Synästhetische Soziologie

Versuche und Unterweisungen, die Gesellschaft mit Sinn und Verstand zu begreifen

Kategorie: Sprachliches

Der Geltungsbereich des Grundgesetzes. Verwirrte Reichsbürger und übereifrige Bundesbürger – Teil 1

Das Recht besagt, was rechtmäßig, was legal ist. Wann ist aber das Recht rechtmäßig? Ob ein Gesetz rechtmäßig ist und rechtmäßig zustande gekommen ist, entscheidet sich in vielen heutigen Staaten anhand einer Verfassung (oder aufgrund ungeschriebener Traditionen, welche quasi die Funktion einer Verfassung erfüllen). Die Verfassung ist also eine Art Gesetz (in Deutschland ja: „Grundgesetz“), welches über die Rechtmäßigkeit anderer Gesetze bestimmt. Nun kann man das Spiel weitertreiben: Wann ist dann eine Verfassung rechtmäßig? Offenbar gibt es kein weiteres gesetztes, also geschriebenes und verabschiedetes Gesetz, welches darüber bestimmten könnte. Die Reihe würde sich sonst unendlich fortsetzen, denn wann wäre wiederum dieses Gesetz rechtmäßig? Was eine Verfassung ist und ob sie gilt, kann also nicht wiederum rechtlich entschieden werden. Die Geltung einer Verfassung kann sich nicht wieder aus einer Rechtsordnung ergeben, sondern die Verfassung schließt gerade eine Rechtsordnung ab, unterbricht die sonst unendliche Reihe der Rechtmäßigkeitsprüfung. Über ihre Geltung kann nur außerrechtlich entschieden werden.

Das heißt nicht, dass die Verfahren, mit denen eine Verfassung in Geltung kommt, nicht denjenigen äußerst ähnlich sein können, die innerhalb einer Rechtsordnung zur Anwendung kommen. Verfassung werden z.B. mittels Volksabstimmungen, Abstimmungen in gewählten Quasi-Parlamenten usw. in Kraft gesetzt. Ja, diese Verfahren können sogar innerhalb einer anderen Rechtsordnung rechtmäßig sein. Es kann darin ein Gesetz geben, welches die Ablösung der gegenwärtigen Verfassung durch eine andere vorsieht, sofern bestimmte Verfahren angewendet werden. Art. 146 des Grundgesetzes, welchen die ReichsbürgerInnen lieben, erlaubt z.B. die Ablösung desselben durch eine frei vom Volke beschlossene Verfassung (verpflichtet aber rechtlich zu nichts).

Aber das löst nicht das Problem, wie Verfassungen überhaupt gelten. Es kann ja nicht immer eine vorhergehende Rechtsordnung geben, innerhalb derer eine neue Verfassung verabschiedet werden kann. Wie wären wieder bei einer unendlichen Reihe. Auch ist dieser Fall nicht anwendbar, wenn die staatliche Ordnung völlig umgebrochen wird, etwa durch Eroberung, Revolution usw., insbesondere wenn die vorherige Ordnung diktatorisch war und gar keine Möglichkeit vorsah, zu einer anderen, freiheitlichen Verfassung zu kommen. Ihre Errichtung wäre aus Sicht einer solchen unfreien Rechtsordnung einfach illegal. Eine vernünftige Diktatur sieht ja keine Gesetze vor, die ihre Ablösung durch eine demokratische Rechtsordnung erlauben würden. Das heißt aber noch nicht, dass die Ablösung nicht legitim wäre: Sie wäre berechtigt, wünschenswert (was etwas anderes ist als rechtmäßig, also den herrschenden Gesetzen entsprechend, weil sich Legitimität eben nicht anhand geltender Gesetze ermisst, die gut oder schlecht sein können, sondern nur anhand der Frage, welche Ordnung gut oder schlecht wäre und auf wünschenswerte Weise zustande gekommen ist).

Demnach sind Verfassungen also nicht primär legal oder illegal, sondern legitim oder illegitim. Nun kann man seine private Meinung über eine Verfassung haben, aber die faktische Geltung einer Verfassung in einem Land ermisst sich am allgemeinen Legitimitätsglauben: Sie ist legitim, wenn die meisten sie für legitim halten oder zumindest nichts einwenden und wenn die Staatsorgane danach handeln. Eine Verfassung gilt, wenn alle oder die meisten bzw. die maßgeblichen Personen glauben, dass sie gilt (ähnlich wie Pierre Bourdieu einmal schrieb: Der König ist derjenige Verrückte, der sich für den König hält, aber mit der Zustimmung der anderen). Es sind Zustände denkbar, in denen ein Staatswesen oder ein Gebiet unorganisiert sind, in denen drastische Veränderungen einer Verfassung (die praktisch eine neue schaffen) nicht allgemein akzeptiert sind, usw. Dann ist unklar, was nun gilt. Aber im Normalfall lässt sich recht eindeutig festmachen, dass eine Verfassung gilt – und das schließt verfassungsfeindliche Gruppierungen und verfassungswidrige Gesetze gerade nicht aus! Sie werden es ja erst dadurch, dass klar ist, gegen welche Verfassung sie verstoßen.

Beim Übergang oder Bruch zwischen zwei Verfassungen können Sachverhalte dann rückblickend und vorausblickend auf ihre Legalität hin überprüft werden. Das Zustandekommen der neuen Verfassung kann aus Sicht der alten illegal sein. Geschehnisse unter der alten Verfassung können aus Sicht der neuen illegal sein (z.B. Kriegsverbrechen). Dieser Rückblick kann zu schwierigen Fragen führen: Kann man z.B. für etwas bestraft werden, das vorher legal war? Im Zweifelsfall muss aber die Legitimität entscheiden: Wird eine Verfassung als geltend anerkannt, so impliziert das, dass sie korrekt und aus ihrer eigenen Sicht rechtmäßig zustande gekommen ist. Ob das aus Sicht einer vorherigen Verfassung legal war, zählt dann nicht. In der neuen Ordnung muss dann festgelegt werden, wie mit den Strukturen oder der alten umgegangen wird. Ob etwa die Bundesrepublik mit dem Deutschen Reich identisch sein soll oder es ersetzt, spielt letztlich nur dahingehend eine Rolle, was man innerhalb der neuen Rechtsordnung daraus macht (inwieweit man sich an Früheres binden will oder andere das von einem verlangen können, und welche Konsequenzen man daraus zieht).

Die so genannten ReichsbürgerInnen glauben einerseits nicht an die Geltung des GG, viele steigern sich aber andererseits in eine paradoxe Rechtsgläubigkeit: Als Argumente für den Fortbestand des Deutschen Reichs zitieren sie allerlei bundesrepublikanische Gesetze und Gerichtsurteile. Das alles zielt darauf ab, innerhalb einer Rechtsordnung ihre Legalität zu bestreiten, was absurd ist (weil ja eine Rechtsordnung nicht hinsichtlich ihrer Legalität beurteilt werden kann, schon gar nicht auf Grundlage ihrer eigenen Gesetze, was tautologisch bzw. paradox ist). Man kann auch nicht sagen, dass das Reich „in Wirklichkeit“ so fortbesteht, wie sie glauben. Denn die Wirklichkeit eines Staates ist die Verfassung, die allgemein für die wirklich geltende gehalten wird. Das ist aber das Grundgesetz, und von ihm aus muss dann beurteilt werden, wie man es mit den Institutionen des Reichs hält. Ein Staat existiert nicht unabhängig von der allgemeinen Praxis. Er ist kein Naturgegenstand, über den sich im Zweifelsfall alle irren können, der „in Wirklichkeit“ ganz anders beschaffen ist, als alle denken. Der Staat beruht darauf, dass er so organisiert ist, wie er eben organisiert ist, und dass maßgebliche Personen sich an die Staatsform halten. Wenn es in einem Staat keinen Monarchen gibt, sondern alle in freier oder gleicher Wahl ein Parlament wählen und dieses z.B. eine Regierung bestimmt, dann kann dieser Staat ja nicht „in Wirklichkeit“ eine Monarchie sein (auch wenn völlig Uninformierte natürlich denken könnten, es gebe einen König, aber ja nicht die wesentlichen Akteure des Staates).

Aber man kann natürlich trotzdem an der Legitimität des GG zweifeln, etwa an seinem Zustandekommen oder seiner Fortgeltung. Das muss nicht heißen, dass man es sogleich beseitigen möchte, sondern nur eine andere Vorgehensweise für sinnvoll gehalten hätte (z.B. eine allgemeine Abstimmung im Jahre 1949 oder 1990), das GG jedoch in seiner bestehenden Form dennoch für akzeptabel hält. Denn es ist zwischen den verschiedenen Arten zu unterscheiden, wie die Legitimität einer Verfassung ausgedrückt werden kann.

Aber auch hier erweisen sich die ReichsbürgerInnen wieder als übertrieben gläubig, selbst wenn sie nicht ans Grundgesetz glauben, nämlich als verfahrensgläubig. Vielen, auch außerhalb dieser Bewegung, gilt eine allgemeine, freie Abstimmung als das legitimste Verfahren zur Etablierung einer Verfassung. Hinter dem musste die Verabschiedung im Parlamentarischen Rat und durch die Landtage zurückbleiben (die damaligen Ministerpräsidenten hatten aber ihre Gründe dafür). Eine solche Abstimmung ist im Prinzip ein sinnvoller Akt, aber seit einer solchen Abstimmung sind Generationen von Menschen geboren worden, die auch nie gefragt wurden. Und was hätten wir von einer Verfassung, die vor siebzig Jahren mit einer optimal organisierten Volksabstimmung fast ohne Gegenstimmen angenommen wurde, wenn heute niemand mehr zur Wahl ginge, das Parlament verfassungswidrige Gesetze verabschiedete, diese nicht vom Verfassungsgericht für ungültig erklärt würden, gar Banden in Teilen des Landes eine eigene Verwaltung nach Gutdünken unterhielten? Diese Verfassung würde formal gelten, wäre aber faktisch außer kraft. Hätte hingegen eine Besatzungsmacht dereinst eine Verfassung vollständig diktiert, wäre diese sicher zunächst illegitim zustande gekommen. Falls jedoch heute eine freiwillige Wahlbeteiligung von hundert Prozent zustande käme und die Institutionen diese Verfassung perfekt auslebten, so könnte man doch von ihrer Geltung ausgehen, ja sie schiene dann doch als legitim anerkannt.

In Wirklichkeit liegen wir irgendwo in der Mitte: Die Organe, welche die Verfassung verabschiedet haben, beruhten auf einer demokratischen Wahl, und das Grundgesetz wird letztlich seitdem allgemein ausgelebt. Überraschend gut für ein Provisorium, so dass es eben keines mehr ist. Man hätte sich eine neue Verfassung zur Einheit wünschen können, das hätten manche für legitimer befunden, aber es war legal, die ostdeutschen Länder zum Geltungsbereich des Grundgesetzes beitreten zu lassen.

Die Politik, mehr aber noch das Recht, sind nicht immer auf Symbolik ausgelegt, sondern oft nur auf das Funktionieren, das zweckmäßige Herumbasteln am Recht, auf eine ausreichende, aber nicht unbedingt glamouröse Begründung, eine provisorische Regelung, die sich bewährt und Gewohnheit wird. Man hebt z.B. unsinnige oder illegitime Regelungen nicht noch einmal offiziell und sozusagen feierlich auf, wenn sie durch andere Akte ohnehin ungültig oder obsolet geworden sind (so muss man die von den ReichsbürgerInnen so hassgeliebte Feindstaatsklausel nicht aufheben, keinen explizit so bezeichneten Friedensvertrag schließen usw., weil sich das durch andere Vereinbarungen und Beschlüsse erledigt hat).

Manche glauben ja auch, die Bundesrepublik sei letztlich nur eine Firma, die Bundesrepublik Deutschland GmbH. Kann ein Land eine Firma sein? Da stellt sich sofort die Frage: in welcher Rechtsordnung? Eine Gesellschaftsform wie die GmbH ist ja erst definiert, wenn es Gesetze gibt, welche die Strukturen, Rechte und Pflichten bestimmen, die in ihr gelten. Wenn nicht nach bundesdeutschem Recht, dann nach Reichsrecht? Ohne eine solche Definition im Rahmen einer Rechtsordnung wäre „GmbH“ nur eine beliebige Bezeichnung, welche man einer beliebigen, spontan vereinbarten Organisationsform gibt. Wenn diese „GmbH“ also keine GmbH im Sinne der bundesrepublikanischen Rechtsordnung ist, wie soll man dann wissen, was sie ist? Man würde wohl nach ihren Eigenschaften entscheiden: Eine „GmbH“ mit Parlament, Polizei, Finanzamt, Militär etc. ist ein Staat.

Die ReichsbürgerInnen lassen sich von zwei Vorstellungen leiten: Dass rechtliche Konstrukte wie eine GmbH eine Substanz hätten, die außerhalb einer Rechtsordnung existieren kann. Und dass Namen das Wesen einer Sache ausdrücken – wenn etwas „GmbH“ heißt, dann muss es sich unabhängig vom Kontext um eine Firma handeln (während die Bezeichnung in Wirklichkeit außerhalb einer Rechtsordnung gar nichts bezeichnet). Ähnliches gilt ja auch, wenn sie ganz aufgeregt auf die Bezeichnung „Grundgesetz“ verweisen. Denn immerhin heißt es ja nicht „Verfassung“! Aber in Analogie zur GmbH gilt: Ein „Grundgesetz“, das den Aufbau eines Staates regelt, also als Verfassung funktioniert, ist eine Verfassung.

Bei den ReichsbürgerInnen ist alles eine große – paradoxerweise! – rechtsgläubige Verwirrung. Wenn das GG nicht gilt, hat auch Art. 146 keine Bedeutung, ebenso wenig Verfassungsgerichts-Urteile, eine Eintragung der BRD GmbH in ein bundesdeutsches Handelsregister, eine Klage vor einem bundesdeutschen Gericht usw., was alles so die seltsamen Theorien beweisen soll (manche glauben auch nur an einen Teil davon und lehnen dann des Rest ab, bis sie dann irgendwann Akten aus deutschen Gerichten klauen, wie es unlängst geschehen ist). Denkt man sich all diese Konfusion weg, bleibt die Idee, das Deutsche Reich bestehe fort, wir würden aber darüber belogen und glaubten nur, in der Rechtsordnung der BRD zu leben. Das ist nun aber eine klassische Verschwörungstheorie mit zahlreichen typischen Merkmalen (etwas ist geheim und doch offensichtliche für die Eingeweihten; Systemkritik wird durch die Annahme böswilliger Verschwörer ersetzt, usw.) – und dazu natürlich eine unsinnige. Diese Idee eine Elite, die in einer anderen, „wirklichen“ Rechtsordnung lebt, während das Volk eine andere subjektiv anerkennt, werde ich hier nicht näher ausführen. Das gehört in das Gebiet der Forschung zu Verschwörungstheorien.

Rechtssoziologisch interessant ist daran nur, das man glaubt, es könne etwas geben, was die „wirkliche“ Rechtsordnung ist (wirklicher als die faktisch anerkannte – und die faktische durchgesetzte!). Wenn nun bestimmte Kreise nach ihren eigenen Gesetzen handeln würden, was sie anderen aber nicht offenlegen, wäre das womöglich illegal oder illegitim, aber nicht wirklicher oder unwirklicher als die allgemein anerkannte Verfassung. Es würde sich um einen seltsamen Zwischenzustand handeln, bei dem aber kein Teil die „wahre“ Rechtsordnung“ ist. Sondern die Rechtsordnung wäre höchstens alles zusammen oder eben die wirksam durchgesetzte (an die sich einige rechtswidrigerweise nicht halten, wenn sie nach ihren eigenen Gesetzen handeln).

Diese Art der Verfassungsdeutung verwechselt also Legalität und Legitimität, sucht aber oft Halt in einer paradoxen Rechtsgläubigkeit, die so tut, als könne man über die Rechtsordnung selbst wieder mittels Gesetzen entscheiden – noch dazu denjenigen aus einer Rechtsordnung, deren Geltung man gerade bestreiten möchte, oder aus einer Rechtsordnung, die eben faktisch nicht mehr gilt. Und letztlich handelt es sich damit um eine – wenn es erlaubt ist – sehr altdeutsche Verschwörungstheorie: eine, die nach Reich, am ehesten nach Kaiserreich, Untertanengeist und Amtsschimmel riecht, die den Fortschritt am liebsten gesetzlich verbieten möchte und nach dem wahren Wesen des Staates sucht. Eine Gesinnung, die von einer konservativen Revolution träumt, einer Wiederherstellung einer imaginierten alten Ordnung. Eine gesetzlich erlaubte, ja vorgeschriebene Revolution! (Verschiedenen Personen wurde ja der Ausspruch zugeschrieben, in Deutschland könne es keine Revolution geben, weil das Betreten des Rasens verboten ist.) Eine Haltung, die sich nicht damit abfinden möchte, dass Ordnung nur auf Anerkennung beruht und es keinen Fixpunkt gibt, keine dauerhafte oder alte Ordnung, von der aus man alles beurteilen und notfalls aushebeln kann, keine endgültige Form für das vermeintlich ewige deutsche Volk. Ein Weltbild, das den unsauberen, ungeordneten, improvisierten Gang der Rechtsgeschichte nicht begreifen mag. Eine Urteilsweise, die sich nicht von existierenden oder vergangenen Regelwerken lösen kann, um zu fragen, in welcher Welt wir eigentlich leben und leben wollen.

Respekt

Das Saarland, wo ich herkomme, ist nicht gerade eine reiche Region. Es ist in seinem Kern ein traditionelles Industriegebiet, wobei die Kohle- und Stahlindustrie inzwischen sehr weitgehend eingegangen ist. Die Arbeiterschaft rekrutierte sich im Zuge der Industrialisierung zu einem erheblichen Teil aus einer katholischen Landbevölkerung, die oft weiterhin in ihren Dörfern lebte, dort auf kleinen Flächen Lebensmittel anbaute und kleinere bis mittelgroße Nutztiere hielt (zum Teil siedelte man natürlich auch näher an die Industriestandorte um). Die Berg- und Hüttenarbeiter liefen oft sehr weit zu Fuß aus ihren Dörfern zu den Industriebetrieben – durch dieses verstreute Wohnen und zentralisierte Arbeiten homogenisierte sich auch der Dialekt. Und umgekehrt ändert er sich noch heute plötzlich, wenn man weit genug von den Industriestandorten entfernt ist – die so genannte Heimläufergrenze.

Nun habe ich vor einer Weile bei einem Besuch im Saarland die wöchentliche Kolumne in der Saarbrücker Zeitung gelesen, worin eine ältere Mundartforscherin ohne besonderen wissenschaftlichen Anspruch (manchmal auch ohne jeden erkennbaren Zusammenhang) Ausdrücke und Redewendungen der saarländischen Dialekte erörtert. Das Thema war kürzlich eine fiktive Familie, die im Saarland traditionell redensartlich für den sozialen Vergleich herangezogen wird. Die Familie Jääb (mundartlich für Jakob) vertritt prototypisch die untersten sozialen Schichten, ihre prekäre Lebensweise und vor allem ihren unordentlichen Lebensstil. Man spottet über sie oder vergleicht andere zwecks Herabsetzung mit ihnen. Etwa kann man über die Haushaltsführung und den fehlenden Ordnungssinn anderer lästern, indem man einfach sagt, bei ihnen sehe es aus wie bei Jääbs. Man weiß dann, was gemeint ist.

Welche soziale Funktion hat nun die Rede von den Jääbs (und einigen vergleichbaren mythischen Figuren, die prototypisch bestimmte schichtmäßig markierte Eigenschaften verkörpern)? Sie dient wohl der Herstellung von Respektabilität. Im doppelten Sinne: Man zieht die Grenzen des Respektablen und ordnet sich auf der positiven Seite ein. Respektabilität ist ein Konzept aus der Schichtungsforschung, welches die Unterscheidung bezeichnet, dass bestimmte Gruppen als weitgehend vollwertige Gegenüber im sozialen Umgang angesehen werden, ihre Lebensweise als ausreichend ordentlich und normkonform, ihr Verhalten als typischerweise (wenn auch nicht notwendig in jedem Einzelfall) angemessen und zuverlässig. Darunter beginnt eine Schicht derer, die so prekär, in solch ungeordneten Lebensverhältnissen leben, deren Verhalten so ungeregelt und konventionswidrig ist, dass man der Auffassung ist, der Umgang mit ihnen unterliege nicht ganz den üblichen Regeln, ihre Lebensweise sei unterhalb des Normalen. Der Umgang mit ihnen entehrt einen selbst auch ein wenig. Für Personen unter dieser Linie sieht die Sprache zahlreiche abwertenden Begriffe vor, welche natürlich nicht von allen und in allen Situationen benutzt werden, aber einen Deutungsvorrat liefern, der leicht bei der Hand ist, während nicht abwertende Ausdrücke immer gestelzt klingen (Prekariat, sozial Unterprivilegierte etc.). Es gibt dann Wörter wie Abschaum, Bodensatz, im Französischen die von Nicolas Sarkozy erwähnte racaille, im saarländischen das Lumbezeich (Lumpenzeug). Wichtig ist dabei, dass diese Grenze der Respektabilität nicht für immer festgelegt ist, sondern sich mit dem Wohlstandsniveau und der Entwicklung von Verhaltensnormen verschieben kann. Der Maßstab wird im Alltag zugleich in gewissen Grenzen neu ausgehandelt und durch etablierte, oft formelhafte Redeweisen verfestigt; seine Anwendung auf konkrete Personen oder Gruppen ist zwar einigermaßen vorhersehbar, muss aber im Zweifelsfall spontan ausgemacht werden (natürlich nicht notwendig durch systematische Diskussion, sondern durch kleine spitze Bemerkungen, Allgemeinplätze oder anekdotische Belege, denen man sich anschließt, weil sie in der Alltagslogik einleuchten oder aufgrund einer Autorität oder Mehrheit).

Die klassische saarländische Arbeiterschaft lebte nun in der Regel selbst prekär genug, war aber oft aufgrund des Paternalismus der Industriebarone ausreichend sozial abgesichert. So wurde etwa immer darauf geachtet, dass die Berg- und Hüttenarbeiter ein Eigenheim erwerben bzw. mit viel Eigenleistung erbauen konnten. Das band sie an einen Standort, separierte sie räumlich und vermittelte ihnen das Gefühl eines bescheidenen Wohlstands, das sie gemeinsam mit religiöser Gesittetheit von Aufruhr und starken Forderungen abhielt. Derart in einigermaßen geordneten Verhältnissen lebend sprach man von den prekärer Lebenden zwar lachend, vielleicht ein wenig liebenswert wie gegenüber der armen Verwandtschaft, grenzte sich aber wohl auch gehörig niederträchtig auslachend nach unten ab.

Wie ziehen nun Redensarten die erwähnte Grenze des Ehrbaren? Nicht respektabel ist zunächst eine Unterversorgung mit denjenigen Dingen, die als absolut essenziell für das soziale Leben und normales Auftreten definiert sind. Bei den Jääbs gilt: Wer seerscht uffsteht, kriet es Himmet (wer zuerst aufsteht, bekommt das Hemd). Man sollte ausreichend zum Anziehen und insbesondere zumindest eine Satz an Sonn- und Festtagskleidung (sonndahse Kläre – sonntägliche Kleidung) besitzen. Wie Pierre Bourdieu in seiner Analyse der Lebensstile sozialer Klassen beschrieben hat, achtet gerade die traditionelle Arbeiterklasse auf ordentliche Haushaltsführung: Zwar reichen die Mittel nicht für das eigentlich Schicke, die Stilisierung des Lebens, die vornehmen Materialien, fehlt eine umfangreiche Bildung im Sinne der sozial definierten Hochkultur, aber Sauberkeit und Ordnung, auf das Praktische und Nützliche zu achten, sparsam zu sein und Maß zu halten, vorauszuschauen und sich und die Dinge ausreichend zu schonen, grenzt einen vom absoluten Proletariat ab. Das Zusammenbrechen eine geordneten Haushaltsführung und das Fehlen von Hygienestandards bei den Jääbs wird dann umgekehrt exemplifiziert durch den Spruch: Bei denne steckt de Kamm im Butter (bei denen steckt der Kamm im Butter. Butter ist in saarländischen Mundarten vielfach männlich).

Oft mit Nutzgarten und Kleinvieh ausgestattet konnte man die saarländische Familie einigermaßen versorgen, wenn auch die traditionelle Küche hauptsächlich aus immer neuen Kombinationen von Kartoffeln mit etwas Milch, Butter oder Sahne besteht, aromatisiert mit Zwiebeln und vielleicht ein paar Speckwürfeln. An die zumindest kulinarische Francophilie der saarländischen Mittel- und Oberklasse, die sich auf alle Schichten ausbreitet, war damals noch nicht zu denken (kein Crémant zu jedem gerade erfundenen feierlichen Anlass; es wurden früher andere Dinge gehamstert als Fleisch und Pasteten, Fisch und Meeresfrüchte, Käse und Wein, Spirituosen und Pâtisserie von jenseits der Grenze…). Die Selbstversorgung verlangte im Übrigen eine große Disziplin: außerhalb der harten und langen Arbeit noch einen Garten umzugraben, um für eine, sagen wir, sechsköpfige Familie Kartoffeln anzubauen, mit der Sense Heu zu machen, außerdem noch am eigenen Haus oder an dem der Nachbarn, Verwandten und Bekannten zu bauen, usw. Bei Jääbs dagegen ist die Versorgung mit Nahrungsmitteln unzureichend: Bei denne mache die Meis am Kicheschrank Klimmziech un hann Träne in de Aue (bei denen machen die Mäuse am Küchenschrank Klimmzüge und haben Tränen in den Augen).

Es zählt aber nicht nur das übliche Niveau der Ressourcenausstattung, sondern auch die Beständigkeit: Ein gesicherter Arbeitsplatz, gar etwas Erspartes, oder selbst wenn man anschreiben ließ, dann doch so, dass man recht sicher sein konnte, dass das Geld wieder hereinkam, und man zumindest immer versorgt war. Und nach Möglichkeit legte man natürlich auch Vorräte an. Die prekären Verhältnisse der Jääbs kommen hingegen darin zum Ausdruck, dass die ned emòl es Brot fer iwwer Naacht hann (sie haben nicht einmal über Nacht Brot im Haus, also die ökonomische Sicherheit und Vorausschau reichen nicht über den Tag hinweg).

Weil man umgekehrt aber spürt, dass man mehr als eine bescheidene Respektabilität nicht erreichen wird, muss man lieben, was man hat. Das betrifft nicht nur einen kuriosen Lokalpatriotismus, der sich in einer kurzen historischen Zeitspanne eine Identität gebastelt hat und einen Stolz auf das Bundesland kultiviert, das eigentlich ein Kunstgebilde ist, das nur zur industriellen Ausbeutung zwischen den Ländern immer wieder hin- und hergeschoben und erobert wurde. Oder die beständige Feierlaune und Neigung zur Geselligkeit, Vereinsmeierei und katholischen Ethik, wo man sich nicht mit sittlichen Forderungen und unerbittlichem Arbeitseinsatz überfordert, sondern mal diverse Augen zudrückt. Diese Liebe zum Schicksal äußert sich auch insbesondere in der umgekehrten Abgrenzung gegenüber jenen, die etwas besseres sind oder zu sein glauben. So selbstbewusst man in allen Schichten Dialekt spricht, so assoziiert man ihn zugleich ein wenig verschämt mit niedrigerem Status, aber dann doch so, dass Hochdeitsche wiederum als arrogant und Möchtegern-Vornehm gelten, selbst wenn man ja eigentlich weiß, dass sie nicht die Gnade hatten, in Quetschemimbach (ein fiktiver Name für einen besonders provinziellen Ort, vgl. „Hintertupfing“, „Kleinkleckersdorf“ usw.) geboren zu sein. Man sollte also auch als Ausgewanderter eifrig die Mundart pflegen, was ich hiermit ja auch getan habe…

An das vermeintliche Volk. Teil 3: „Wir sind keine Nazis“

„Wir sind keine Nazis.“ Ich fange mal ganz polemisch an: Die Nazis, ihr erinnert euch, hatten eine winzige Minderheit in Deutschland auserkoren und behaupteten, diese sei auf dem Weg zu Weltherrschaft oder habe sie schon halb inne. Aber selbst wenn euch solche Parallelen nicht überzeugen und ihr sagt: „Wir können nichts dafür, dass bei uns die Nazis mitlaufen“, „Spinner gibt es in jeder Bewegung“, „Wir sind doch Leute aus der Mitte der Gesellschaft“, usw. – wenn man derartige Zustimmung von Nazis erfährt, und zwar nicht für seine Vorliebe für Vollmilchschokolade, sondern in politischen Dingen, dann sollte man sich zumindest mal Fragen stellen. Und es laufen bekannte NPD-Führungsleute und andere Rechtsradikale mit – man kennt die, wenn man die Medien der Gutmenschen aufmerksam verfolgt, die seit Langem die Nazis kritisch beobachten.

Und dann ist da Lutz Bachmann. Der hat auf Facebook die NPD gelikt. Es gibt Posts, wo er Eingewanderte als „viehzeug“ und „gelumpe“ tituliert. Mehr Einlassungen findet man mit etwas Googeln. Ups. Was soll man nun davon halten? Entweder ist er ein verkappter Nazi, der nur zu propagandistischen Zwecken Kreide gefressen hat. Der sich hinter praktisch inhaltsfreien Forderungen versteckt, denen alle scheinbar zustimmen können, deren Kombination untereinander und mit dem Namen der Bewegung aber irgendwie suggeriert, dass es da einen besonderen Zusammenhang zwischen Zuwanderung und Kriminalität, Islam und sozialen Problemen gebe. Oder, freundliche Interpretation, er ist ein Trottel, dem man nicht die Organisation einer Volksbewegung anvertrauen sollte, die ständig mit Nazi-Vorwürfen konfrontiert ist, weil er so blöd ist, dem Gegner noch Munition zu liefern. Und die NPD? Die freut sich und hatte zwischenzeitlich mal ihr Logo auf Facebook gegen eins ausgetauscht, in dem es heißt: „Islamisierung nein danke!“

Oder PEGIDA-Redner Alfons Proebstl, in dessen mäßig komischen YouTube-Videos hinten der Schriftzug „pi-news.net“ prangt. Die Kommentarspalten dieser Seite sollten sich alle, die „nichts gegen den Islam/Ausländer/… haben“ und nur besorgt sind, mal zuführen. Auch sonst möge man gründlich studieren, was auf den Seiten so vertreten wird, welche von manchen PEGIDA-Leuten so geschätzt werden.

Abgesehen davon werden fast alle PEGIDA-Ableger in anderen Städten von einschlägig bekannten Rechtsextremisten organisiert. Seitens des „Originals“ hat man zwar irgendwann erklärt, dass die meisten illegitim seien (ein paar üble haben aber noch den Segen der Dresdner). Aber das zeigt ja auch, wie viel „Volksbewegung“ und Demokratie in dem Ganzen steckt, wenn das einfach von oben entschieden wird, und es zeigt, was man gewollt oder zumindest ungewollt heraufbeschworen hat.

Und so weiter: die weiteren dokumentierten Äußerungen aus dem Orgateam, wenn man sich im Privaten unter seinesgleichen wähnte, das Pöbeln der Anhänger auf Facebook, die pauschale Verunglimpfung aller erdenklichen Funktionsträger aus Politik und Journalsmus (wobei einen die Parallelen zu Tiraden der Nazis so demonstrativ gar nicht zu interessieren scheinen), usw.

Kurioserweise fühlten sich die Nazis nie angesprochen, wenn Leute um mich herum und ich selbst uns für etwas engagiert haben. Sehr oberflächlich betrachtet mag man mit Nazis übereinstimmen, dass die Natur schützenswert sei und die Globalisierung auch Nachteile hat, aber das hört sehr schnell auf, sobald es etwas konkreter wird, und die Menschenverachtung springt einem ins Gesicht. Irgendwas an PEGIDA scheint die Nazis aber eben anzuziehen und die Distanzierung verpuffen zu lassen. Dass die ganze Welt in „Ausländer“ und „Deutsche“ eingeteilt werden müsse, dass man „richtig“ deutsch nur durch Abstammung sei (oder bestenfalls ehrenhalber, wenn man sich bis zur Ununterscheidbarkeit anpasst), die historisch unhaltbare Phantasterei, dass es so etwas wie reine Völker und Kulturen gebe und man sie nicht vermischen dürfe – vielleicht stimmt ihr nicht all dem zu, aber je mehr davon, desto näher seid ihr bei den Nazis. Und sie werden alles tun, damit ihr ihnen näher kommt und sie sich den Anschein geben können, für die Mehrheit und Mitte zu sprechen und harmlos zu sein. Also demonstriert gegen Nazis oder für und gegen irgendwelche konkrete Projekte, und nicht gegen irgendwas Konfuses mit „Ausländern“, „Asylanten“, „Islamisierung“ usw., von dem man nicht so genau weiß, wie das alles zusammenhängen soll, außer dass alles Fremde doch irgendwie verdächtig ist.

Man muss natürlich aufpassen, hier nicht mit zweierlei Maß zu messen: Spinner gibt es überall und man kann nicht an PEGIDA kritisieren, was man anderen durchgehen lassen würde. Aber es geht mir mehr um die Summe als um die einzelnen Indizien: Orgateam und Gefolgschaft, Vereinnahmung durch Nazis und fehlende Eindeutigkeit der eigenen Parolen, rechtradikale Inspirationsquellen und Pauschalverurteilungen tragender Institutionen in Politik, Medien usw.

Selbst wenn ihr auch ganz ehrlich und aufrichtig nur mit den am meisten gemäßigten unter den Forderungen der PEGIDA identifiziert und wirklich etwas gegen Nazis habt – was da abläuft, ist gefährlich. Das Organisationsteam und die Redner spielen ein doppeltes Spiel oder sind unfähig zur klaren Abgrenzung. Die große Vermischung der Themen, die Dialogverweigerung gegenüber den Medien und den meisten gewählten Volksvertreterinnen und -vertreter, und das fehlende Bewusstsein für die Vereinnahmungsstrategien der Nazis schaffen eine vergiftete Stimmung, weil sich alle Radikaleren im Recht und ermutigt fühlen können. Nicht überall, wo Nazi drin ist, steht auch Nazi drauf. Dieses Verwirrspiel können die Nazis selbst am besten. Und nur zu behaupten, dass man kein Nazi sei, stellt noch nicht sicher, dass man nicht in Wirklichkeit mit zweierlei Maß misst und höchst vorurteilsbehaftet denkt (Was euch selbst betrifft, einfach mal den „Einsetztest“ machen: In die eigenen Aussagen probeweise verschiedene Gruppen und Personen einsetzen und dann beurteilen, ob man so pauschal, so verurteilend über sie reden würde, ob man wollte, dass so über einen selbst geredet würde: Juden, PEGIDA, Franzosen, Christen, Lesben, Deutsche, Lutz Bachmann, Fans von Helene Fischer, deine Mutter… Das sagt noch nichts über die begründeten Unterschiede der Genannten, aber viel über die eigene Denkweise und den Umgangston. Patriotische Europäer gegen die Verjudung des Abendlandes – kein schöner Name. Wie wäre es mit: Islamisten, die von sich behaupten, keine zu sein und es nicht so zu meinen…). Erkenne dich selbst, Pegidistin und Pegidist!

An das vermeintliche Volk. Teil 1: „Ich habe nichts gegen Ausländer, aber…“

„Ich habe nichts gegen Ausländer, aber…“, sagt ihr („ihr“ heißt im Folgenden: Leute, die im Zuge von Demonstrationen, im Internet oder andernorts Unterstützung für PEGIDA signalisiert haben – jeweils sind es nicht alle, die so denken, aber eine ausreichende Zahl, die mir aufgefallen ist. Und wer nicht so denkt, muss ich doch oft fragen lassen, was man mit denen gemeinsam haben will, die so denken…). Also: „…nichts gegen Ausländer.“ Und darin liegt schon das ganze Problem: Ihr müsst irgendwie alle Menschen in „Ausländer“ und Nicht-Ausländer unterteilen. Und selbst gute Ausländer bleiben für euch: Ausländer – sie dürfen Steuern zahlen, müssen Deutsch reden, dürfen gnädigerweise im Land bleiben, müssen sich am besten bis zur Unsichtbarkeit anpassen (dürfen vielleicht höchstens noch anders kochen), und zum Beweis, dass ihr nicht ausländerfeindlich seid, führt ihr einige Ausländer an, die ihr persönlich kennt und gegen die ihr nichts habt. Aber warum dann überhaupt unterscheiden? Warum von „Ausländern“ reden, wenn es gute und schlechte gibt (wie Einheimische auch) – und das das eigentliche Problem ist: Fundamentalisten, Kriminelle, Rassisten usw., wo sie halt jeweils vorkommen?

Weil den „Ausländern“ doch irgendwie ein Makel anzuhaften scheint. Ich glaube, viele von euch wollen ein Zweiklassenstrafrecht: Verbrecherische Deutsche bleiben für euch Deutsche, für „Ausländer“ sieht es die Abschiebung als Sonderstrafe vor (Resozialisierung? Reue und Vergebung? Nur für einheimische Pegida-Anführer! Wer einmal abgeschoben ist, darf natürlich nicht zurück…). Einen Zweiklassen-Sozialstaat. Zwei Klassen von Gesetzestreuen: Es gibt dann eine Klasse von Menschen, die schon ewig in diesem Land leben und sich an die Gesetze halten, aber keinen Einfluss auf die Gesetzgebung haben, die sie wie alle anderen auch betrifft, weil sie keine Staatsbürgerschaft haben.

Überall diese Unterscheidung. Nicht einfach nur Menschen. Es ist ein purer Zufall, auf welcher Seite einer menschengemachten Grenze man geboren wird. Aber die Welt zerfällt für euch auf immer in zwei Teile: Menschen, denen man Rechenschaft, Solidarität, Hilfe schuldet, und der Rest, der einem egal ist, mit deren Probleme man nichts zu schaffen haben will. Wie ja auch die Rede von den „Wirtschaftsflüchtlingen“ und vom „Asylbetrug“: Wo ist die Grenze zwischen politischer Verfolgung und wirtschaftlichem Elend, das politisch ausgenutzt oder in Kauf genommen wird? Könnte nicht deren Misere auch ein wenig mit unserem Wohlstand zu tun haben? Und können wir nicht überhaupt allen einen Traum vom besseren Leben zugestehen, nicht für gerechtere Teilhabe am Wohlstand sorgen (hier oder woanders), ohne Menschen in Lebensgefahr auf See und in ein Asylverfahren zu zwingen, das auf ihre Lage gar nicht zugeschnitten ist? Das Kapital und die Waren sollen fließen (am besten zu unserem Vorteil), aber die Menschen sollen bleiben, wo der Pfeffer wächst. Und diejenigen, die nach unserem seltsamen Asylsystem abgelehnt werden, aber noch da sind, sind das aus gutem Grund: In den Ländern, in die man sie zurückschicken müsste, wolltet ihr nie im Leben wohnen! Nach langer Zeit so aus eurem Alltag, eurem gewohnten Umfeld herausgerissen werden, dass wolltet ihr auch nicht!

Die abzuschiebenden kriminellen „Ausländer“ – welche sind das eigentlich? Heißt das: Entzug der Staatsbürgerschaft für zwischenzeitlich Eingebürgerte? Abschiebung um jeden Preis, egal in welchem Zustand die Zielländer sind und was den Abgeschobenen dort droht? Export von Kriminellen – sollen doch die anderen sehen, wie sie damit klarkommen!? Ich lese nur eine uneindeutige – oder gefährlich vieldeutige Forderung…

Oder ihr meint das gar nicht so und seht doch nur die eine Menschheit und ihre Probleme mit den Menschenfeinden? Dann hört auf mit dieser ständigen Unterscheidung, die alles überschattet. Seht die Menschen und was sie brauchen.

Oder ihr sagt: Ich bin ja für ein geordnetes Zuwanderungsrecht! Gute Sache, aber was stellt ihr euch darunter vor? Eine kleine Auswahl wirtschaftlich nützlicher Berufstätiger und Steuerzahler, die am besten gar nicht auffallen und nicht die Einbildung einer einheitlichen deutschen Kultur stören (dazu später noch)? Ach, schöne neue deutsche Welt.

(Fortsetzung folgt.)

How to be sane

Die These ist, dass Wörter wie „gesund“, „nichtbehindert“, „nüchtern“ (teilweise) ähnlich funktionieren, nämlich nämlich als Ausschluss spezifischer nicht-intentionaler oder nicht zuzurechnender Erklärungen von Verhalten, welcher sich teilweise fälschlich zu eine Fehlschluss auf Kontrolle verallgemeinert. Das muss man wohl erklären (und mir geht es nur darum, wie die Beschreibungen verwendet werden, nicht ob das gut oder schlecht ist).

Am Beispiel von „nüchtern“ habe ich es schon einmal ein wenig angedeutet: „Nüchtern“ bezeichnet bei genauerem Hinhören nicht etwa einen besonderen Zustand, der besondere Eigenschaften hat. Vielmehr handelt es sich um eine Restkategorie. „Nüchterne“ Personen können wach und vernünftig, übermüdet, schizophren, in Trauer und sonst alles Mögliche sein. Das Wort hat nur die Funktion, einen bestimmten Zustand auszuschließen, und damit wohl vor allem eine bestimmte Erklärung von Verhalten: Jemand steht nicht unter Drogen und das Verhalten kann also nicht damit erklärt werden, dass man unter Drogen steht. Damit wird unterstellt, dass man sich unter Drogen anders verhalte, dass es bestimmte, nicht-intentionale Gründe oder Ursachen gebe, sich so und nicht anders zu verhalten. Man verhält sich nicht einfach so, weil man eine nach üblichen Standards nachvollziehbare Absicht dazu hat. Sondern wegen Drogen. Woraufhin man sich das Handeln auch nicht im üblichen Maße selbst zuschreiben lassen muss. Vielmehr ergeben sich Einflüsse auf das Handeln, welche nicht den gängigen Kriterien der „reinen“ Absichtlichkeit und Zurechenbarkeit entsprechen: Die Intentionen sind verzerrt oder Verhaltensweisen treten ganz und gar unwillkürlich auf. Nur ist es eben sehr schwer, die Standards der Zurechnungsfähigkeit zu erfassen und sie konsistent oder gar begründet darzustellen, zumal sie historisch und kulturell wandelbar sind. Wir haben allerlei implizite Vorstellungen darüber, die aber wohl zu einem größeren Teil per Ausschluss funktionieren: Man hält Personen für zurechnungsfähig, sofern sie sich nicht auf bestimmte Weise verhalten oder unter bestimmten Einwirkungen stehen.

„Gesund“ ist nun auch ein interessanter Fall. Es geht um jene unwillkürlichen „Verhaltensweisen“ im weitesten Sinne, körperliche Geschehnisse (z.B. ununterdrückbarer Husten, Blutung, rote Punkte im Gesicht), welche markiert sind, also auffallen, und negativ bewertet werden. Sie gehen z.B. mit subjektivem Leiden einher und werden als Einschränkung empfunden – im Gegensatz zur Einschränkung, dass man nicht aus eigener Kraft fliegen kann. Wobei es keineswegs so ist, dass man einfach unterscheiden könne zwischen krankheitsbedingten und anderen Einschränkungen. Man bräuchte dazu Kriterien, die nicht tautologisch sind. Natürlich gibt es die im Einzelfall, aber auch sie sind nicht unbedingt einheitlich, widerspruchsfrei und stabil. Krankheiten sind mehr oder weniger genau definiert, aber womöglich ist in der Praxis trotz vieler Definitionsversuche von „Krankheit“ diese überwiegend die Aufzählung aller bekannten Krankheiten – plus eventuell einiger eindeutiger Leidenszustände, für die es („noch“) keine Diagnose gibt. Ob nun aber z.B. gewisse Einschränkungen als „Alterserscheinung“ oder als „Krankheitsbild“ angesehen werden, das hängt von Definitionen ab, die umkämpft und wandelbar sind. „Gesundheit“ ist demgegenüber ein Zustand, der normalerweise nicht auffällt, es sei denn nach einer Krankheit. Er bedeutet nicht viel mehr als dass man nicht krank ist und sich entsprechend mehr oder weniger unwillkürlich krankheitstypisch verhält oder leidet (es geht hier nicht um die Dinge, die man intentional tut, z.B. eine Nasenspülung vornehmen, sondern um Husten oder Schmerzempfinden). Gewiss, verschiedenen Zuständen der Gesundheit ist einiges gemein, z.B. ein ausreichend regelmäßiger und starker Herzschlag, ungestörtes Atmen usw. Aber über die meisten Aspekte des Verhaltens sagt das wenig aus.

Nur in einigen wenigen Gebieten manövriert man sich da in Dilemmata (die ich hier nur beschreiben, nicht diskutieren kann). Traditionell koppelt man vielfach rechtliche, gar moralische Urteile an Zurechnungsfähigkeit. Die Tendenz zur Pathologisierung führt freilich zur Tendenz, abweichendes Verhalten auf Krankheit oder Entwicklungsstörung, jedenfalls auf Psychopathologie zurückzuführen. So bleibt aber immer weniger Raum für eine „Entscheidung“ für das „Böse“; das Gebiet der Moral schrumpft sozusagen, die Unterscheidung von Richtig und Falsch verliert ihren Raum. Manche beklagen das und wollen stärker zurück zur Logik der Schuld (sehen Erklärungen über Krankheit als „Entschuldigung“). Andere versuchen, moralische Urteile von ihren Erklärungen zu entkoppeln bzw. moralische Erziehung, (Re-)Sozialisation oder die richtige Behandlung vom Unwerturteil über Taten zu trennen. Das Dilemma ist jedenfalls eine Folge der Zuordnung gesund=moralisch zurechnungsfähig (Verhalten wird über Intentionen erklärt) und (psychisch) krank=nicht zurechnungsfähig (Verhalten wird über nichtintentionale Einfüsse erklärt), welche ein Problem schafft, wenn Verhalten immer mehr über nichtabsichtliche Ursachen erklärt wird.

Der provokanteste Fall aus der Gruppe der hier behandelten Begriffe ist vielleicht „nichtbehindert“. Soll damit etwa gesagt werden, eine Behinderung aufzuweisen sei vergleichbar damit, unter Drogen zu stehen?! Natürlich keineswegs. Im Gegenteil, das ist gerade das, was ich zu Erklären versuche. Jedes der hier behandelten Wörter beschreibt einen unspezifischen Nicht-Zustand, der nur dadurch definiert ist, dass er einen spezifischen Zustand gegenübergestellt wird („spezifisch“ heißt dann gerade: dass „unter Drogen“ was ganz anderes ist als „behindert“). Das gemeinsame ist dann, dass mit spezifischen Zustand Verhalten auf bestimmte Weise nicht-intentional erklärt wird, im unspezifischen Gegenzustand diese Erklärung ausgeschlossen wird.

Erklärt man Verhalten mit einer Behinderung, betrachtet man es unter derjenigen Perspektive, unter der es nicht als intentional zurechenbar erscheint. Die Benutzung eines Rollstuhls etwa wird dann vor allem dahingehend beobachtet, dass die Person nicht laufen kann, wie sie will (zumindest nicht so weit, schnell usw., wie es vielleicht wünschenswert wäre). Man schließt damit aus, dass die Person das einfach so beschlossen hat, es ihr als Entscheidung zurechenbar wäre, den Rollstuhl zu nehmen als zu laufen (es existieren natürlich Grenzfälle, wo Leute sich fragen, ob sie es ohne schaffen oder nicht). Dasselbe Verhalten lässt sich aber immer auch anders betrachten. Man kann sich z.B. durchaus für die nähere Absicht interessieren, z.B. sich jetzt gerade in den Supermarkt zu begeben („Ah, haben Sie heute frei und machen mal Besorgungen?“), und nicht nur auf den Rollstuhl starren.

Das Verhalten von Personen, die als nichtbehindert eingeordnet werden, wird in der Regel nur so, also vorwiegend anhand konkreter Intentionen, beschrieben, sofern nicht andere Zustände eine intentionale, zurechenbare Beschreibung ausschließen: Man will Einkaufen, also hat man entschieden, in den Supermarkt zu gehen. Das Augenmerk liegt meist nicht darauf, dass die Person an anderen Fortbewegungsmethoden gehindert war. Das heißt natürlich nicht, dass das nicht geht (man kann z.B. nicht mit dem Auto fahren, weil es kaputt ist), aber das ist nicht die vorrangige Betrachtungsweise bei „Nichtbehinderten“.

Man kann auch nicht einfach alle Personen als behindert beschreiben, weil bestimmte Körperfunktionen überhaupt niemandem zur Verfügung stehen. Bzw. das kann man, aber dann verschwindet die Unterscheidung. Das Ganze weist nur auf eine Asymmetrie und eine zweifache Kontingenz hin: Die Unterscheidung behindert/nicht-behindert ist asymmetrisch, da Verhalten in der Regel nicht als Folge von Nichtbehinderung beschrieben wird, aber manchmal als Folge von Behinderung. Und Kontingenz besteht darin, dass die Unterscheidung erstens nicht bedeutet, dass man Verhalten nur mit Behinderung erklären kann, sondern dass man an demselben Verhalten die intentionalen und nicht-intentionalen bzw. zurechenbaren und nicht zurechenbaren Aspekte hervorheben kann (im einen Fall die Absicht, im Supermarkt einkaufen zu gehen, oder im anderen Fall die nicht selbst auferlegte Einschränkung, nicht zu Fuß zu gehen – man kann den Vorgang auf diese zwei und auf zahlreiche weitere Arten beschreiben). Zweitens sind die Kriterien der Unterscheidung kontingent: Es kann sich verschieben, was als Behinderung gilt und was als nichtmarkierte Einschränkung menschlicher Fähigkeiten: Können manche einfach nur schwerer im Kopf rechnen, alte Menschen schlechter gehen oder sind sie „behindert“; wie ist das, wenn eine sehr effektive Hör- oder Sehhilfe zur Verfügung steht, welche Einschränkungen weitgehend ausgleicht, oder wenn man bestimmte Körperformen operativ an den Bevölkerungsdurchschnitt angleichen kann?

Wie in den vorstehenden Fällen kann man aus der Beschreibung einer Person als nichtbehindert sehr wenig schließen. In vielen Fällen sind zwar standardmäßige Unterstellungen funktional. Ein Mensch wird, so nimmt man an, es auf eigenen Füßen zum Supermarkt schaffen. Aber streng genommen ist das dem Begriff des Nichtbehindert-Seins nicht zu entnehmen, denn jemand könnte ein gebrochenes Bein haben („krank“ sein) oder zu betrunken sein, um sich auf den Beinen zu halten.

„Behindert“ beruht also auf einer Norm, die ein wenig tautologisch einen Standard annimmt, was Personen tun können – es sei denn, sie können es gerade doch nicht! Alleine darauf basierend kann man also Behinderung nicht definieren. Es braucht deshalb ferner eine Ursachenzuschreibung, z.B. dauerhafte Schädigung bestimmten Nerven. Sie können etwas nicht, oder sie tun, was sie tun, weil… „Betrunkene“ oder sonst wie unter Drogeneinfluss stehende Personen werden auch erst als solche beschrieben, wenn ihr Verhalten (oder Unvermögen) auf eine bestimmte Ursache zurückgeführt wird. Man muss auch hier annehmen, dass „nüchterne“ Personen sich anders verhalten würden. Oder halt eben genauso, nur aus anderen Gründen!

Problematisch wird es immer dann, wenn fraglos unterstellt wird, Personen hätten schon dann eine bestimmte Form der Kontrolle, wenn so ein eigentlich „leerer“ Nicht-Zustand wie „nichtbehindert“ oder „nüchtern“ vorliegt. Bzw. diese Nicht-Zustände werden meist gar nicht zugeschrieben, sondern nur die andere Seite fällt auf. Nur in besonderen Situationen wird auf die eine Seite der Unterscheidung zugegriffen, etwa wenn gerade in Frage steht, ob Verhalten drogenbedingt war oder um hervorzuheben, dass in einer Gruppe, die ansonsten aus Personen mit Behinderungen besteht, auch welche ohne vorkommen. Umgekehrt bewährt sich das im Alltag, die negative Seite der Unterscheidung nicht näher zu prüfen: Man unterstellt bestimmte Fähigkeiten und Absichten bis zum Beweis des Gegenteils bzw. dieses ist gar nicht präsent: Es kommt einem nicht in den Sinn, dass der Kassierer im Supermarkt betrunken sein könnte oder dass die neue Freundin der Kollegin es nicht ohne Aufzug in den vierten Stock schaffen könnte, wenn man die beiden einlädt. Dann kann man drüber streiten, ob solche sparsamen Unterstellungen und die zugrunde liegenden Unterscheidungen gerechtfertigt sind oder zu schlechten Begleiterscheinungen führen (dass sie z.B. eine Zumutung oder gar Verletzung gegenüber Personen darstellen, die von der Norm abweichen, oder dass bestimmte Zustände ungebührlich überhöht werden, z.B. dass es bereits an sich eine großartige Sache sei, nüchtern zu sein). Weil die hier diskutierten Zustände unmarkiert und unspezifisch sind, drohen also überzogene Unterstellungen, wenn das Gegenteil entweder nicht erwartet wird oder den Zuständen zu viel zugeschrieben wird, z.B. den Nüchternen, Gesunden usw. zu viel Kontrolle über ihr Tun. Und es droht auf der anderen Seite, dass Verhalten nicht mehr in seiner Fülle betrachtet wird, sondern eine Person auf Krankheit, Behinderung oder auch nur auf einen Drogeneinfluss reduziert wird (man offenbart sein Liebe, das wird aber mit Verweis darauf abgetan, dass man zu viel getrunken hat). Das Gegenmittel ist in beiden Fällen die Einsicht in die Asymmetrie und Kontingenz von Unterscheidungen: dass die Seiten nicht gleich funktionieren, dass die Trennlinie verschiebbar ist und dass alles Verhalten auf mehr als eine Art betrachtet werden kann.

Haarspaltereien

Ein gespaltenes Haar ist ein halbes Haar. Einerseits. Andererseits ist es eine Sinnlosigkeit. Zumindest für manche. Und genau darum geht es: den Unterschied zwischen äußerlicher, objektiver Betrachtung, und dem Sinn einer Sache, ihrer subjektiven Bedeutung. Ich möchte einfach ein paar Wortspielereien anbringen oder zusammentragen (denn die Idee und auch manche der Bezeichnungen sind keinesfalls neu), um diesen Unterschied zu verdeutlichen, ihn theoretisch zu fassen und sprachlich ausdrücken zu können. Die Unterscheidungen entsprechen nicht unbedingt dem allgemeinen Sprachgebrauch, nutzen aber aus, dass es in der Alltagssprache für manche Dinge zwei Bezeichnungen gibt, die man dann für eine Unterscheidung der Bedeutung nutzen kann: um zu verdeutlichen, dass man eine Sache unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten anschauen kann.

Man kann Menschen so betrachten, ja in verschiedenem Sinne „untersuchen“ (auch medizinisch), wie sie sich vom Standpunkt des rein Physischen präsentieren. Entgegen so manchem Genörgel, da werde was „reduziert“, das sei nicht „ganzheitlich“ usw., wird das praktiziert und hat sich historisch etabliert: Es entspricht offenbar einigen wichtigen Erwartungen an die Beherrschbarkeit und Verstehbarkeit des Menschen und der Welt (das ist eine wissenschaftshistorische Diagnose, keine Wertung). Man betrachtet etwa den Menschen als physikalischen Körper mit Masse und Verformungseigenschaften, um hierdurch die Gefahr bei Unfällen zu reduzieren. Man untersucht den Körper als biologisches System und versucht, Altern, Krankheit oder Leistungsbeschränkungen zu überwinden. Man verändert Bewusstseinseinstellungen mittels zugeführter Substanzen. Auf der anderen Seite spüren wir unseren je eigenen Körper als unseren, so wie niemand sonst ihn wahrnehmen kann. Es tut „da“ weh, tief drinnen. Die Gliedmaßen sind widerspenstig – der Golfschwung, die Kadenz, der Balanceakt wollen nicht gelingen. Man betrachtet sich im Spiegel voller Wohlgefallen oder Ekel. Man spürt Erregung, nicht das Adrenalin selbst. Manche formen sich mit Training, Piercings, Augenlasern, Lockenstab und disziplinierter Körperhaltung, um einem eigenen Bild zu entsprechen, unter dem Gesichtspunkt eines subjektiven Ideals der Wohlgestaltetheit. Außerdem sehen wir andere, und zwar nicht eigentlich als Fleisch und Blut, sondern als bedeutsame – „Leiber“ würde ich sagen und haben andere gesagt, in Abgrenzung zum Körper. Man fühlt ihre Schmerzen mit oder sieht in ihnen eine ganze Welt oder Gemeinschaft „verkörpert“ (etwa das alte Motiv der Kirche als Leib Christi), kennt auf ihren Leibern Lieblingsstellen, welche einen erregen (man lese https://de.wikipedia.org/wiki/Seitenhöhlchen-Kult). Man sieht fremder Leiber insgesamt meist ästhetisch an und nicht zuerst diagnostisch oder physikalisch (nur in seltenen Fällen fragt man sich: Überlebt man so einen Sturz? Sieht der gesund aus? Ansonsten ist der Leib eine Sammlung von symbolischen Ausdrucksweisen, bedeutsamen Stellen, schönen und hässlichen Proportionen, Zeichen eines vermuteten Willens oder einer Willenslosigkeit, Ausgangspunkt halbautomatischer sozialer Klassifikationen usw.). Es besteht ja auch ein erheblicher Unterschied, ob man etwas mit einem eigenen oder einem fremden Körper tut. Nur auf den eigenen kann man auf bestimmten Weise einwirken. Wenn sich z.B. ein Arm nach oben bewegt, kann das auf mindestens drei verschiedene, hier interessierende Arten geschehen. Zunächst dass die Person, welcher der Arm „gehört“, ihn hebt (im gängigen Sinne von „den Arm heben“: es absichtlich und aus eigener Kraft des selben Arms zu tun). Die Person könnte auch „ihren Arm heben“, indem sie den anderen Arm benutzt und den ersten anhebt, etwa wegen einer Lähmung. Dieses Verhältnis zum eigenen Körper ist ein Mittelding zwischen gefühlter willkürlicher Leiblichkeit und äußerlicher Körperlichkeit: Der gelähmte Arm gehört zu einem und ist höchst bedeutsam, nicht nur beliebiges physischer Körper, und das Anheben mittels des anderen Arms greift auf diesen zu, wie es nur am eigenen Leibe erfahren und vollführt werden kann. Schließlich kann sich ein Arm nach oben bewegen, weil eine gänzlich andere Person diesen als zu hebendes körperliches Objekt führt (wiewohl meist mit spezieller Bedeutung, als Teil eines fremdes Leibs).

Also der Körper als der Mensch unter dem Gesichtspunkt des physischen Objekts, und der Leib als das Verhältnis, welches der Mensch dazu hat, dass man einen Körper hat und wie man ihn bei sich und andere subjektiv empfindet, ihn sieht oder sehen will.

Wir können uns den Raum als einen leeren, gleichmäßigen Behälter vorstellen, bei dem im Prinzip alle Teile die gleiche Bedeutung haben: beliebig teilbare Ausdehnungen für beliebige Inhalte (die Relativitätstheorie geht hiervon ab, aber diese traditionelle Geometrie ist für viele Zwecke anerkannt). Karten und Pläne werden heute vor allem unter dem Gesichtspunkten gezeichnet, dass die Größenordnungen und/oder Winkel möglichst proportional wiedergeben, ungeachtet der konkreteren Sachverhalte wie Siedlungen, Flüsse, Wände, Gasanschlüsse usw., welche da hinsichtlich ihrer Ausdehnung und relativen Lage zueinander repräsentiert sind. Freilich unterliegt ihre Auswahl bereits einem anderen Gesichtspunkt: Nicht jedes Objekt ist würdig, auf einer Karte oder einem Plan aufzutauchen. Eine Kirche ist z.B. in einem Stadtplan oft gekennzeichnet, meist jedoch keine Bordelle. Wenn wir uns nun selbst orientieren, in einer Wohnung oder einer Stadt, dann nicht (nur) hinsichtlich der Himmelsrichtungen und Größenordnungen, sondern mittels bedeutsamer Objekte und mit Namen (Straßennamen, Bezeichnungen wie „Badezimmer“ usw.). Wir haben oft kein exaktes Gefühl für Lage und Entfernung, sondern für Anordnungen relevanter Orte. Man kann also sagen, dass subjektiv der Raum zu Räumlichkeiten, die Stellen im Raum zu bedeutsamen Orten werden (altmodisch könnte man auch von einer Vielzahl prinzipiell homogener Örter sprechen, die dann andererseits mit besonderer Bedeutungen ausgestattet sind und in sinnhaften Beziehungen zueinander stehen, welche nicht unbedingt Winkeln und Entfernungen entsprechen, und das wären dann die Orte – auch vielleicht in Analogie zu den Bezeichnunungen „Wörter“ und „Worte).

Wir können das auch für die Zeit durchdeklinieren, wo es von allen Bedeutungen losgelöste, rein konventionelle Zeitpunkte gibt (die Zeitmessung könnte ja ganz andere Einteilungen setzen). Demgegenüber stehen die bedeutsamen Momente: wann die Besprechung losgeht, der Geburtstag, als man sich das erste mal küsste, usw.

Man kann die Welt als Vielzahl von Sachverhalten beschreiben, in welchen Dingen zueinander stehen. Kein Sachverhalt ist an und für sich bedeutsamer als ein anderer, und „Ding“ ist hier ein Hilfsausdruck für alle erdenklichen Vorkommnisse in der Welt, die noch nicht vom menschlichen Blick eingeteilt und mit Bedeutung versehen wurde. „Dinge“ sind in diesem Sinne noch nicht abgrenzbar und abzählbar, sondern nur Rohmasse. Besser wäre eine Bezeichnung, welche unförmiges Dingsein ausdrückt, wie „das Gedinge“, oder man nimmt an, dass alles auf einheitliche letzte Einheiten zurückgeht, eine homogene Menge grundlegender Bausteine. Das verweist darauf, dass auch der „objektive“ Blick einer Deutungsanstrengung bedarf: Wie schaltet man all die anderen Bedeutungen ab und nimmt alles nur als gleichrangiges Seiendes wahr? Was, wenn man zur Überzeugung kommt, dass die Dinge auch denken können? Man kann sich entweder der Frage zuwenden, wie der objektive Blick funktioniert und wie er seine heutige Bedeutung erlangt hat, oder ihn einmal als gegeben annehmen, um davon dann den anderen, subjektiven abzugrenzen.

Wie dem auch sei, wie sehen die Welt in der Regel anders, nämlich als Gegenstände, die immer schon eine Grenze, Form und Bedeutung haben. Es bedarf einiger Mühe, einen Stuhl nicht als Stuhl, oder die Gemeinsamkeit zwischen einer Feder und einem Bleiklumpen zu sehen (die ja z.B. im Vakuum gleich schnell fallen). Das Objekt wird zu demselben unter unserem Blick, oder vielmehr oft durch unseren Gebrauch bzw. den Versuch des Gebrauchs: Es ist widerständig oder brauchbar. Heidegger beschrieb das so, dass die Objekte des täglichen, weitgehend selbstverständlichen Gebrauch „zuhanden“ seien, dass sie auf ihre praktische und wenig reflektierte, typische, soziale vorgegebene und oft gewohnheitsmäßige Verwendung hin gesehen werden. Dieses Zuhandensein ist zu unterscheiden vom allgemeinen Vorhandensein aller Dinge, wenn man sie unter dem Aspekt des gleichgültigen Nebeneinanderseins betrachtet.

Ich habe am Beispiel der Unterscheidung zwischen Verhalten/Tun/Praxis und Handeln/Handlung die hier gemeinte Unterscheidung bereits angewendet und gezeigt, dass das fortlaufende Tun unter sehr vielen Beschreibungen als Handeln beschrieben werden kann. Tun, wie Dinge, ist dann nur jener gedachte Grenzfall des Unbeschriebenen zu Beschreibenden, der Bezugspunkt und Zusammenhalt zwischen all den vielfältigen Beschreibungen, oder eben eine weitere Beschreibung, aber nicht unter dem Gesichtspunkt bedeutsamen Handelns, sondern körperlicher Geschehnisse.

Kompliziert? Ja, weil man am Ende bei metaphysischen Fragen landet, etwa ob es „Dinge an sich“ gibt. Und nein, weil wir die beiden hier diskutierten Betrachtungsweisen schon lange erlernt haben und sie oft praktizieren. Es bedurfte dann nur einer Erinnerung an das, was wir praktisch schon wissen, und vielleicht auch daran, dass die „objektive“ Betrachtungsweise nicht einfach den Vorrang beanspruchen kann, wie wir entgegen der alltäglichen Praxis irgendwie oft glauben wollen.

Beim Studieren von Sprache und Gesellschaftsstruktur

Die Universitäten gehören zu den Brennpunkten im Kampf um die geschlechtergerechte Sprache. Hier blüht die von konservativen Publizisten halbinformiert verachtete, vom Internetforen-Kommentariat kenntnisfrei und pseudowitzig vehöhnte Genderforschung. Hier wurde das generische Femininum in einer Grundordnung erprobt – aber so was liest doch eh keiner. Vielleicht gerade deswegen hatte ein pragmatischer Physiker den Vorschlag gemacht, man solle sich umständliche Formulierungen beiderlei Genus sparen und einfach nur weibliche Formen verwenden. Wochenlang musste man in der Presse lesen: Diese verrückten Akademiker (journalismusübliches generisches Maskulinum), die nichts besseres zu tun haben als sich steuerfinanziert Schwachsinn auszudenken, hätten nun vorgeschrieben, man müsse Leute mit „Herr Professorin“ anreden. Und die Bezeichnung „Studierende“ ist ihnen auch ein Dorn im Auge.

Lustigerweise habe auch die Nörgler nichts Besseres zu tun, als sich, oft spendenfinanziert oder gegen Zeilenhonorar, über geschlechtergerechte Sprache zu empören, so als ginge davon das Abendland unter. Irgendwie glauben sie nicht an die Reproduktion von Ungleichheit durch Sprache und fühlen sich zugleich unterdrückt und im Umerziehungslager, wenn man die Verwendung neutraler oder gemischter Formulierungen vorschlägt. Außerdem war das schon immer so. Es heißt halt seit einer Ewigkeit „Studenten“. Wenn es denn so wäre! Die „Studierenden“ gab es schon, als es noch keine weiblichen gab, in zahlreichen Schriften und Dokumenten, wie auch die „Lehrenden“. Aber das historische Argument ist natürlich eh Unfug. Das, und nicht die Überlegenheit der Form „Studierende“ sollte der Rückgriff auf alte Quellen zeigen: Nutzen und Bedeutung einer Form in der Gegenwart ermisst sich nicht aus ihrer Geschichte.

Wenn schon nicht Tradition und Geschichte, dann sollen es halt Sprachgefühl und Ästhetik richten. Umständlich, unschön seien die „neuen“ Formulierungen. Gewohnheitsästhetik oder gar Abscheu gegen Gerechtigkeit…

Das generische Maskulinum ist was für Leute, die nicht mit Sprache umgehen können. Nach Gewohnheit zu formulieren, lässt die Kreativität erlahmen. Ab und zu ein paar neue, herausfordernde Regeln spornen die Poesie an (man frage mal die Oulipiens).

Oberschlaue Sprachwahrer haben nun eingewandt, dass Partizipialformen wie „Lehrende“, „Studierende“ usw. Unsinn seien, denn so was verwende man nur für Personen, die im Augenblick selbst eine Tätigkeit ausüben. Dreierlei ist dem entgegengeschleudert worden.

Ersten ist „Student“ genau eine solche Partizipialform, nur fällt sie ohne Lateinkenntnisse nicht weiter auf. Zweitens finden sich auch Beispiele für andere Verlaufsformen, welche sich nicht auf die gegenwärtige Tätigkeit beziehen: Vorsitzende, Wehrdienstleistende (vormals auch die Zivildienstleistenden) und auch den Regierenden Bürgermeister. Drittens verwendet man die Verlaufsform auch nicht unbedingt gerne für diejenigen Personen, die gerade tätig sind. Von „Radfahrenden“, „Schwimmenden“, „Biertrinkenden“ usw. zu sprechen, würde entsprechenden Querulanten auch widerstreben. Sie würden darauf beharren, dass in der Straßenverkehrsordnung von „Radfahrern“ die Rede sein müsse.

Bis hierhin alles ein alter Hut. Jetzt noch ein bisschen soziologischer (wobei wir da der Sprachsoziologie oder Soziolinguistik nicht Unrecht tun wollen). Hier liegt nämlich durchaus ein gesellschaftstheoretisches Problem vor: Wie kann es sein, dass jemand als VorsitzendeR, LehrendeR, StudierendeR klassifiziert wird, auch wenn sie oder er keine entsprechende Tätigkeit ausübt? (Die kuriosen Formen ergeben sich, weil ich betonen möchte, dass es um eine konkrete Einzelperson in einer aktuellen Situation geht.) Wir haben es hier also mit der Frage zu tun, welchen Status soziale Strukturen wie z.B. Personenklassifikationen haben, welche Stabilität ihnen zuzuschreiben ist.

Erstes Argument: dass es die Umgangssprache das in manchen Fällen als unproblematisch ansieht (bei den „Vorsitzenden“) und nur manche das Entproblematisieren, um geschlechtergerechte Sprache zu Problematisieren (bei den „Studierenden“). Wenn also Personen andere als Vorsitzende klassifizieren, so beruht das auf einer Neigung seitens der Klassifizierenden, dies so zu tun. Die soziale Struktur wäre zunächst eine kognitive Disposition (ein Kategorisierungsschema) und teilweise eine motivationale (es besteht ein Antriebsgrund, bei bestimmten Voraussetzungen so und nicht anders zu klassifizieren). Sie erscheint reduzierbar auf persönliche Neigungen je einzelner Individuen. Eine soziale Klassifikation gibt es genau dann, wenn Leute dazu neigen, so zu klassifizieren.

Aber so wichtig es ist, die Alltagssprache ernst zu nehmen (die hier oft betriebene ordinary language sociology), so bedeutend sind auch kontraintuitive soziologische Theorie- und Begriffsvorschläge: der Bourdieusche Bruch mit dem Alltagsverständnis, um es besser zu verstehen; die Luhmannsche These, der Mensch sei nicht Teil der Gesellschaft, um dann zu beobachten, wie Personen in der Kommunikation entstehen, usw. Eine wesentliche Tendenz der Soziologie bestand denn auch darin, Strukturen in Prozesse oder Ereignisse umzudeuten. Soziale Strukturen sind demnach keine feststehenden Dinge, die man sich wie diese Kugel-Stab-Modelle im Chemieunterricht oder wie Malschablonen vorstellen muss (also soziale Strukturen als starre Person-zu-Person-Beziehungen oder stabile mentale Schemata, die nur noch regelkonform benutzt werden müssen). Ja selbst „dauerhafte“ Körper hat die Philosophie in eine Folge von Ereignissen zerlegt: die Neuerschaffung der Welt in jedem Augenblick (von der antiken creatio continua bis zu Whitehead).

Also wären Strukturen vielleicht eher Eigenschaften von, oder Verkettungen von Ereignissen. Strukturen werden aktualisiert und fallen in sich zusammen. Die Kategorisierung „Studierende“ blitzt bei einer Gelegenheit auf, wird eventuell sprachlich ausgedrückt und fällt in sich zusammen bzw. die nächste schließt daran an: Bachelor, ermäßigter Eintrittspreis, Political Correctness oder was auch immer. Man würde dann die Regeln für diese Aktualisierung und De-Aktualisierung der Struktur untersuchen. Doing und undoing studentship. Eine soziale Klassifikation gibt es genau dann, wenn sie aktuell benutzt wird.

Wie ist das nun aber mit der Intuition, dass man zu Recht Leuten irgendwie dauerhaft einen Status zuschreibt? Einerseits wird dieser Status ja nun gerade dann aktualisiert, wenn man ihn Leuten als dauerhaft zuschreibt: Jetzt in diesem Moment wird klar, dass jemand bis auf Weiteres Student ist. Andererseits ist das aber tautologisch oder paradox: Der Status kann also immer irgendwie aktualisiert werden: Selbst wenn über den Studentenstatus nicht nachgedacht wird, könnte man das berechtigterweise tun. Er ist dauerhaft und zugleich momenthaft.

Es gibt natürlich idealtypische Grenzfälle, wo ein Status sehr umfassend aktuell ist. Natürlich nie konkurrenzlos (andere Zuschreibungen gehen immer, z.B. nach Geschlecht, Alter, Herkunft – in welchen Ausprägungen auch immer), aber doch sehr bestimmend für viele Interaktionen. Es gibt hierfür zwei Beispiele: Gesellschaften, die sehr weitgehend auf dem Status von Personen beruhen, und totale Institutionen (im Sinne Goffmans). Letztere sind solche Einrichtungen, welche im Grenzfall das gesamte Leben bestimmen: Gefängnisse, geschlossene Abteilungen von Psychiatrien und Ähnliche. Reformbewegungen wirken zwar immer wieder darauf hin, dass die Insassen nicht nur unter einer bestimmten Betrachtungsweise gesehen werden, aber solche Einrichtungen neigen immer noch dazu, weite Teile des Verhaltens unter dem Aspekt zu betrachten, ob von ihm eine Gefahr ausgeht oder ob es Symptom psychischer Störungen ist. In Klöstern ist es ferner teilweise üblich, auf spezielle Weise zu essen, schlafen, kommunizieren, und auch weltliche Arbeit als Gottesdienst zu betrachten, also die gesamte Lebensführung dem Status der Ordensperson zu unterstellen.

Klöster sind Überreste einer Gesellschaftsordnung nach Ständen, für welche der persönliche Status zentral ist: Es gibt pro Person eine zentrale Kategorienzugehörigkeit, und nicht etwa mehrere prinzipiell ähnlich bedeutsame (als Vater, Angestellter, Vereinsvorsitzender usw.). Die Adlige hat in der ständischen Gesellschaft immer standesgemäß zu handeln, also auch als Vater, Gläubiger usw.; der Schamane in der Stammesgesellschaft unterliegt womöglich zahlreichen Sonderregelungen wie speziellen Nahrungs- und Sexualtabus, sprachlichen Normen usw. Auch das Studierendenleben war früher eine noch viel umfassendere Lebensform. Das Problem der Dauerhaftigkeit und gleichzeitigen Nichtaktualität eines Status stellt sich also verschärft unter den Bedingungen einer funktional differenzierten Gesellschaft, wo ein Rollenpluralismus herrscht, wo es also Wirtschaft, Politik, Familie, Vereinsleben usw. gibt und man jeweils mit verschiedenen Rollen daran teilnehmen kann bzw. muss: Wählende, Einkaufende, Berufstätige, Familienmitglieder usw. Man kann aber nicht alles im gleichen Augenblick verwirklichen.

Wie sind dann aber Dauerhaftigkeit und Momenthaftigkeit zu verbinden? Nach Max Weber gesprochen wäre ein Status nicht nur eine aktuelle Einordnung, sondern eine „Chance, […] gleichwohl, worauf [sie] beruht“, um seine berühmte Definition von Macht zu verunstalten. Worauf beruht nun aber diese Chance? Mit Searle („Making the social world“) wäre je ein Akt grundlegend: Es sind Handlungen definiert, infolge derer ein Status legitimerweise zugeschrieben werden kann. Leute dürfen sich selbst und andere als Studierende bezeichnen, wenn die Betreffenden sich eingeschrieben haben und nicht exmatrikuliert wurden. Man muss damit leben und darf sich freuen, dass das auch außerhalb der Universität Konsequenzen hat: verminderte Eintrittspreise, aber manchmal auch verminderte Ansprüche gegenüber irgendwelchen offiziellen Stellen. Eine soziale Klassifikation gibt es genau dann, wenn sie durch einen geeigneten Akt begründet wurde.

Zwei Gegenargumente sprechen gegen diese Interpretation: Zunächst wird nicht jeder Status durch einen erkennbaren Akt konstituiert – aber auch Searle erkennt an, dass stattdessen auch Konventionen als Basis denkbar sind. Der zweite Einwand ist gewichtiger: Personen können sich weigern oder gehindert sein, statusgemäße Handlungen auszuführen. Jemand ruft die Vorsitzende des Schützenvereins auf ihrer Arbeitsstelle an und bittet um etwas, das mit dem Verein zu tun hat. Die Vorsitzende hat aber keine Zeit und sagt, sie könne sich jetzt nicht damit befassen. Oder man nehme den Fall, wo sie im Ausland ist und nicht erreichbar. Trotzdem würde man in beiden Fällen davon ausgehen, dass der Status weiterbesteht. Mit der Aussage, „Ich kann mich jetzt nicht darum kümmern“, meint die Vorsitzende ja nicht, dass sie grundsätzlich keine derartigen Aufgaben mehr auf sich nehmen werde. Beide Gesprächspartner behandeln die Aufgabe als etwas, das zum Status gehören kann und erledigt werden müsste, wenn keine Hinderungsgründe vorliegen. Der Status wird gerade auch durch solche Weigerungen aktualisiert und bestätigt. Zu seiner beiderseitigen Anerkennung gehört auch, dass man antizipiert und akzeptiert, dass die Rechte, Pflichten und Konsequenzen aus dem Status im Einzelfall gegen andere abzuwägen sind, ohne dass man die Bedingungen vorab genau angeben kann, sondern höchstens erahnen: Wann darf man die Vorsitzenden denn nun mit welchen Anliegen belästigen? Die Abwägung aktualisiert ebenfalls den Status, denn würde er nicht fortbestehen, gäbe es nichts abzuwägen. Vorübergehende Weigerungen sind also zu unterscheiden von der grundlegende Nichtanerkennung von vornherein. Wer die Wahl zum Vorsitz nicht annimmt, den Sinn des Amts bestreitet oder rechtmäßig zurücktritt, muss sich nicht mit dem Status identifizieren. Selbst wenn der Anrufer merkt, dass die Vorsitzende im Urlaub ist, setzt er sich mit der Regel auseinander, dass man für bestimmte Anliegen Leute trotz eines bestimmten Status nicht in den Ferien stört. Auch das aktualisiert den Status und setzt das stille Einverständnis der Vorsitzenden voraus, die darum noch nicht ihr Amt verliert (wobei für eine Störung im Urlaub durchaus einige wichtige Anlässe denkbar sind – es besteht also eine wie auch immer geringe Chance der weitergehenden Aktualisierung).

Aber das verweist darauf, dass die Struktur nicht nur eine Disposition Einzelner ist. Es reicht nicht, dass der Anrufende oder die Angerufene je alleine glauben, Vorsitzende zu sein bzw. dass die andere das ist (wie die klischeehaften „Verrückten“, die glauben, König zu sein. Aber: „Le roi, c’est un fou qui se prend pour le roi avec l’approbation des autres“, schrieb Bourdieu). Die Klassifikation muss im weitesten Sinne Akzeptanz finden (oder, als schwächere Bedingung: jemand muss sie für prinzipiell anerkennungswürdig halten, selbst wenn man sie gerade nicht bei allen durchsetzen kann – Gegenpapst zum Beispiel). Sie wird erst im Zusammentreffen aktualisiert – nicht notwendig im direkten Kontakt, sondern vielleicht auch nur, wenn andere einem in den Sinn kommen, vielleicht sogar nur, dass man sich vorstellt, es gebe solche und solche andere. Soziale Strukturen sind relational zu verstehen. Ihre Stabilität besteht dann in einer Chance der Aktualisierung, die darauf beruht, dass bestimmte Personen mit bestimmten Haltungen in bestimmten Relationen zu anderen (mit deren Eigenschften und Haltungen) stehen. Eine soziale Klassifikation gibt es demnach genau dann, wenn jemand klassifiziert und andere dies akzeptieren (oder akzeptieren könnten, können müssten, etc.), und zwar in entsprechenden Situationen, aufgrund geeigneter Akte oder Konventionen.

Letztlich ist Stabilität und Momenthaftigkeit aber eine Frage der Beschreibung. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Man kann die materielle und soziale Welt immer weiter in Ereignisse zerlegen oder die Kontinuitäten bzw. das Wiederkehrende darin suchen (ob es in beide Richtungen Grenzen gibt, ist wohl eine metaphysische Frage). Jedenfalls sind solche Überlegungen keine Rechtfertigungen für Nörgeleien, dass Studierende manchmal nicht studieren.

Das Internet teilen

Wenn man Dinge im Internet „teilt“, dann ja nicht so wie einen Kuchen. Der ist endlich und man konkurriert (zumindest potenziell) um die Stücke: You can’t have the cake and eat it. Bekanntlich verhält es sich mit digitalen Objekten anders. Das Bild bleibt bei mir und kann zugleich von unbegrenzt vielen Personen angeschaut und weiterverbreitet werden. Offenbar entspricht die Bedeutung von „teilen“ nicht exakt dem Gebrauch bei materiellen Objekten. Man muss bei der Benutzung des Internets und dem Reden darüber also erst lernen, was „teilen“ hier genau bedeutet. Es ist auch nicht abwegig, eine Art Fachbegriff für diese spezifische Tätigkeit mittels des Internets einzuführen, etwa den Anglizismus „sharen“, welcher die durchaus vorhandene Analogie zum Teilen markiert, aber zugleich verdeutlicht, dass es sich um einen genuinen Sachverhalt handelt, der eine neue Bezeichnung verdienen könnte. (Das ist einer der Vorteile der anglisierten Globalisierung: eine Erweiterung des Wortschatzes durch den Gebrauch eines Anglizismus, der weder einfach ein deutsches Wort durch eine gleichwertige englische Formulierung ersetzt, noch notwendig genau der Bedeutung im Englischen folgen muss, sondern sich nur daran anlehnt und so mehr Differenzierungen erlaubt.)

Ein wenig mehr als dem materiellen gleicht das digitale Teilen vielleicht dem „Teilen“ von Freud und Leid, das ein Mitteilen impliziert. Man offenbart sein Empfinden und so wissen dann mehrere Personen darum – ob Freud und Leid dabei mehr oder weniger werden, ist nicht ausgemacht, jedenfalls nicht rein numerisch zu entscheiden (dass ein einmal in gleiche Stücke geteilter Kuchen zwei halbe ergibt, ist analytisch wahr; dass geteiltes Leid sich halbiere, kann höchtens empirisch zutreffen). Man kann nun das Teilen digitaler Objekte wie Bilder, Tweets, Links usw. nach dem Prinzip der Offenbarung, des Sich-Mitteilens begreifen. Man gibt etwas über sich preis – oder stellt sich selbst zumindest in einer Weise dar, die dem Muster des Sich-Offenbarens folgt, ob man nun sein inneres Selbst zu offenbaren glaubt oder nur einen guten oder zweckmäßigen Eindruck vermitteln will. Man zeigt etwa Charakterzüge, Haltungen und Meinungen, Zugehörigkeiten usw. Der Bezug zu seinem Selbst in all seiner Komplexität ist schon dadurch beschränkt, dass das Mittel der Mitteilung mit-teilbar ist, also dass es auch andere genauso benutzen können. Das gilt zwar für alle Mittel, aber für die im Internet zu teilenden Objekte ist ja gerade charakteristisch, dass sie von vielen Personen gleichermaßen verwendet werden können und von der Mühe entlasten, das zu „Offenbarende“ anhand selbst gestalteter Mittel zu kommunizieren. Die so „offenbarte“ oder für andere fabrizierte Person ist also ein „Leben im Zitat“ oder „Identität als Kopie“ (no offense meant – ich zitiere und stelle fest). Wir hätten es also mit leicht zu vervielfältigenden Vorlagen für die Mitteilung dessen zu tun, was man als seine Person offenbaren oder andere glauben machen will.

Wir haben Teilen also als Mitteilen verstanden, als „Aufteilen“ des Wissens um etwas, nach dem mehr Personen „etwas davon haben“, aber ohne dass das, was sie je haben, ein Bruchteil einer ursprünglichen Menge wäre. Dabei vernachlässigen wir aber doch eine gewisse Analogie zum Kuchen. Wenn wir nämlich diese Vorstellung des Mitteilens zuspitzen, so betonen wir vor allem den Nutzen der Mitteilenden. Sie stellen sich gut dar, ihr Leid wird halbiert, etc. Die Angesprochenen sind im Grenzfall auch nur Mittel dazu. Man kann gewiss Kuchen backen und verteilen mit der hauptsächlichen Absicht, anderen etwas mitzuteilen, etwa wie gut man backen kann. Aber meist wird es doch darum gehen, dass die anderen einen Nutzen davon haben. Man verteilt den Kuchen, damit er den Leuten schmecke, sie sättige. Sie haben etwas in der Hand, womit sie etwas anfangen können, etwa essen. Vorbehaltlich gewisser Höflichkeitsregeln und anderer Einschränkungen können sie nach dem Überreichen über ihr Kuchenstück verfügen, es manchmal z.B. weiterreichen. Auch digital geteilte Objekte werden durch das Teilen Objekte der Verfügung anderer. Sie können sie nicht nur als Mitteilung zur Kenntnis nehmen, sondern für eigene Zwecke einsetzen. Teilen ist hier also durchaus im klassischen Sinne: Überreichen, meist Schenken. Ein solches Geben kann manchmal weitgehend darauf reduziert werden, dass den Empfangenden dadurch Wertschätzung entgegengebracht wird.

Die Objekte müssen keinen besonderen weiteren Nutzen haben. Geschenke können z.B. von dieser Art sein: Es geht oft weniger darum, z.B. einen nützlichen Haushaltsgegenstand herzugeben, sondern nur seine Zuneigung, sein Wohlwollen – mitzuteilen! Aber so, dass die empfangende Person im Mittelpunkt steht, ihr positives Erleben, was ihr etwas wert ist. Was überreicht wird, ist im Grenzfall nur ein Symbol von Wertschätzung oder Wert überhaupt, auf dessen eigenen Gebrauchswert es gar nicht ankommen muss. Man stellt aber jedenfalls Objekte zur Verfügung, damit andere etwas davon haben: Man signalisiert entweder durchaus allgemeinere Relevanz, Informationswert, Nutzwert, Erlebniswert („Lest das mal, das könnte für euch interessant sein!“, oder: „Ist das witzig!“) oder eben vor allem Wertschätzung („Ich habe dabei an dich gedacht! Vielleicht macht dir das ja Freude…“).

Natürlich haben auch die Adressaten normaler Mitteilungen etwas in der Hand, im Zweifelsfall z.B. etwas gegen die Mitteilenden. Oder halt einfach eine Information, die von irgendeinem anderen kleineren oder größeren Nutzen sein kann. Und das selbst, wenn sie das Mitgeteilte, sei es der Form oder dem Inhalt nach, nicht wiederum für eigene Mitteilungen nutzen können oder wollen (aus Gründen der Geheimhaltung oder der Unverständlichkeit, Irrelevanz usw. für andere). Die Besonderheit des digitalen Teilens besteht demgegenüber aber gerade darin, dass man mit wenigen Kompetenzen sehr leicht das Objekt wiederverwerten kann. Die Verwendung des Begriffs des Teilens hat sich allerdings im Laufe der Zeit ausgeweitet: Weil es so nett klingt, so unkommerziell, unüberwacht, unkonfrontativ, wird fast jede Äußerung im Web 2.0, jede Mitteilung ohne besonderen Objektcharakter, als „Teilen“ bezeichnet. Man kann nun selbst an einem Shitstorm teilnehmen und seine Beschimpfungen brüderlich und schwesterlich teilen.

Wenn auch bei anderen Mitteilungen beide Aspekte des Teilens zutreffen, dann sind sie zwei sich ergänzende Beschreibungen, die je etwas anderes hervorheben: Einmal dass etwas, das von Nutzen ist, übergeben wird, und ein andermal, dass etwas über die Mitteilenden offenbart wird. Wir können dasselbe Tun als Teilen-im-Sinne-von-Offenbaren und als Teilen-im-Sinne-von-Übergeben beschreiben. Das internettypische Sharen betont dabei eben die Seite des Überreichens, und das insoweit zu Recht, als dies zu den wesentlichen, technisch bedingten Eigenschaften des Internets gezählt wird (ob das wieder zu Recht, das soll hier nicht diskutiert werden). Hier wirkt auch womöglich die Utopie nach, dass das Internet eine eigene „Ökonomie“ begründe, eine Geschenk- oder Gabenökonomie, eine Kultur ohne Eigentumsrechte, sondern ein Wissenskommunismus (man denke an das Internet als Wissenschaftsnetz, an freie Software und Kultur, an uneigennützige Hilfe in Foren usw.). Und andere mögen mit dem Ideologieverdacht kontern, dass der emphatische Begriff des „Teilens“ nur die banale Praxis ausschmücke, bei der auf kommerziellen Netzwerken standardisierte Tokens als oberflächliche Freundlichkeiten ausgetauscht werden.

[Eine ganz interessante Analyse, was „teilen“ unter den Bedingungen des Internets bedeutet, stammt auch von Nicholas A. John. Der vorliegende Beitrag umschreibt seine Ergebnisse führt seine Analyse noch etwas weiter.]

Tun

Nun ist wieder ein Jahr vergangen, mein Blog wird zwei. Statt eines kompletten Jahresrückblicks wie beim letzten Jubiläum will ich einen Schwerpunkt zusammenfassen, der sich beiläufig ergeben hat: Ich habe viel über Handeln und Technik geschrieben. Ihr könnt also mit mir zum Geburtstag auf einen kleinen Rundgang durch die Handlungstheorie gehen.

Zunächst kann man grundsätzlich fragen, was denn eine Handlung sei. Keine einfach so in der Welt herumliegende Einheit, war meine Antwort (natürlich keine neue Idee von mir selbst), sondern etwas, was man erst aus dem gesamten fortlaufenden Tun einer Person so herausgreift. Und dieses Tun kann man auf ganz verschiedene Weise beschreiben, insbesondere so, dass als intentional erscheint.

Um zu handeln, also etwas zu tun, das als Handeln beschrieben und beabsichtigt werden kann, muss man sehr viel tun, von dem man gar nicht so genau weiß, wie man es tut. Man kann es einfach, hat es gelernt. Man muss sich erst in der Analyse klar werden, was man da tut und nach welchen Regeln man etwas als genau diese Handlung beschreibt. Wie man z.B. schätzt und rät, bzw. wann man genau davon spricht, dass man schätzt und rät.

Manchmal weiß man aber gar nicht genau, wer handelt. Es ist gelegentlich möglich, eine Handlung einer Person oder einer anderen zuzuschreiben. Es wird dann manchmal sogar schwierig, Handlungen zu zählen. Die Regeln dafür sind gar nicht so einfach, wenn Handeln delegiert wird.

Wenn Technik ins Spiel kommt, werden die Zuschreibungen ebenfalls schwierig: Handelt Technik; handeln diejenigen, die sie erschaffen haben, bzw. diejenigen, welche die Organisationen leiten, in denen sie eingesetzt werden; oder sind nicht heute Organisationen eigentlich fast riesige technische Systeme? Je nachdem ärgert man sich auch anders über nicht funktionierende Technik, und das hängt von den Erwartungen ab, die man an sie hat. Wenn aber Technik handelt (und wir reden häufig so), man Handeln gleichsam an sie delegiert, wer hat dann die Intentionen, wem schreibt man die ganze Handlung zu? Es zeigt sich, dass es hier wieder verschiedene Beschreibungsmöglichkeiten gibt und man zwischen Typ und einzelner Ausführung der Handlung unterscheiden muss. Aber Beschreibungen, was Menschen und Dinge so tun können, sind nicht beliebig: Einige funktionieren, andere nicht.

Apropos Funktionieren. Wann funktioniert eigentlich Technik? Das ist eine Frage der Deutung und Erwartung: Mal will man diese Erweiterung menschlicher Fähigkeiten, mal jene menschliche Fähigkeit nachahmen, mal Regeln durchsetzen, an die sich Leute trotz guten Zuredens nicht halten mögen, mal mit einem Gegenstand umgehen können wie mit einem Wesen, das uns versteht.

So weit die kleine Reise durch die Handlungstheorie und Techniksoziologie. Ansonsten schaut euch mal die restlichen Beiträge des vergangenen Jahres durch, was ihr so verpasst habt.

 

Mit besonderer Empfehlung (2)

Was Buchhändler noch so tun. B. Mazon (aus dem ersten Teil) empfiehlt z.B. auch Bücher. Lässt sich eigentlich nicht so einfach delegieren, würde man denken [zum Empfehlen auch schon dies]. Um das beurteilen zu können und um zu wissen, was „empfehlen“ bedeutet, muss man zunächst die übliche soziale Definition davon bestimmen. Die liegt uns freilich nicht auf der Zunge, sondern wir wissen nur praktisch, was empfehlen bedeutet. Offensichtlich geht es um die Nennung eines oder mehrerer Objekte, welche einer angesprochenen Person gefallen könnten. Dabei ist jedoch zunächst zwischen einer gültigen und einer erfolgreichen Empfehlung zu unterscheiden. Damit der Akt des Empfehlens ausgeführt wird, müssen sicher einige Bedingungen erfüllt sein. Man spricht aber nicht nur dann von einer Empfehlung, wenn das Vorgeschlagene wirklich den Angesprochenen gefällt. Man kann sich bei Empfehlungen irren, und es bleiben trotzdem Empfehlungen. Sie sind aber erfolglos darin, den Empfangenden wirklich zu nützen. Man kann aber auch etwas ausführen, was nach einigen Kriterien eine Empfehlung zu sein scheint, aber keine „echte“ oder eben „gültige“ ist. Dies ist z.B. der Fall, wenn man etwas vorschlägt, es einem dabei aber unernst ist, man also bewusst, vielleicht sogar erkennbar etwas nennt, was deutlich am Geschmack der Angesprochenen vorbeigeht (um witzig zu sein, sie zu ärgern, ihnen einen Streich zu spielen, Dritten etwas vorzumachen usw.).

Es gibt dann Grenzfälle, wo man über den nötigen Ernst streiten kann. „Ernst“ in diesem Sinne ist wie bei vielen vergleichbaren Akten eine bestimmte Intention, die vorliegen muss, damit der Akt als gültig angesehen wird. Zumindest muss es ausreichend glaubhaft sein, dass sie vorliegt. So muss man zwecks einer Empfehlung die Absicht haben, etwas zu nennen, von dem man aufrichtig glaubt, dass es der angesprochenen Person gefallen wird. Man kann dann streiten, ob diese Intention von anderen überlagert werden darf oder wie weit sie gehen muss: Muss man ein ernsthaftes Wohlwollen hegen, oder reicht es das, dass man das Gefallen vermutet – nicht um jemandem etwas Gutes zu tun, sondern um eines eigenen Vorteils willen. B. empfiehlt z.B. Bücher mit dem Zweck, dass die Leute sie kaufen. Offensichtlich geht das besser, wenn man solche Bücher vorschlägt, welche den Leuten gefallen. Man könnte in einem Extremfall argumentieren, Wohlwollen oder zumindest der aufrichtige Wunsch, der Klientel zu nützen, gehe eine harmonische Verbindung mit dem Geschäftssinn ein. Oder aber auf der anderen Seite, das Profitstreben überlagere jedes echte Wohlwollen. Vielleicht würde man im zweiten Fall eher von „Aufschwatzen“ reden, vor allem wenn nicht der wohlverstandene Nutzen der anderen im Vordergrund steht, sondern vor allem der Absatz, und wenn deren Entscheidungsfreiheit wenig zählt (Empfehlen geht dann in Andrehen, Suggestion u.Ä. über; es gibt auch Fälle, wo es in Befehlen oder Erpressen übergeht: ein Angebot, dass man nicht ablehnen kann…).

Die vorgeschlagenen Bücher müssen für eine gültige Empfehlung also mit einer Absicht ausgewählt werden und dürfen in diesem Sinne nicht beliebig sein. Nicht jede Nennung ist also natürlich eine Empfehlung, selbst wenn das Genannte gefallen sollte. Bei einer sonst regelgerechten Empfehlung dürfen die genannten Objekte womöglich sogar „beliebig“ oder zufällig sein, wenn die Ansicht besteht, gerade durch diese Auswahl der angesprochenen Person besonders zu nützen. Sie möchte vielleicht gerade völlig unerwartet und unkontrolliert auf Neues gestoßen werden, überrascht werden. Das markiert freilich ebenfalls eine Grenze der gültigen Empfehlungen. Und gültige Empfehlungen stellen nicht automatisch erfolgreiche dar, sondern das kommt auf die Fähigkeiten der Empfehlenden an („Menschenkenntnis“ und einen ausreichenden Überblick über den Markt, um geeignete Bücher überhaupt zu kennen).

Man kann nun das Empfehlen, wie im ersten Teil das Schenken, an andere Personen delegieren. B. weist ihren Mitarbeiter an, Personen Bücher vorzuschlagen, die diese mögen könnten. Was aber, wenn man dies an eine technische Apparatur delegieren möchte, z.B. ein Computersystem (mit Hardware, Datenstrukturen und Algorithmen)? Nehmen wir als Beispiel einen Online-Buchhändler, A. Mazon, und befragen wir die Sprache: Was kann man über ein technisches Empfehlungssystem sagen? Durchaus ja, dass A. einem Bücher empfiehlt. Man kann zunächst das Unternehmen als Ganzes als Handelndes sehen, wie eine einheitliche Person, die empfiehlt. Aber wenn man letztlich diejenigen Personen identifiziert hat, die darüber entschieden haben, Empfehlungen abgeben zu wollen, kann man im einzelnen, konkreten Fall nicht sagen, dass die betreffenden Entscheidungsträger empfehlen – genau mir jetzt genau dieses Buch. Niemand im Unternehmen hat beschlossen, mir das jetzt zu empfehlen. Und auch niemand im Unternehmen ist die Person, die das jetzt gerade wissentlich und absichtlich ausführt. Man kann aber sagen, „das Unternehmen“ empfiehlt, wenn man seine technischen System dazu zählt. Man sagt vielleicht durchaus: A. hat mir eben dieses Buch empfohlen? Die Nachfrage: „Wer im Unternehmen A. war das denn?“, wäre aber natürlich Unsinn, obwohl das in anderen Fällen ginge („Wer in der Buchhandlung B. um die Ecke hat dir denn das Buch empfohlen?“). Was Technik tut, kann also offenbar zum Handeln von Unternehmen gezählt werden.

Die Entscheidungsbefugten in einer Organisation müssen also nicht jedes Mal die Intention haben, etwas zu empfehlen, sondern nur den Typus der Handlung (das Empfehlen) festlegen, und die Regel, unter welchen Bedingungen das geschehen soll, damit man verallgemeinernd sagen kann, das Unternehmen empfehle. Wenn nun diese Handlung mittels technischer Systeme ausgeführt werden soll, so müssen genau diese Regeln implementiert werden: die Bedingung, wann empfohlen werden soll, und eine bestimmte Vorgehensweise, welche eine selektive Konkretisierung der Definition des Empfehlens ist. Durch Befolgung dieser Regeln tut nun das System etwas, was von den Verantwortlichen als Empfehlen verstanden wird und von der Klientel (hoffentlich) als Empfehlen akzeptiert wird – ansonsten bleibt es nur die Auflistung beliebiger Bücher. Bzw. das Auflisten von irgendwas ohne Bedeutung, denn für das System ist das gleichgültig, was es auflistet, und natürlich auch zu welchem Zweck. „Empfehlen von Büchern“ wird es erst dadurch, dass die entscheidenden Leute das so verstehen. Die einzelne „Handlung“ des Empfehlens entzieht sich dann der jedesmaligen genauen Kenntnis der Verantwortlichen – zumindest wenn sie ökonomisch denken und nicht vor dem Rechner sitzend jeden Vorgang genau nachvollziehen. Sie haben die abstrakte Absicht zu empfehlen und die Maschinerie führt das im Einzelfall konkret aus. Wir haben es also mit einer Trennung von intentionstragenden Verantwortlichen und „Ausführenden“ zu tun, wo letztere nicht einmal die Absicht zur Ausführung haben müssen – sie wissen nicht im menschlichen Sinne, was sie tun (zumindest geht man landläufig davon aus). Und wir haben mit der Unterscheidung zu tun zwischen Typus einer Handlung, ihrer Implementierung in Algorithmen, die mittels bestimmter Datenstrukturen auf bestimmter Hardware laufen, und der jeweiligen Ausführung, bei der bestimmte spezifische Daten verarbeitet und erzeugt werden: die Daten, auf denen die Empfehlung beruht und die Liste der empfohlenen Bücher. Dabei ist dann noch zu unterscheiden zwischen all diesem technischen Geschehen mitsamt den Daten einerseits, und der Bedeutung andererseits, die das hat bzw. haben soll: eine ernsthafte, „gültige“ Empfehlung, hoffentlich sogar eine erfolgreiche.

Warum sagt man aber nun trotzdem, das Computersystem von A. „empfehle“, wenn es denn nun keine Ahnung hat, was das bedeutet, und keine Intention? Es gibt da ja zwei soziologische Extrempositionen. Die eine: Technik handelt nicht, weil das Geschehen für die technischen Apparaturen keinen Sinn ergibt; und die andere: Was Technik tut, kann bedenkenlos als Handeln bezeichnet werden, denn schließlich ersetzt Technik da menschliches Tun – somit ist es erkenntnisfördernd und unsentimental, das dann einfach auch als Handlung zu beschreiben und sich wichtigeren Fragen zuzuwenden, statt über die Vergleichbarkeit von Menschen und Maschinen zu sinnieren.

Wie nimmt man es nun wahr, wenn sich bei A. was empfehlen lässt? Der erste Teil der Beschreibung oder Erklärung besteht darin, dass man Ausführenden ganz oft die „ganze“ Handlung zuschreibt, auch wenn sie nicht selbst darüber entscheiden oder gar keine rechte Ahnung haben, was sie da tun. Man blendet die Auftraggebenden, Intentionen Tragenden, Entscheidenden aus, widmet sich ganz der konkreten Umsetzung und beschreibt sie in Begriffen, die eigentlich „zu groß“ sind. Eigentlich würde nämlich die Bezeichnung für eine Handlung definitionsgemäß oft mehr implizieren, als die Ausführenden tun. Das Computersystem spuckt ja eben nur eine Liste mit ein paar warmen Worten aus, es fehlt ihm aber die Intention.

Der zweite, leicht unterschiedliche Teil der Erklärung besagt, dass man etwas als eine Handlung eines bestimmten Typs beschreibt, wenn bestimmte äußerliche Anzeichen vorliegen, ohne dass alle definitionsgemäßen Kriterien erfüllt sind. Man überprüft ja auch im Alltag nicht immer genau, ob die Leute es ganz und gar so meinen, wie sie sagen, welche Intention sie haben, ob auch diejenigen Teile ausgeführt wurden, die man nicht zu Gesicht bekommt, usw. Man nimmt es einfach an, erwartet es, setzt es voraus. Eine solche Zuschreibung reicht für die alltägliche Praxis vollkommen aus und würde nicht eigentlich als „falsch“ bezeichnet. Jemand nennt Bücher („die könntest du mal lesen“), und man forscht dann nicht mehr so genau nach, ob das wirklich als Empfehlung gemeint ist oder was die wahre Absicht ist. Man ordnet das einfach spontan so ein, wenn nichts Offensichtliches dagegen spricht. Wenn nun eine Website eine Liste ausgibt mit dem Hinweis, „das könnte Ihnen gefallen“, dann reflektiert man nur in Ausnahmefällen, ob das nun im vollgültigen Sinne eine Empfehlung ist, welche Intentionen ob und bei wem (oder bei „was“) dahinter stecken. Man sortiert das einfach als Empfehlung ein und schaut sie sich mit mehr oder weniger oder ohne Interesse an. Das gute an solchen „unpersönlichen“ Empfehlungen, so passend oder unpassend sie auch sind, ist nämlich dann doch, dass man sich nicht aus einem Verkaufsgespräch mit einem lebenden Gegenüber herauswinden muss oder gegenüber wohlmeinenden Personen Interesse heucheln.