Der Geltungsbereich des Grundgesetzes. Verwirrte Reichsbürger und übereifrige Bundesbürger – Teil 1
Das Recht besagt, was rechtmäßig, was legal ist. Wann ist aber das Recht rechtmäßig? Ob ein Gesetz rechtmäßig ist und rechtmäßig zustande gekommen ist, entscheidet sich in vielen heutigen Staaten anhand einer Verfassung (oder aufgrund ungeschriebener Traditionen, welche quasi die Funktion einer Verfassung erfüllen). Die Verfassung ist also eine Art Gesetz (in Deutschland ja: „Grundgesetz“), welches über die Rechtmäßigkeit anderer Gesetze bestimmt. Nun kann man das Spiel weitertreiben: Wann ist dann eine Verfassung rechtmäßig? Offenbar gibt es kein weiteres gesetztes, also geschriebenes und verabschiedetes Gesetz, welches darüber bestimmten könnte. Die Reihe würde sich sonst unendlich fortsetzen, denn wann wäre wiederum dieses Gesetz rechtmäßig? Was eine Verfassung ist und ob sie gilt, kann also nicht wiederum rechtlich entschieden werden. Die Geltung einer Verfassung kann sich nicht wieder aus einer Rechtsordnung ergeben, sondern die Verfassung schließt gerade eine Rechtsordnung ab, unterbricht die sonst unendliche Reihe der Rechtmäßigkeitsprüfung. Über ihre Geltung kann nur außerrechtlich entschieden werden.
Das heißt nicht, dass die Verfahren, mit denen eine Verfassung in Geltung kommt, nicht denjenigen äußerst ähnlich sein können, die innerhalb einer Rechtsordnung zur Anwendung kommen. Verfassung werden z.B. mittels Volksabstimmungen, Abstimmungen in gewählten Quasi-Parlamenten usw. in Kraft gesetzt. Ja, diese Verfahren können sogar innerhalb einer anderen Rechtsordnung rechtmäßig sein. Es kann darin ein Gesetz geben, welches die Ablösung der gegenwärtigen Verfassung durch eine andere vorsieht, sofern bestimmte Verfahren angewendet werden. Art. 146 des Grundgesetzes, welchen die ReichsbürgerInnen lieben, erlaubt z.B. die Ablösung desselben durch eine frei vom Volke beschlossene Verfassung (verpflichtet aber rechtlich zu nichts).
Aber das löst nicht das Problem, wie Verfassungen überhaupt gelten. Es kann ja nicht immer eine vorhergehende Rechtsordnung geben, innerhalb derer eine neue Verfassung verabschiedet werden kann. Wie wären wieder bei einer unendlichen Reihe. Auch ist dieser Fall nicht anwendbar, wenn die staatliche Ordnung völlig umgebrochen wird, etwa durch Eroberung, Revolution usw., insbesondere wenn die vorherige Ordnung diktatorisch war und gar keine Möglichkeit vorsah, zu einer anderen, freiheitlichen Verfassung zu kommen. Ihre Errichtung wäre aus Sicht einer solchen unfreien Rechtsordnung einfach illegal. Eine vernünftige Diktatur sieht ja keine Gesetze vor, die ihre Ablösung durch eine demokratische Rechtsordnung erlauben würden. Das heißt aber noch nicht, dass die Ablösung nicht legitim wäre: Sie wäre berechtigt, wünschenswert (was etwas anderes ist als rechtmäßig, also den herrschenden Gesetzen entsprechend, weil sich Legitimität eben nicht anhand geltender Gesetze ermisst, die gut oder schlecht sein können, sondern nur anhand der Frage, welche Ordnung gut oder schlecht wäre und auf wünschenswerte Weise zustande gekommen ist).
Demnach sind Verfassungen also nicht primär legal oder illegal, sondern legitim oder illegitim. Nun kann man seine private Meinung über eine Verfassung haben, aber die faktische Geltung einer Verfassung in einem Land ermisst sich am allgemeinen Legitimitätsglauben: Sie ist legitim, wenn die meisten sie für legitim halten oder zumindest nichts einwenden und wenn die Staatsorgane danach handeln. Eine Verfassung gilt, wenn alle oder die meisten bzw. die maßgeblichen Personen glauben, dass sie gilt (ähnlich wie Pierre Bourdieu einmal schrieb: Der König ist derjenige Verrückte, der sich für den König hält, aber mit der Zustimmung der anderen). Es sind Zustände denkbar, in denen ein Staatswesen oder ein Gebiet unorganisiert sind, in denen drastische Veränderungen einer Verfassung (die praktisch eine neue schaffen) nicht allgemein akzeptiert sind, usw. Dann ist unklar, was nun gilt. Aber im Normalfall lässt sich recht eindeutig festmachen, dass eine Verfassung gilt – und das schließt verfassungsfeindliche Gruppierungen und verfassungswidrige Gesetze gerade nicht aus! Sie werden es ja erst dadurch, dass klar ist, gegen welche Verfassung sie verstoßen.
Beim Übergang oder Bruch zwischen zwei Verfassungen können Sachverhalte dann rückblickend und vorausblickend auf ihre Legalität hin überprüft werden. Das Zustandekommen der neuen Verfassung kann aus Sicht der alten illegal sein. Geschehnisse unter der alten Verfassung können aus Sicht der neuen illegal sein (z.B. Kriegsverbrechen). Dieser Rückblick kann zu schwierigen Fragen führen: Kann man z.B. für etwas bestraft werden, das vorher legal war? Im Zweifelsfall muss aber die Legitimität entscheiden: Wird eine Verfassung als geltend anerkannt, so impliziert das, dass sie korrekt und aus ihrer eigenen Sicht rechtmäßig zustande gekommen ist. Ob das aus Sicht einer vorherigen Verfassung legal war, zählt dann nicht. In der neuen Ordnung muss dann festgelegt werden, wie mit den Strukturen oder der alten umgegangen wird. Ob etwa die Bundesrepublik mit dem Deutschen Reich identisch sein soll oder es ersetzt, spielt letztlich nur dahingehend eine Rolle, was man innerhalb der neuen Rechtsordnung daraus macht (inwieweit man sich an Früheres binden will oder andere das von einem verlangen können, und welche Konsequenzen man daraus zieht).
Die so genannten ReichsbürgerInnen glauben einerseits nicht an die Geltung des GG, viele steigern sich aber andererseits in eine paradoxe Rechtsgläubigkeit: Als Argumente für den Fortbestand des Deutschen Reichs zitieren sie allerlei bundesrepublikanische Gesetze und Gerichtsurteile. Das alles zielt darauf ab, innerhalb einer Rechtsordnung ihre Legalität zu bestreiten, was absurd ist (weil ja eine Rechtsordnung nicht hinsichtlich ihrer Legalität beurteilt werden kann, schon gar nicht auf Grundlage ihrer eigenen Gesetze, was tautologisch bzw. paradox ist). Man kann auch nicht sagen, dass das Reich „in Wirklichkeit“ so fortbesteht, wie sie glauben. Denn die Wirklichkeit eines Staates ist die Verfassung, die allgemein für die wirklich geltende gehalten wird. Das ist aber das Grundgesetz, und von ihm aus muss dann beurteilt werden, wie man es mit den Institutionen des Reichs hält. Ein Staat existiert nicht unabhängig von der allgemeinen Praxis. Er ist kein Naturgegenstand, über den sich im Zweifelsfall alle irren können, der „in Wirklichkeit“ ganz anders beschaffen ist, als alle denken. Der Staat beruht darauf, dass er so organisiert ist, wie er eben organisiert ist, und dass maßgebliche Personen sich an die Staatsform halten. Wenn es in einem Staat keinen Monarchen gibt, sondern alle in freier oder gleicher Wahl ein Parlament wählen und dieses z.B. eine Regierung bestimmt, dann kann dieser Staat ja nicht „in Wirklichkeit“ eine Monarchie sein (auch wenn völlig Uninformierte natürlich denken könnten, es gebe einen König, aber ja nicht die wesentlichen Akteure des Staates).
Aber man kann natürlich trotzdem an der Legitimität des GG zweifeln, etwa an seinem Zustandekommen oder seiner Fortgeltung. Das muss nicht heißen, dass man es sogleich beseitigen möchte, sondern nur eine andere Vorgehensweise für sinnvoll gehalten hätte (z.B. eine allgemeine Abstimmung im Jahre 1949 oder 1990), das GG jedoch in seiner bestehenden Form dennoch für akzeptabel hält. Denn es ist zwischen den verschiedenen Arten zu unterscheiden, wie die Legitimität einer Verfassung ausgedrückt werden kann.
Aber auch hier erweisen sich die ReichsbürgerInnen wieder als übertrieben gläubig, selbst wenn sie nicht ans Grundgesetz glauben, nämlich als verfahrensgläubig. Vielen, auch außerhalb dieser Bewegung, gilt eine allgemeine, freie Abstimmung als das legitimste Verfahren zur Etablierung einer Verfassung. Hinter dem musste die Verabschiedung im Parlamentarischen Rat und durch die Landtage zurückbleiben (die damaligen Ministerpräsidenten hatten aber ihre Gründe dafür). Eine solche Abstimmung ist im Prinzip ein sinnvoller Akt, aber seit einer solchen Abstimmung sind Generationen von Menschen geboren worden, die auch nie gefragt wurden. Und was hätten wir von einer Verfassung, die vor siebzig Jahren mit einer optimal organisierten Volksabstimmung fast ohne Gegenstimmen angenommen wurde, wenn heute niemand mehr zur Wahl ginge, das Parlament verfassungswidrige Gesetze verabschiedete, diese nicht vom Verfassungsgericht für ungültig erklärt würden, gar Banden in Teilen des Landes eine eigene Verwaltung nach Gutdünken unterhielten? Diese Verfassung würde formal gelten, wäre aber faktisch außer kraft. Hätte hingegen eine Besatzungsmacht dereinst eine Verfassung vollständig diktiert, wäre diese sicher zunächst illegitim zustande gekommen. Falls jedoch heute eine freiwillige Wahlbeteiligung von hundert Prozent zustande käme und die Institutionen diese Verfassung perfekt auslebten, so könnte man doch von ihrer Geltung ausgehen, ja sie schiene dann doch als legitim anerkannt.
In Wirklichkeit liegen wir irgendwo in der Mitte: Die Organe, welche die Verfassung verabschiedet haben, beruhten auf einer demokratischen Wahl, und das Grundgesetz wird letztlich seitdem allgemein ausgelebt. Überraschend gut für ein Provisorium, so dass es eben keines mehr ist. Man hätte sich eine neue Verfassung zur Einheit wünschen können, das hätten manche für legitimer befunden, aber es war legal, die ostdeutschen Länder zum Geltungsbereich des Grundgesetzes beitreten zu lassen.
Die Politik, mehr aber noch das Recht, sind nicht immer auf Symbolik ausgelegt, sondern oft nur auf das Funktionieren, das zweckmäßige Herumbasteln am Recht, auf eine ausreichende, aber nicht unbedingt glamouröse Begründung, eine provisorische Regelung, die sich bewährt und Gewohnheit wird. Man hebt z.B. unsinnige oder illegitime Regelungen nicht noch einmal offiziell und sozusagen feierlich auf, wenn sie durch andere Akte ohnehin ungültig oder obsolet geworden sind (so muss man die von den ReichsbürgerInnen so hassgeliebte Feindstaatsklausel nicht aufheben, keinen explizit so bezeichneten Friedensvertrag schließen usw., weil sich das durch andere Vereinbarungen und Beschlüsse erledigt hat).
Manche glauben ja auch, die Bundesrepublik sei letztlich nur eine Firma, die Bundesrepublik Deutschland GmbH. Kann ein Land eine Firma sein? Da stellt sich sofort die Frage: in welcher Rechtsordnung? Eine Gesellschaftsform wie die GmbH ist ja erst definiert, wenn es Gesetze gibt, welche die Strukturen, Rechte und Pflichten bestimmen, die in ihr gelten. Wenn nicht nach bundesdeutschem Recht, dann nach Reichsrecht? Ohne eine solche Definition im Rahmen einer Rechtsordnung wäre „GmbH“ nur eine beliebige Bezeichnung, welche man einer beliebigen, spontan vereinbarten Organisationsform gibt. Wenn diese „GmbH“ also keine GmbH im Sinne der bundesrepublikanischen Rechtsordnung ist, wie soll man dann wissen, was sie ist? Man würde wohl nach ihren Eigenschaften entscheiden: Eine „GmbH“ mit Parlament, Polizei, Finanzamt, Militär etc. ist ein Staat.
Die ReichsbürgerInnen lassen sich von zwei Vorstellungen leiten: Dass rechtliche Konstrukte wie eine GmbH eine Substanz hätten, die außerhalb einer Rechtsordnung existieren kann. Und dass Namen das Wesen einer Sache ausdrücken – wenn etwas „GmbH“ heißt, dann muss es sich unabhängig vom Kontext um eine Firma handeln (während die Bezeichnung in Wirklichkeit außerhalb einer Rechtsordnung gar nichts bezeichnet). Ähnliches gilt ja auch, wenn sie ganz aufgeregt auf die Bezeichnung „Grundgesetz“ verweisen. Denn immerhin heißt es ja nicht „Verfassung“! Aber in Analogie zur GmbH gilt: Ein „Grundgesetz“, das den Aufbau eines Staates regelt, also als Verfassung funktioniert, ist eine Verfassung.
Bei den ReichsbürgerInnen ist alles eine große – paradoxerweise! – rechtsgläubige Verwirrung. Wenn das GG nicht gilt, hat auch Art. 146 keine Bedeutung, ebenso wenig Verfassungsgerichts-Urteile, eine Eintragung der BRD GmbH in ein bundesdeutsches Handelsregister, eine Klage vor einem bundesdeutschen Gericht usw., was alles so die seltsamen Theorien beweisen soll (manche glauben auch nur an einen Teil davon und lehnen dann des Rest ab, bis sie dann irgendwann Akten aus deutschen Gerichten klauen, wie es unlängst geschehen ist). Denkt man sich all diese Konfusion weg, bleibt die Idee, das Deutsche Reich bestehe fort, wir würden aber darüber belogen und glaubten nur, in der Rechtsordnung der BRD zu leben. Das ist nun aber eine klassische Verschwörungstheorie mit zahlreichen typischen Merkmalen (etwas ist geheim und doch offensichtliche für die Eingeweihten; Systemkritik wird durch die Annahme böswilliger Verschwörer ersetzt, usw.) – und dazu natürlich eine unsinnige. Diese Idee eine Elite, die in einer anderen, „wirklichen“ Rechtsordnung lebt, während das Volk eine andere subjektiv anerkennt, werde ich hier nicht näher ausführen. Das gehört in das Gebiet der Forschung zu Verschwörungstheorien.
Rechtssoziologisch interessant ist daran nur, das man glaubt, es könne etwas geben, was die „wirkliche“ Rechtsordnung ist (wirklicher als die faktisch anerkannte – und die faktische durchgesetzte!). Wenn nun bestimmte Kreise nach ihren eigenen Gesetzen handeln würden, was sie anderen aber nicht offenlegen, wäre das womöglich illegal oder illegitim, aber nicht wirklicher oder unwirklicher als die allgemein anerkannte Verfassung. Es würde sich um einen seltsamen Zwischenzustand handeln, bei dem aber kein Teil die „wahre“ Rechtsordnung“ ist. Sondern die Rechtsordnung wäre höchstens alles zusammen oder eben die wirksam durchgesetzte (an die sich einige rechtswidrigerweise nicht halten, wenn sie nach ihren eigenen Gesetzen handeln).
Diese Art der Verfassungsdeutung verwechselt also Legalität und Legitimität, sucht aber oft Halt in einer paradoxen Rechtsgläubigkeit, die so tut, als könne man über die Rechtsordnung selbst wieder mittels Gesetzen entscheiden – noch dazu denjenigen aus einer Rechtsordnung, deren Geltung man gerade bestreiten möchte, oder aus einer Rechtsordnung, die eben faktisch nicht mehr gilt. Und letztlich handelt es sich damit um eine – wenn es erlaubt ist – sehr altdeutsche Verschwörungstheorie: eine, die nach Reich, am ehesten nach Kaiserreich, Untertanengeist und Amtsschimmel riecht, die den Fortschritt am liebsten gesetzlich verbieten möchte und nach dem wahren Wesen des Staates sucht. Eine Gesinnung, die von einer konservativen Revolution träumt, einer Wiederherstellung einer imaginierten alten Ordnung. Eine gesetzlich erlaubte, ja vorgeschriebene Revolution! (Verschiedenen Personen wurde ja der Ausspruch zugeschrieben, in Deutschland könne es keine Revolution geben, weil das Betreten des Rasens verboten ist.) Eine Haltung, die sich nicht damit abfinden möchte, dass Ordnung nur auf Anerkennung beruht und es keinen Fixpunkt gibt, keine dauerhafte oder alte Ordnung, von der aus man alles beurteilen und notfalls aushebeln kann, keine endgültige Form für das vermeintlich ewige deutsche Volk. Ein Weltbild, das den unsauberen, ungeordneten, improvisierten Gang der Rechtsgeschichte nicht begreifen mag. Eine Urteilsweise, die sich nicht von existierenden oder vergangenen Regelwerken lösen kann, um zu fragen, in welcher Welt wir eigentlich leben und leben wollen.