Die kreolische Synthese: Steueroasen, Naturkatastrophen und Rumcocktails

von Benjamin

Ein Gastbeitrag von Philipp Krämer, Linguist (oder Philologe) mit Schwerpunkt Kreolsprachen.

Des Wissenschaftlers Fluch ist es bekanntlich, dass immer alles mit allem zusammenhängt. Es muss nicht unbedingt synästhetisch sein, manchmal genügt auch die unendliche Synthese: Kaum hat man eine Schlussfolgerung gezogen, tun sich wieder drei neue auf. Verflochtene Zusammenhänge in die lineare Struktur eines Textes zu bringen bleibt solange schwierig, bis das mehrdimensionale Schreiben erfunden ist. (Strategien wie Verlinkungen und Verweise bieten Linderung, senden einen aber trotzdem immer nur zu einer anderen Stelle in einem wiederum linearen Text.)

Dass alles mit allem zusammenhängt, sieht und weiß auch der Kreolist. Wenn er auf einer Konferenz am Strand eines für Wissenschaftler eigentlich zu teuren Hotels den weißen Sand durch seine Zehen rieseln lässt, kann er zuverlässig darauf warten, dass ein Kollege an seinem Cocktail nippt und sagt: „Rum… the best by-product of creolisation.“ Die Wärme genießend hofft er darauf, von Naturkatastrophen verschont zu bleiben um ungestört zu grübeln, warum alles mit allem zusammenhängt:

Warum ist das Hotel so teuer, warum der Strand so paradiesisch? Wie kommt er zu seinem Rumcocktail, und warum fürchtet er die Natur?

Er sitzt in diesem Hotel, weil er sich mit großer Wahrscheinlichkeit in einem hochpreisigen Ferienreiseziel befindet: Mauritius, Seychellen, Jungferninseln, Bahamas, vielleicht auch Hongkong oder Macau. Sicherlich neigen Wissenschaftler dazu, für Konferenzen eine angenehme Umgebung auszuwählen. Sind die Linguisten, die sich mit Kreolsprachen beschäftigen, einfach besonders verwöhnt, elitär und verschwenderisch?

Möglich ist auch das, aber zunächst einmal reist der Sprachwissenschaftler doch am liebsten seinen zu erforschenden Sprachen hinterher (wenn er denn reist und kein „armchair linguist“ sein möchte). Den an Kreolsprachen interessierten Linguisten erwartet vor Ort nun also ein solches Netzwerk von Phänomenen, in dem alles mit allem zusammenhängt.

Kreolsprachen sind zunächst in ihrer typischen Entstehungsgeschichte Produkte der Kolonialzeit. Kolonien gab es viele, die allermeisten davon im tropischen Raum – dort fand man die Rohstoffe und Sklaven, die Europa für sich haben wollte. Die Tropen sind aber auch Wirbelsturmgebiet: Mindestens einen Hurrikan oder Zyklon muss der Kreolist erlebt haben, bis er auf einen Platz in der Fachgemeinschaft hoffen kann. Besonderes Pech für z.B. deutsche Wissenschaftler: Die vorlesungsfreie Zeit nach dem Sommersemester, somit die Konferenzperiode schlechthin, fällt ziemlich genau zusammen mit der atlantischen Wirbelsturmsaison.

Nicht alle tropischen Ex-Kolonien sprechen heute Kreolisch, vor allem eher selten die großen kontinentalen Gebiete. Stattdessen finden wir Kreolsprachen auf den kleinen tropischen Inseln. Für die Entstehung waren nämlich kompakte, eher abgeschlossene und durch die Sklaverei extrem ungleiche Gesellschaften besonders förderlich.

Kleine Inseln bringen aber weitere Merkmale mit sich: Sie sind zum Beispiel häufig für die Landwirtschaft nicht sonderlich rentabel, weil ihre knappen Flächen zu wenig abwerfen. Zu Zeiten der Plantagenwirtschaft mit kostenloser Sklavenarbeit konnte das Geschäft vielerorts noch aufgehen. Die Plantagen wiederum waren Geburtsort der Kreolsprachen und Ursprungsort der Rumherstellung. Während auf dem Feld nach und nach eine neue Grammatik aus den sprachlichen Ingredienzen des erzwungenen Zusammenlebens gebraut wurde, distillierte man zeitgleich seinen Zuckerrohrschnaps. Noch heute liest sich jede Liste der Rumproduktionsländer wie ein Who is Who der Kreolophonie: Jamaika, Barbados, Haiti, Réunion, Martinique und dergleichen mehr. (Kubaner und Brasilianer mögen mir das Auslassen ihrer Spezialfälle verzeihen.)

Nach der Sklavereiära war Zucker oder Kaffee nur noch aus Großbetrieben marktfähig. Für die war auf den Inseln kein Platz – oft genug weil das Relief es nicht zuließ. Wieder ein Zusammenhang: Nicht zufällig haben viele der Inseln ihren eigenen Vulkan, aktiv oder erloschen. Vulkangebiete haben zwar fruchtbare Böden, aber sie sind häufig genug auch zerklüftet, gefährlich und schwer zugänglich. Was also tun auf so einer Insel, die im Primärsektor nicht mehr mithalten kann, aber auch keine nennenswerten Bodenschätze oder Industrien hat? Man wird zum Dienstleister. Am besten für Dienste, die man nicht unbedingt am Mann verrichten muss – dafür ist die eigene Bevölkerung zu klein, die großen Bevölkerungen zu weit weg. Die Wahl fällt schnell auf das Finanzgeschäft, geboren ist die Steueroase.

Im Falle von Steueroasen sucht also nicht unbedingt das Geld sich die schönsten Orte aus (wer einmal in Monaco war, der weiß, wie Reichtum auch landschaftlich reizvoll gelegene Plätze entstellen kann). Es suchten sich umgekehrt die schönen Orte das Geld aus. Dem Anleger ist das natürlich recht, falls er überhaupt sein Offshore-Konto einmal am Platze besucht. Der Wissenschaftler mit knapperem Budget flucht darüber: Er kann sich das Hotel der Steuerflüchtlinge kaum leisten und interessiert sich ohnehin weniger für geldversteckende Europäer und ihre unsichtbaren Briefkastenfirmen. Vielmehr möchte er lieber dem kreolophonen Servicepersonal beim möglichst authentischen Gespräch untereinander lauschen. Selbstverständlich erst nachdem er seinen Ti Punch genossen hat, eine Vulkanwanderung unternommen oder eine Runde am Riff entlanggeschwommen ist. Denn auch das ist Teil der Berufsbeschreibung: Angesichts der bunten tropischen Meeresfauna ist kein Kreolist, wer nicht schnorchelt oder taucht. Aufsätze schreiben kann man sowieso am besten nach der Rückkehr zuhause im „armchair“. Vorausgesetzt, man ist gesund: Die Natur schlägt nämlich seltener in Form von Vuklaneruptionen zu, sondern sie bevorzugt die feine Ironie gegenüber dem tropenfremden Europäer. Der hat nicht etwa Gelbfieber, sondern aus den warmen Gefilden einfach nur eine Erkältung aus eisgekühlten Konferenzräumen mitgebracht.