, allseitiger Zufriedenheit. In der Tat kann man nach reiner Lehre von einem frei zustande gekommenen Preis nicht abweichen, ohne dass einige Verkäufer oder Käufer unnötigerweise leer ausgehen, also nicht zum Zuge kommen, oder schlechter dastehen. Optimal also – nur dass der Wirtschaftswissenschaft dem Wort „optimal“ einen Namenszusatz beigibt („Pareto-Optimalität“), der andeutet, dass es sich hierbei um etwas Spezielles handelt, nicht um etwas schlechthin und in jeder Beziehung Optimales (wo auch immer es das geben mag): Über die beim Gleichgewichtspreis freiwillig getätigten Geschäfte hinaus kann niemand seine subjektive Wertbilanz (die persönliche Wertschätzung von allem, was er hat und tauschen könnte) verbessern, ohne dass diejenige eines anderen schlechter würde. In den Fachbüchern steht dann einschränkend dabei: Auf welchem absoluten Niveau sich diese Bilanz bewegt, wie groß die Ungleichverteilung ist, spielt bei dieser sehr speziellen Optimalität keine Rolle. Also ein Gleichgewicht ohne Gleichverteilung oder gleiche Berechtigung auf Erfüllung der je persönlichen Bedürfnisse.

Außerdem wäre weiter zu fragen, wann ein Gleichgewicht vorliegt: Wenn sich die Preisschilder nicht ändern, ganz gleich, ob nun gerade gehandelt wird oder nicht, oder nur in dem Moment, da sich zwei Akteure auf einen Preis geeinigt haben (und sei es auch nur indirekt, durch Zahlung eines Listenpreises), oder erst durch eine Vielzahl einzelner Handelsereignisse, welche den Preis bestätigen? Jedenfalls verweist uns das Einbrechen von Preisen oder Kursen darauf, dass diese der fortdauernden Stützung durch eine Nachfrage bedürfen, dass das Gleichgewicht ein Balanceakt von Moment zu Moment ist, vereinfacht nur durch die Trägheit aller Beteiligten und die Geduld der Preislisten. Wir können uns aber gerade manche Geschäfte wie das Spiel mit der heißen Kartoffel vorstellen, bei dem diese so lange weitergereicht wird, bis sie jemand fallenlässt, etwa – und die Metapher ist einigermaßen schief – wenn eine Aktie so lange weiterverkauft wird, bis sich auf dem bestehenden Preisniveau kein Abnehmer mehr findet. In diese Richtung weist auch die spöttische Bezeichnung der Dienstmädchen-Hausse, die auf eine Phase auf den Finanzmärkten verweist, in der zunehmend als unbedarft und inkompetent angesehen Käufer auftreten und als unvernünftig geltende Preise zahlen, bis keiner die Papiere mehr abnimmt. So sind wir aber unmerklich von Märkten allgemein zu spekulativen und insbesondere zu Finanzmärkte übergegangen, die man natürlich noch drastischer beschreiben kann…

Casino. Der Versuch, wenn schon nicht die politische Hoheit, so zumindest die rhetorische über die Finanzmärkte zu gewinnen. Man lästert in der Tat manchmal über Fonds-Performances auf dem Niveau dressierter Affen (oder zumindest unter dem Wert simpler Indizes), wie die Branchenpresse und Fachliteratur gelegentlich hämisch mitzuteilen wissen. Märkte sind aber mehr als unprognostizierbares Auf und Ab der Preise, als Zufallsgewinne und -verluste mit fremden Geld. Märkte sind auch gerade die gesamte Rhetorik und Metaphorik – das füllt ja hauptsächlich die Branchenpresse, darum gibt es ja aufwändig geführte Fonds statt nur Indexzertifikaten: Der Glaube an eine höhere Kunst oder vernünftige Lehre, ein geheimes oder nicht so geheimes Wissen, an einen nichtzufälligen Sinn jenseits der Zahlen, der mit dem Zustand von Unternehmen, Volkswirtschaft, einer mehr oder weniger ominösen „Psychologie“ der anderen Marktteilnehmer usw. zu tun hat, und der sich aber über kurz oder lang hoffentlich wiederum in Zahlen ummünzen wird. Finanzmärkte sind in der Tat ein Sonderfall, weil es dort mehr als auf den allermeisten anderen Märkten nicht so sehr um Knappheiten, Qualitäten, Güternachfragen usw. geht, sondern verstärkt um eine Einschätzung, was die anderen denken und die Suche nach einem Abnehmer, der weniger weiß, mutiger ist oder den gewisse Umstände oder Vertragsbindungen zum Kauf nötigen (z.B. die vieldiskutierten Leerverkäufe). Wenn genügend unterschiedlich schätzende und agierende Händler zusammenkommen, überlagert sich ihr verworrenes Tun und Lassen freilich durchaus zu einem Zufallsrauschen oder manchmal auch einem Zufallssprung.

Der Tanz ums goldene Kalb. Ausdruck eines eifersüchtigen Gottes, der keine anderen Götter neben sich dulden will. Oder natürlich seiner Stellvertreter auf Erden. Ausdruck eines erstrebten moralischen Monotheismus, der keine anderen Güter kennt neben… – woneben eigentlich (außer, sofern es sich um religiöse Kommentatoren handelt, religiöser Hingabe)? Der jedenfalls sich selbst als gut präsentieren will, und die Märkte, bzw. das Geldverdienen an denselben als schlecht, als kein erstrebenswerter Lebenssinn und -zweck. Die meisten haben sich aber in einem bequemen Polytheismus eingelebt: Auf den Märkten verdient man Geld oder gibt es aus, mit wohlfeiler Marktkritik verdient man sich Anerkennung. (Über gute Metaphern für gute Kapitalismuskritik zu schreiben, wäre eine Aufgabe für ein andermal.)

Diktatur. Neben den Metaphern der Instabilität, aber einigermaßen passend zu denen der Überhöhung eines einzelnen Prinzips, hier also der Vergleich mit der Ballung der Macht bei Einem oder Wenigen, freilich ohne nähere Festlegung, ob das Stabilität oder Instabilität bedeuten soll (und ob Instabilität auf Zufall oder Willkür zurückzuführen wäre). Ob damit Diktatur Einiger oder der „anonymen“ Märkte gemeint ist. Ob Unterwerfung unter den Willen marktmächtiger Personen oder Organisationen oder unter ein unpersönliches Prinzip (z.B. Effizienz, welche rationaler Mitteleinsatz zur Maximierung der Möglichkeiten sein kann, mithin Vernunftgebrauch zwecks Freiheit, oder Degradierung zum Mittel für fremde Zwecke). Ob Freiheit aller zu einem dann aber als sinnlos und letztlich unfrei angesehenen Erwerbsleben und Konsum (denn diese Freiheit gewähren Märkte ja zumindest formal, im Gegensatz etwa zu Rationierung und feudaler Dienstpflicht, und die Metapher soll nur den Gebrauch dieser Freiheit abwerten), oder Zwang zum unwürdigen Verdienen des Lebensunterhaltes (so dass die Metapher die Freiheit letztlich verneint), usw. Eine höchst ambivalente und darum vielleicht gerade so marktgängige Metapher.

Basar. Gar keine Metapher!, möchte man einwenden. Das stimmt, sofern es sich natürlich bei dem Markt um einen echten Basar handelt. Für alle anderen ist es durchaus eine. Sie lebt von der Vorstellung, dass auf einem Markt durch Feilschen Phantasiepreise festgelegt würden, die mit der Produktivität und Qualität kaum noch etwas zu tun haben (an anderer Stelle habe ich die Neigung erörtert, immer noch in Kategorien von „wahren“ Preisen zu denken; und wenn der Preis frei verhandelbar scheint – was er natürlich auch zwischen idealtypisch feilschenden Partnern nicht ist – dann kann er ja nichts mit dem „echten“ Wert eines Produkts zu tun haben, wie auch immer definiert). Die Assoziation der Entkoppelung des Händlers von der Produktion hat ausgerechnet ein Ökonom weitergetrieben. Sonst ist es denen ja im Wesentlichen gleichgültig, ob Gewinne mit Produktion oder Handel erzielt wird, und sie würden sich angesichts der von ihnen postulierten Funktionen des Handelns hüten, ihn als unehrenwertes Geschäft, als Wucher zu diskreditieren, wie das Teile unserer kulturellen Überlieferung nahelegen, die ja vielfach auch „den Orient“ insgesamt als ökonomisch wenig produktiv ansieht. Womöglich wollte Hans-Werner Sinn nicht allzu direkt an diese Tradition anknüpfen, als er von Deutschland als „Basarökonomie“ sprach. Er wollte aber damit nahelegen, dass die nationale Wertschöpfung immer mehr auf einem reinen Weiterverkauf von bereits im Ausland weitgehend vorgefertigten Produkten beruhe statt auf eigener Herstellung von Grund auf. Durchaus kritisch gemeint spielt die Bezeichnung also mit der negativen Assoziation des Basars mit unproduktivem Handel. Die Metapher hat oder hatte seinerzeit also insoweit Konjunktur, als sie grundlegende Vorstellungen bedient und auf die in jüngerer Zeit geäußerten Bedenken verweist, die wirtschaftliche Lage Deutschland sei weniger solide, weniger wirtschaftspolitisch wünschenswert oder gar weniger ehrlich erarbeitet als es scheint.

Wettbewerb. Auch keine Metapher!, möchte man wieder einwenden. Die Antwort ist womöglich ein Teils-Teils. Zunächst muss beachtet werden, dass „der Wettbewerb“ eigentlich eine Vielzahl ist, von der eine Form oder mehrere in einem bestimmten Markt bestehen können: Preiswettbewerb, Qualitätswettbewerb, Service-Wettbewerb, Schnelligkeits-Wettbewerb, sogar manchmal Schönheitswettbewerb. Es wird also an Märkten durchaus wettgeeifert. Freilich nicht an allen: Bei Monopolen eher nicht; auch Märkte mit wenigen „Wettbewerbern“ können derart befriedet sein, dass man sich darauf beschränkt, mit einigen oberflächlichen Anpassungen der Konkurrenz ein paar Prozente Marktanteil abzuluchsen, ohne dass man ernsthaft anstrebt, sie zu überflügeln. Außerdem gibt es keine unabhängigen Erfolgsurteile oder -kriterien wie bei einem guten Wettbewerb, sondern alle wesentlichen Beteiligten sind interessierte Parteien, entweder interessiert am günstigen Kauf oder höchsten Gewinn. Die Regeln werden im laufenden Wettbewerb geändert – nicht die grundlegenden (bis auf zwischenzeitliche Gesetzesänderungen), aber doch so bedeutende Festlegungen, wie ob es sich um einen Schönheits- und Schnelligkeitswettbewerb handelt. Wer feststellt, dass er in einem schlecht abzuschneiden droht, versucht ein anderes Kriterium. Teilnehmer platzen einfach in den laufenden Wettbewerb herein oder scheiden ohne Ankündigung aus. Bestechung und Beeinflussung der Urteilenden durch Dreingaben, Werbung usw. ist in Maßen erlaubt. „Wettbewerb“ ist vielleicht also diejenige Beschönigung, die nahelegen will, dass es auf Märkten geregelt zugehe und dass dort Sportsgeist und ernsthafte Anstrengung herrschten. Man kann dann von der Metapher nach zwei Seiten abweichen, indem man einen Markt in den Extremen als abgekartetes Spiel oder als regellosen Kampf darstellt, freilich um den Preis, die verbleibenden Freiheiten bzw. andererseits die für die uns bekannten Märkte so essenziellen Rechtsgarantieren zu vernachlässigen.

Markt. Das ist womöglich die Ober-Metapher. Der Versuch, sich eine soziale Struktur verständlich zu machen, bei der meist verstreute Anbieter und Abnehmer Geschäfte tätigen oder auch manchmal nicht, ohne Marktplatz, -stände und womöglich ohne personifizierte, individuelle Handelspartner. Das zu erfassen, woran sich die Beteiligten dabei orientieren, womit sie etwa vergleichen (als Auswahl bzw. Konkurrenz), wo und wie sie nach Handelspartnern suchen – eine Abgrenzung, die alles andere als trivial ist, denn wo endet ein Markt und beginnt ein anderer? Umgekehrt ist ja der örtliche-konkrete Markt auch kein besonders typischer Markt: Die Anbieter können in der Regel nicht die angebotene Menge oder Qualität variieren, die Preise sind in unseren Breiten in den allermeisten Fällen vorab festgesetzt und werden nur in besonderen Fällen angepasst, Ort und Zeiten höchst unflexibel festgelegt. Womöglich ist „der Markt“ aber auch die bildlose Ober-Abstraktion, die nur noch diesen Namen trägt, aber alle Eigenschäften realer Märkte abzieht, all die Inflexibilitäten und Beschränkungen, die Irrationalitäten der Beteiligten, die gesetzlichen und sittlichen Beschränkungen bis auf die, dass Verträge zu halten sind. So ja bei vielen Wirtschaftswissenschaftlern. Umgekehrt ist der Markt für andere die Sammlung all dessen: die Beschränktheit des Denkens, die Irrationalität (so als bestünden Märkte nur aus Gier und Missgunst), die gesetzlich verbürgten Ungerechtigkeiten, dazu natürlich trotzdem sittliche Ungeregeltheit und Flexibilität ohne Halt. Die Metapher verändert also ihren Wert je nach Anbieter und Abnehmer.

Beim Ausfüllen der Steuererklärung, oder: Sind wir alle Robin Hood?

Es gibt mindestens drei Erzählungen über Steuern. Die erste ist leicht erzählt, es ist die des geplagten Steuerbürgers. Sie lautet: Man arbeitet das ganze Jahr über, und dann kommt der Staat und knöpft einem immer mehr ab. (Immer mehr, so scheint es jedenfalls. Man betrachte einmal die Steuersätze der vergangenen Jahrzehnte, auch im internationalen Vergleich, insbesondere auch die historischen Zustände in den vermeintlich ewig kapitalschonenden Vereinigten Staaten.) Im Wesentlichen scheint das für die üppigen Bezüge irgendwelcher Sesselfurzer draufzugehen. (Der Bundeshaushalt besteht ja wesentlich aus Sozialausgaben und Zinsen, trotz der vergleichsweise hochdotierten Posten fallen die Personalausgaben wenig ins Gewicht; in den Haushalten der Länder und Kommunen liegen die Personalausgaben höher, die bezahlen aber ja z.B. Lehr- und Ordnungskräfte.) Darum betätige man sich wie Robin Hood und nehme vom Staat und gebe es einem selbst. Wenn einige Steuern in Millionenhöhe hinterziehen, dann kann man sich auch ein paar Euro sparen. Steuerhinterziehung ist kein Kavaliersdelikt, sondern entweder ein Großverbrechen (bei den Reichen) oder ein listig betriebener Sport, eine fintenreiche kleine Rache am gierigen Staat (bei einem selbst). Steuern haftet etwas Widernatürliches an: Man arbeitet erst, und dann wird man um die Früchte dieser Arbeit gebracht. Man arbeitet letztlich für den Staat, so suggerieren all jene Modelle, welche das Jahr aufteilen nach der Zeit, da man die Steuern und Abgaben erwirtschaftet, und der restlichem, in welcher man für einen selbst tätig ist.

Die zweite Erzählung ist die offizielle und diejenige der staatstragend denkenden Gelehrten. Wer ist der Staat? Das sind wir alle. Das ist die Gesamtheit der öffentlichen Leistungen und Güter: die Sicherheit, die Straßen, die Schulen usw. Steuern sind dasjenige berechtigte und möglichst gerechte (durch die Progression der Steuersätze) Instrument, diese Leistungen aufzubringen. Sie sind die einzige Finanzierungsform, die dem modernen Gemeinwesen angemessen sind. Sie sind ein Anspruch, ein Rechtsanspruch, eine Forderung von Vernunft und Gerechtigkeit, welche Staat bzw. Allgemeinheit an die Einzelnen hat, gemäß ihrer finanziellen Tragfähigkeit. Sie dienen der demokratisch entschiedenen Investition in öffentliche Güter. Diese wären anders nicht zu organisieren, da sie unteilbar sind und nicht leicht durch Vertrag aller mit allen oder durch Angebot und Nachfrage am Markt zustande kommen, wegen der Gefahr der Trittbrettfahrer (einige zahlen, andere nutzen) oder des ineffizienten Ausschlusses (einige zahlen, und versuchen dann einige ohne sachlichen Anlass von den eigentlich öffentlich Gütern auszuschließen, indem sie überhöhte Preise für die Nutzung erheben). Steuern sind derjenige Teil des gemeinschaftlich in einer Volkswirtschaft Erarbeiteten, welcher sinnvollerweise für Gemeinschaftsaufgaben aufgewendet wird.

Die dritte Erzählung ist die historisch-soziologische, die uns, mit einem Augenzwinkern und bei aller denkbaren Kritik, natürlich als die interessanteste gelten soll (immerhin stehen dahinter so namhafte Autoren wie z.B. Max Weber, Norbert Elias und durch eine kürzliche Veröffentlichung Pierre Bourdieu). Man entkleide durch unwahrscheinliche Vergleiche das Phänomen seiner Selbstverständlichkeit (man muss den Anarchokapitalisten und Minimalstaats-Libertären, die hierzulande ja höchst selten sind, fast schon dankbar sein, dass sie gegen die Selbstverständlichkeit des Steuerstaates ankämpfen; die Auseinandersetzung mit diesen Autoren mehrt freilich nicht unbedingt die Erkenntnis über die Realität, sondern stellt für all jene, welche ihre Ideologie nicht teilen, eher eine Lockerungsübung oder ein sozialphilosophisches Sparring dar). Das geht zunächst historisch. Viele stellen sich den mittelalterlichen „Staat“ als ein zentralistisches System vor, in welchem ein Fürst gewaltsam über seine Untertanen herrscht und sie nach Belieben auspresst. Jedoch handelte es sich viel eher um ein fragiles Geflecht von Treue- und Tauschbeziehungen, das mit mehr oder weniger Gewalt ständig umgeformt wurde. Je nach militärischer Stärke, Bündnissen und charismatisch-religiösem Ansehen konnte ein Herrscher Beistand und Leistungen seiner nachgeordneten Vasallen erhalten. Die Höherstehenden in der Feudalhierarchie waren für militärische Aktionen auf Hilfe (Truppenstellung oder Geld) der Nachgeordneten angewiesen, für den eigenen Haushalt aber auf ein eigenes Stück Land, das ihnen direkt zugehörte. Denn dauerhafte, regelmäßige Leistungen (in Naturalien oder Geld) der restlichen Landesteile waren nicht zu erwarten und hatten auch keine Grundlage in den herrschenden politischen Vorstellungen. Der oberste Herrscher eines Gebietes (bis zum Kaiser oder König eines Reiches) war zwar offizieller Schlichter zwischen den je nachrangigen Fürsten, die sich bis zu einer gewissen Epoche jedoch nach Belieben auch gegenseitig befehden konnten. Leben und seinen persönlichen Apparat ausstatten musste der oberste Herr jedoch von seinem eigenen Land, sei es als ein Fürst unter anderen, der zum Kaiser gewählt war, sei es als König, der neben dieser Würde noch gewöhnlicher Landesherr einer Krondomäne, sozusagen seines privaten Küchengartens, war. Wollte der oberste Herrscher eine größere militärische Aktion oder etwa einen Kreuzzug unternehmen, musste er die weiteren Fürsten bitten, drängen oder drohen (ja nach seinem aktuellen Stand), ihm finanziell oder mit Truppen beizuspringen. Einen Steuerbescheid oder eine Einberufung zum Wehrdienst konnte er nicht schicken, weder an den betreffenden Fürsten selbst, noch an die gesamte Bevölkerung seines Reiches. Die hatte mit ihm wenig zu schaffen, denn recht eigentlich herrschte er formell nur über seine Vasallen, mit Land und Bevölkerung nur als Verfügungsmasse ihres Paktierens. Die Bevölkerung litt zwar durchaus oft unter umfangreichen Naturalabgaben und Frondiensten, aber keineswegs an einen übermächtigen Zentralstaat, sondern an den jeweiligen regionalen Landesherrn.

Die „Erfindung“ der Steuer (oder zumindest die zunehmende Einführung am Ausgang dieser Epoche, der Ersatz der Dienste und Naturalabgaben durch Geldleistungen) ist hier ein gewaltiger Umbruch – womöglich ließe sich die Transformation der Vorstellungen von staatlicher Herrschaft ganz gut an den nacheinander entstehenden Varianten und Deutungen des Robin-Hood-Stoffes ablesen. Bürokratische Verwaltung, zunehmende militärische Schlagkraft und Steuererhebung bedingen sich gegenseitig. Nur durch systematische Erfassung der Verhältnisse im Land, durch gewaltsame Durchsetzung des staatlichen Monopols auf Gewaltausübung und Eigentumsentziehung lassen sich Steuern erheben, und diese machen erst den Beamtenapparat und das geordnete Söldnerheer oder gar die stehende Armee möglich, die wiederum zur Durchsetzung der Zentralgewalt nötig sind. Erst nach und nach aber konnte man sich eines Apparats von Finanzbeamten bedienen, die sich besonders dadurch auszeichnen, dass ihnen der Sessel nicht gehört, auf denen sie sitzen. Vielmehr war man vorher meist auf wechselnde Steuerpächter angewiesen, welche alleine, auf ihre eigenen Mittel gestützt und auf eigenes Risiko die Abgaben in einem Gebiet eintrieben und im Gegenzug einen Anteil davon behielten, nachdem sie vorher in einer Art Versteigerung den höchsten Preis für dieses Privileg geboten hatten. Aber trotz der zunehmenden Geordnetheit behielten Steuern lange das Ansehen von Raubrittertum oder von einer Seuche, die vorher nur sporadisch über das Land kam (wenn wieder einmal besondere Leistungen „erbeten“ waren), nun aber endemisch wurde.

Damit wären wir bei anderen, noch unwahrscheinlicheren Vergleichen. Denn im Falle des historischen mag man einwenden: Was haben wir mit der Vergangenheit zu schaffen?!, heute sind wir eben weiter. Andere Vergleich also. Handelt es sich bei der Steuer nicht etwa um etwas einer Schutzgelderpressung Ähnliches? Teils beruht diese ja darauf, dass man den Klienten tatsächlich gegen Gewaltanwendung Dritter schützt und Frieden in einem Gebiet stiftet, teils gerade aber ja auch darauf, dass man Gewalt und andere Zwangsmittel androht, sofern eine Zwangsabgabe nicht gezahlt wird. Oder haben wir es nicht etwa mit einem Äquivalent von Raubrittertum zu tun? Auch der Raubritter beherrscht faktisch ein Gebiet oder eine Passage und erhebt Gelder, wenn nötig mit Gewalt.

Was unterscheidet nun die Steuererhebung von jenen Sachverhalten? Neben dem inzwischen faktisch weitgehend durchgesetzten Gewaltmonopol des Staates: der Glaube an die Legitimität, dass wir also (mehrheitlich, mehr oder weniger) überzeugt sind oder zumindest ahnungsvoll bzw. gewöhnungsbedingt glauben, dass die Steuer ihre Berechtigung hat. Wir haben Gründe dafür, oder wir haben uns über lange historische Zeiträume daran gewöhnt und sehen es als normal und richtig an. Der Staat, und nur der Staat, darf das, warum auch immer wir dem zustimmen. Er ist der einzig legitime Raubritter und Schutzgelderpresser und bekämpft in der Regel etwaige Konkurrenz. Es ist ja nicht so, dass der Staat der Mehrheit die Steuergelder mit Gewalt entreißen müsste. Auch auf der anderen Seite, derjenigen der „Staatsdiener“, spielt Legitimität die entscheidende Rolle: Der moderne Beamte besitzt nicht mehr die (Gewalt-)Mittel seiner Amtsausübung selbst (jeder Bleistift auf dem Amt gehört vielmehr normalerweise dem Staat). Sein Interesse liegt nicht darin, seine privaten Pfründe oder die Gewalt über einen Landstrich zu sichern, sondern die Staatskasse zu füllen, Budget, Ausstattung und Einfluss seiner Stelle zu maximieren, insbesondere aber auch ein Ansehen der Gemeinwohldienlichkeit und Kompetenz zu erlangen, um dadurch in seinem Amt und seiner Alimentierung gerechtfertigt zu sein. Der moderne Politiker verfügt nicht mehr über das Land als Anhang seines Privathaushaltes, sondern er (oder sie) ringt mit anderen um das Vorrecht, öffentliche Güter verteilen zu können und zu entscheiden, wie die dafür nötigen Mittel aufgebracht werden, und zwar indem die Kandidaten herausstellen, wie dies ihrer Meinung nach berechtigterweise, legitimerweise geschehen soll. Natürlich waren bereits Könige und Kaiser immer bemüht, ihre Herrschaft als rechtmäßig darzustellen und genossen entsprechende Anerkennung. Sie mussten und konnten aber manchmal auch ohne den Glauben der Untertanen und ohne die Treue der Aftervasallen leben, oder zusehen, wie ihnen zwar Respekt gezollt wurde, aber sonst nicht geschenkt. Die Steuererhebung konnte oder musste man in die Hände von unternehmerischen, eigennützigen Eintreibern legen, die nicht immer erfolgreich waren. Neben den heute vorherrschenden verbalen und symbolischen Kämpfen um Legitimität tobten ganz entscheidende gewaltsame. Erst Jahrhunderte der Repression, Bürokratie, Juristerei, Staatsphilosophie, staatsbürgerlicher oder drillmäßiger Erziehung und die Bequemlichkeiten der Wohlstandsgesellschaft führten zu einem Arrangement: Der Steuerzahler stöhnt über die Abgabenlast, besinnt sich halbwegs auf seine Bürgerpflicht und seinen Glauben an die Rechtsordnung (bzw. einfach darauf, dass man dannunddann seine Steuererklärung macht) und zahlt murrend den geforderten Betrag, oder etwas weniger.

Doch die Kämpfe um diese Berechtigung des Staates sind nicht vorüber. Sie brechen nicht nur bei jeder Steuererhöhung oder neuen Steuerart aus (wobei ja die grundlegende Legitimität nicht in Frage steht), sondern mehr noch bei jeder Auseinandersetzung darüber, ob eine Leistung steuerfinanziert erbracht werden soll: Darf, muss gar der Staat sie der Entscheidung der Einzelnen entreißen und unter seine Gewalt oder Fürsorge bringen? Ist es gemeinwohldienlich, ist es durch die Rechte und Pflichten von Staat und Bürger gedeckt? Jedes Mal eine Probe auf unseren Staatsbürger-, unseren Legitimitätsglauben. Weit entfernt aber von mittelalterlichen Verhältnissen.

My home is my reserve bank

„Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding. Ihre Analyse ergibt, daß sie ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken.“

(Marx, Das Kapital)

Zum Beispiel jener ältere Herr, der in letzter Zeit seine Ersparnisse zunehmend in Gold angelegt hat und schwört, dies und der Besitz seines Hauses schütze ihn dann vor allen wirtschaftlichen Krisen oder gar dem Zusammenbruch des gesamten Finanzsystems. Oder jener jüngere Berufstätige, der sich weigert, obwohl er das Geld dazu hätte, mehr als einen bestimmten Betrag für Miete oder den Kauf einer Wohnung in München auszugeben, die er ja auch mit einiger Wahrscheinlichkeit dereinst teurer verkaufen könnte. Es geht offenbar um eine Art „wahren“ und im ersten Falle auch unzerstörbaren Wert von Gold und Häusern, bzw. im zweiten Fall um einen „richtigen“ Preis, den zu überschreiten nicht einmal ökonomisch unvernünftig wäre, sondern für den Betreffenden gegen den allgemeinen Menschenverstand verstoßen zu scheint.

Klar, beide wissen, was ein Marktwert ist und haben schonmal von „Angebot und Nachfrage“ gehört (oder wie man auch sagen würde: vom Tauschwert. Ich finde aber immer die Bezeichnung „Tausch“ für viele Geschäfte irgendwie beschönigend, verniedlichend und einfach nicht recht treffend – als ginge es darum, Sammelkarten zu tauschen. Hier geht es dagegen um eine gewisse Beschreibung von Glaubensfragen in der Ökonomie, und zwar nicht, ob man an den Kapitalismus oder meinetwegen an Marx glaubt. Manchmal ein wenig von ihm inspiriert, manchmal gegen ihn). Gegen den Tauschwert setzen die Genannten dann, implizit oder explizit, einen „wahren Wert“, den gerechtfertigten, oder den inneren, selbst durch etwaige Schwankungen nicht aus der Welt zu schaffenden Preis. Ein seltsames Konstrukt. Es entspricht weder rein einer Ethik der fairen Preisbildung, also der Lehre vom gerechten Preis, iustum pretium (auch wenn sie darin einfließt, würde sie das Bewusstsein für Preise heute sicher nicht mehr alleine tragen), noch so recht dem Arbeitsaufwand (wonach Ware und Wert geronnene Arbeit seien und deshalb ungeachtet des Tauschwertes ein wirklicher Wert in den Produkten liege) oder dem Gebrauchswert (Was ist wohl der Gebrauchswert von Gold?). Es ist eine seltsame Mischung aus verschiedenen Denkgewohnheiten.

Zunächst die materielle Anschauung. Ein Wertpapier, das Nutzungsrecht an einem immateriellen Kulturgut, Einkünfte aus Tätigkeiten wie Fußballspielen, Rockstar Sein oder Börsenspekulation, das alles beruht nicht auf der Produktion greifbarer Dinge oder Dienstleistungen, die den meisten näher stehen, wie Frisieren, etwas zusammennageln, eine Wohnung putzen usw. Der Wert jener zuvor genannten Dinge scheint irgendwie auf einer Luftbuchung, auf Spekulation, irrational-kulthafter Übertreibung zu beruhen. Dagegen ein Haus, ein Goldbarren, was man am Leibe trägt: greifbare, sichtbare, begehbare Dinge, und von einigermaßen dinglich gesicherter Knappheit. Doch gerade ihr so „wahrer“ Wert ist eine (folgenreiche, sehr reale) Einbildung, eine Frage des Glaubens (in gewissen Grenzen hat es sich bewährt, ökonomische und überhaupt soziale Sachverhalte in einer Sprache, einer Metaphorik der Religion oder Magie zu beschreiben – das lockert den Eindruck ihrer Naturwüchsigkeit und dinglichen Verwurzelung auf zugunsten eines Bewusstsein ihrer Wandelbarkeit und Verankerung in der Vorstellungskraft; alles mit sehr realen Konsequenzen allerdings, wie im Falle des Glaubens ja auch, bewirkt sie doch teilweise eine gewaltige Inbrunst und Aufopferungsbereitschaft, und überhaupt eine bestimmte Orientierungsweise in der Welt). Die Knappheit von Gold und Wohnraum ist gewiss irgendwie nachvollziehbar. Man kann Häuser und Goldbarren nicht drucken wie Geld- und Schuldscheine. Doch was nützt die Materie, wenn der Geist schwach wird, wenn es am Glauben mangelt, oder einfach am Geld, das man vorläufig noch braucht, um Immobilien und Gold zu erwerben? Wenn der Glaube schwächelt, dass die Immobilienpreise noch steigen oder zumindest gleich bleiben werden, dass man sich die große Wohnung in einigen Jahren noch wird leisten können oder das Haus unterhalten, dass man einem das Gold noch abnehmen würde? Umgekehrt ist dieser Glaube natürlich eine selbsterfüllende Prophezeiung, oder richtiger: Er ist bereits die Erfüllung selbst. Der Glaube ist der Wert.

Der Glaube beruht weiter darauf, dass unter der Hand gegenwärtige und vergangene, gewohnte Preise zu stabilen, „richtigen“ Größen umgedacht werden. Man hört von Immobilien-Spekulation und Mietwucher, aber irgendwie haben sich die Wohnausgaben zumeist doch zuvorderst als Fixum erwiesen. Natürlich schwankt der Goldpreis, aber Gold erscheint immer irgendwie als teuer, selten und immanent wertvoll – es bleibt immer irgendwie teurer als man es sich leisten kann.

Diese „wahren“ Preise und der Eindruck ihrer Stabilität jenseits etwaiger Spekulation beruhen auch auf bestimmten Maßstäben, die man an sie anlegt, und in deren Licht sie als normal erscheinen. Eine Person oder eine Familie gibt einen bestimmten Anteil des Einkommens für die Behausung aus und man gesteht ihr, abhängig von der Personenzahl, einen bestimmten Wohnraum zu. Das ist natürlich höchst wandelbar, doch scheint uns der gegenwärtige Stand als irgendwie natürlich und weitgehend richtig – vielleicht könnte es billiger sein, manche hätten mehr verdient, aber im Wesentlichen entspricht das den Anforderungen an Menschenwürde und zivilisiertem Lebensstand (freilich reichlich zirkulär: sind diese Standards doch dem Leistbaren nachempfunden und immer wieder daran angepasst worden). Selbst bei so etwas „Unnützem“ wie Gold gibt es womöglich solche Maßstäbe: die Aufwendungen in Form von Schmuck, die man je nach Vermögensstand zur Pflege seiner Partnerschaften oder seines Auftretens investiert. Es wäre seltsam, wären plötzlich die Eheringe nur noch ein Zehntel wert – deren Preis natürlich nicht übermäßig viel mit dem Goldpreis zu tun hat, aber irgendwie scheinen die Luxusausgaben und Liebesopfer vermutlich doch irgendwie gedanklich einen konstanten Wert der Edelmetalle zu verbürgen.

Hier besteht aber die Verwechslung zwischen Gold als Ware, die man für Geld kauft, oder als Geldanlage, mit Gold als Geld, das auch in der Not funktionieren soll. Das funktioniert dann eben wie Geld – wenn auch Geld minus Inflation durch staatliche Geldpolitik, dafür aber mit Schwankungen je nachdem, ob die Leute und Institutionen ihre Vorräte horten oder ausgeben, je nachdem, was es heute noch zu kaufen gibt und was man morgen noch zu kaufen hofft. Oder Gold funktioniert wie eine beliebige Ware, eine mehr oder weniger nutzlose zumal in Zeiten der Not. Gold erweist sich dann nicht als konkurrenzlos auf „geldlosen“ Märkten, so dass sich Genuss- und Suchtmittel wie Bohnenkaffee und Zigaretten oder Dinge mit einem gewissen Nutzwert wie Pelzmäntel im Nachkriegswinter als ganz gute Tauschmittel erwiesen. Wir blieben hier aber einen Schritt zurück und fragten gar nicht nach der zu erwartenden faktischen Rolle von Gold als Währung, sondern nach den Ursprüngen des Glaubens ans Gold. Und der liegt eben im Glauben an seinen unzerstörbaren wahren Wert, abhängig von Maßstäben und Sicherheitsgefühlen, die wir unbewusst hegen.