Unter Vernachlässigung der Zeit

von Benjamin

„Le passé et le présent sont nos moyens ; le seul avenir est notre fin. Ainsi nous ne vivons jamais, mais nous espérons de vivre, et nous disposant toujours à être heureux il est inévitable que nous ne le soyons jamais.“
(Blaise Pascal, „Pensées“)

Man kann Soziologie unter relativer Vernachlässigung der Zeit betreiben – eine Idealisierung, wie sie auch Naturwissenschaftler vornehmen, wenn sie von bestimmten Einflüssen absehen, oder die Mathematik, wenn sie die Geltung eines Satzes feststellt, unabhängig davon, zu welcher Zeit und zu welchem Ort jemand über den Satz oder seinen Beweis nachdenkt: logische Schlussfolgerung unter Absehung von der Denkzeit und komplette Reversibilität der Operationen (man addiert etwas dazu und zieht es wieder ab oder andersherum, als wäre nichts geschehen). Man kann sich z.B. in den Sozialwissenschaften etwa Zusammenhänge so vorstellen, dass sie unabhängig von konkreten Fällen immer gelten („soziale Gesetze“ sehr analog zu Naturgesetzen also). Oder man kann soziale Sachverhalte als statisch annehmen, gar als zeitlose Archetypen. „Die Arbeiterklasse“ wäre dann z.B. eine universelle Kategorie, der jede Person zu allen Zeiten entweder zugehört oder nicht. Man kann das natürlich blöd finden und der Meinung sein, eine Klasse entstehe erst historisch und die Zugehörigkeit müsse sich in konkreten Augenblicken aktualisieren (wo man sich „arbeiterlich“ verhält oder so behandelt wird), und es gebe keine allgemeinen sozialen Gesetze. Aber Zeit ist zunächst keine zwingende Dimension jeglicher Analyse.

Allerdings wäre ein ganzes menschliches Leben besonders sinnlos unter Absehung von der Zeit, wenn man sich die Summe der Lebensereignisse so vorstellt, dass sie sich gegenseitig aufheben, oder ungeordnet nebeneinander liegen. Gewiss, was man aufgebaut hat, geht irgendwann nieder (aber es ist ein Unterschied, ob sofort oder später), aber in einer Sammlung zeitloser Fakten ist keine Richtung erkennbar, in die man gestrebt hat oder in der das eine auf dem anderen aufbaut, im Positiven wie im Negativen. Die Unumkehrbarkeit und teilweise Gerichtetheit des Lebens, zusammen mit der Momenthaftigkeit und der Veränderlichkeit oder Stabilität sozialer Sachverhalte sprechen dann doch für die Berücksichtigung der Zeit.

Aber die Gesellschaft selbst arbeitet häufig genug mit Fiktionen der Dauer oder der Zeitlosigkeit oder erzwingt die beliebige Aktualisierbarkeit eines Sachverhalts. Zum Beispiel im Rechtssystem: So lange eine Körperschaft nicht rechtsgültig aufgelöst ist, kann man noch allerhand verlangen, obwohl niemand mehr von sich aus aktiv wird. Oder allgemeiner: Bis zum Vollzug eines bestimmten Akts wird der vorherige Zustand als fortgeltend angenommen, obwohl alle wesentlichen Beteiligten sich bereits an einem anderen Zustand orientieren wollen (viele Sachverhalte treten darum sofort mit einer Willenserklärung ein, andere aber eben erst auf Antrag, nach einer Feststellung, mit einer Frist usw.). Sachverhalte, die es eigentlich nicht gibt, weil sich niemand mehr so recht entsprechend verhält, bleiben aktuell und können mittels einer Norm verpflichtend wiederweckt werden, haben eine eigentümliche Stabilität jenseits ihrer Nichtexistenz in aktuellem Handeln.

Eine andere Vernachlässigung der Zeit besteht auch darin, dass eine Zeitspanne neutralisiert wird: Im Normalfall nimmt man an, dass falsche Anklagen keinen Schaden anrichten, weil man ja rechtsgültig freigesprochen werden kann. Die Falschbehauptung ist also vollkommen reversibel durch eine richtige Feststellung. Im Grenzfall zählt der Zeitaufwand nichts. Hier ist aber zu unterscheiden von Juristen als Gesetzesauslegern („rein rechtlich“ ist es so), und Juristen als Taktikern: Sie wissen durchaus, dass man Leuten mit Verzögerungen und Falschaussagen schädigen kann. Je nach Situation schlüpfen Juristen in verschiedene Rollen: Sie pochen auf schnelle Entscheidungen oder schinden Zeit. Manche geben sich manchmal naiv, wenn man beklagt, dass eine bestimmte Vorgehensweise z.B. von Strafverfolgungsbehörden zu vielen falschen Verdächtigungen führen können: Es wird sich ja dann herausstellen, dass die Leute zu Unrecht beschuldigt wurden! Andere wiederum sind hier sehr sensibel. Usw.

Weil aber Schaden entstehen kann, reagiert das Recht wieder auf einer zweiten Ebene, indem es verbietet, wissentlich falsche Beschuldigungen vorzubringen oder Verfahren übermäßig zu verzögern (Zeit ist auf dieser Ebene dann doch nicht vollständig zu neutralisieren). Auf dieser Ebene kann es allerdings dann wiederum sein, dass einfach nur festgestellt wird, dass eine Schädigung vorlag und zu unterlassen sei. Paradoxerweise kann das wieder unter der Fiktion der Reversibilität geschehen: Es ist ja nun festgestellt, dass das rechtswidrig war, womit der Verstoß getilgt ist, ohne weitere Konsequenzen. Erst auf noch einer weiteren Ebene kann dann festgestellt werden, dass das schädigende Verhalten nicht nur erwiesenermaßen vorkam und unwidersprochen im Raum stand, sondern dass diese Zeit durch die Feststellung nicht einfach verschwindet. Die Schädigung verlangt also unter Umständen nach Kompensation, aber nicht in allen Fällen ist das vorgesehen. Wir sehen also einen Übergang von der Denkweise (1. Ebene), wonach „Fehler“ im weitesten Sinne vollständig reversibel sind, also gleichsam zeitneutral durch ihre Feststellung beseitigt werden, über die Denkweise (2. Ebene), dass Falsches deutlich schädigen kann, was durch die Feststellung der Schädigung (als Fehler) behoben werden kann, zur Denkweise (3. Ebene), dass Schäden in einer durchlebten „schlechten Zeit“ oder irreversiblen Nachteilen bestehen können, dass sie aber gerade wieder durch anderweitige Vorteile oder Umverteilungen behoben werden können.

Auch in anderen Fällen würde man sich vielleicht nach einer kompletten Reversibilität sehnen, dass Sachverhalte ganz und gar aufgehoben werden können wie Plus und Minus sich aufheben. Mit der Scheidung kann man nicht aus der Welt schaffen, dass man soundso viele Jahre verheiratet war, so sehr man diesen Akt subjektiv auch an ein Ungeschehenmachen, eine Art Ritual des Vergessens, Austilgens usw. anähnelt. Juristisch ist Heirat reversibel, sozial niemals ganz.

Das Aufschreiben von Forschung ist selbst ein idealisierte Fiktion unter Vernachlässigung der Zeit. Niemand berichtet den wirklichen Ablauf einer Studie, zumindest nicht im Rahmen gängiger wissenschaftlicher Publikationen: „Ich unterhielt mich mit X., ob es nicht plausibel wäre, dass… Darauf sagte sie… Nachdem ich den Fragebogen entwickelt hatte, fiel mir noch die Studie von Y. in die Hände…“ Die „Zeit“ einer wissenschaftlichen Publikation ist eine idealisierte, eine Fiktion des idealen Forschungsprozesses (oder analog bei Lehrbüchern und Überblicks- bzw. Theoriewerken: eine didaktisch geeignete Reihung von Aussagen, die historisch womöglich in ganz anderer Abfolge geäußert und – davon noch einmal zu unterscheiden – entwickelt wurden).

Besonders interessant wird es auch, wenn die Wissenschaft praktisch wird und die Zeitlosigkeit (die man als Abstraktionsleistung oder Zeitvergessenheit betrachten kann) mancher Theorien in die außerwissenschaftliche Tätigkeit eingeht. Klassische ökonomische Theorie geht etwa davon aus, dass Märkte in unendlich kurzer Zeit reagieren, oder dass man sich zumindest darauf konzentrieren kann, Marktergebnisse zu beschreiben, wie sie früher oder später gewiss eintreten (wie früh oder spät ist dabei nicht sonderlich von Belang). Ein Unternehmen stünde etwa auf einem Markt als alleiniger Anbieter da – nehmen wir an, nicht einmal aufgrund besonderer Leistung, sondern weil sich die Konkurrenz, die auch nicht sonderlich zahlreich war, besonders dumm angestellt hat. Eine theoretisch informierte Wirtschaftspolitik würde dann, womöglich zu Recht, annehmen, dass früher oder später dem Unternehmen wieder Konkurrenz entstehen müsste, wenn es denn gar nicht so effizient und geschickt wirtschaftet. Man kann daraus schlussfolgern, dass Märkte, auf denen prinzipiell Konkurrenz denkbar ist, keiner Eingriffe bedürfen, auch wenn die Konkurrenz vorläufig auf sich warten lässt (denn die muss sich ja erstmal formieren, und das dauert je nach Branche). Man kann dann darüber streiten, ob sie früher oder später eintritt. Im Zweifelsfall glaubt der (zeitweilige) Monopolist an einen späteren Zeitpunkt, die Wirtschaftspolitik oder Regulierungsbehörde an einen frühen, und der Monopolist kassiert in der (theoretisch vernachlässigten) Zwischenzeit die Profite seines Monopolistendaseins. Entweder um dann doch eher früh der Konkurrenz nachgeben zu müssen, gar draufzugehen, weil er zu spät merkt, welche Konkurrenz im erwächst, oder um eben zwischenzeitlich die Kunden, Lieferanten und wen sonst noch gründlich auszunehmen. Die Steigerung dieser Theorie wäre (oder ist), sich mit den jeweiligen marktbeherrschenden Konzernen anzufreunden, weil sie ja doch dereinst durch andere (oder durch eine andere Marktform) abgelöst werden. IBM, Microsoft, Google, Facebook usw. waren und sind dann nur halb so schlimm, weil ihre Herrschaft nicht ewig währt, weil ja die Branche so eine ungemein schnelllebige sei. Für das schnelle Leben der Kunden oder anderer Geschäftspartner dann aber oft doch nicht schnelllebig genug, wenn man über mehrere Gerätegenerationen und Softwareversionen hinweg mit diesen Firmen leben muss. Langfristig, oder unter Vernachlässigung der Zeit, hatten sie dann keine Vormachtstellung mehr bzw. werden womöglich keine mehr haben. (An dieser Stelle möge sich jede und jeder an den Ausspruch von Keynes zur langfristigen Entwicklung von Märkten erinnern oder diesen googeln – ich meine natürlich: mit einer Suchmaschine eigener Wahl suchen.)

Auch das sorgenfreie Reden über Kulturen, Nationen und Traditionen kann leicht in eine Zeitvergessenheit geraten. Denn wenn schon Menschen in ihrem Leben wankelmütig, beeinflussbar und streitlustig sind, und so den Charakter herrschender Vorstellungen, Wertungen und Praktiken verändern, dann ist zusätzlich noch in Rechnung zu stellen, dass längerfristige Stabilität sogar bedeutet, dass diese Haltungen auch die Generationengrenzen und den biologischen Austausch der Bevölkerung überspringen müssen: „Ohne die Annahme einer Massenpsyche, einer Kontinuität im Gefühlsleben der Menschen, welche gestattet, sich über die Unterbrechungen der seelischen Akte durch das Vergehen der Individuen hinwegzusetzen, kann die Völkerpsychologie nicht bestehen“, schrieb Freud in „Totem und Tabu“. Und obwohl er darauf verwies, „daß keine Generation imstande ist, bedeutsame seelische Vorgänge vor der nächsten zu verbergen“, war er doch so beeindruckt von der Kontinuität, dass er befand: „Ein Teil der Aufgabe scheint durch die Vererbung psychischer Dispositionen besorgt zu werden“ (und das diskutiert er anhand von Schuldgefühlen anlässlich historischer Untaten, nicht anhand natürlich variierender Persönlichkeiitsmerkmale!). Gerade wenn man diese Annahme nicht teilt, muss man sich ja umso mehr wundern, wie wir so etwas wie Konstanz in einem – wie man früher gesagt hätte – „Nationalcharakter“, oder in einer Kultur beobachten kann. Die Schlussfolgerung daraus kann wiederum zweierlei sein: Sich bewusst zu machen, dass diese Konstanz, die man zu beobachten bzw. ohnehin schon zu kennen glaubt, eine Illusion sein könnte, oder gerade erstaunt nachzuforschen, wie solche gesellschaftliche Stabilität überhaupt denkbar ist, statt sie als selbstverständlich hinzunehmen.

Auch bei anderen sozialen Formen werden wir verleitet, eine Stabilität anzunehmen, die erst geprüft werden muss und erklärungsbedürftig ist: Gebäude, Erkennungszeichen und Namensschilder lassen uns denken, es sei selbstverständlich, dass eine Kontinuität zwischen verschiedenen Zuständen von Organisationen gebe, dass überhaupt Organisationen sozusagen Dinge sei, die feststehen und in einem dauerhaften Zustand überhaupt sind. Je nach Beschreibung stimmt das natürlich: Die Soundso AG muss die Schulden begleichen, die unter ihrem Namen gemacht wurden, ganz gleich ob die Verantwortlichen, das Geschäftsfeld, der Firmensitz, das Logo usw. vollständig ausgewechselt wurden. Gemäß realer juristischer Fiktion ist die AG im Zustand des Verschuldetseins. Dabei kann „das Unternehmen“ oder können diejenigen, die in seinem Namen handeln, heute so und morgen anders handeln. Die Organisation muss sich im Moment „beweisen“: Stell dir vor, es gibt Arbeit und niemand geht hin! Geld ist bekanntlich die gängigste Lösung des Problems, Leute zum zuverlässigen „organisierten“ Handeln zu bewegen, und zwar auch zu abrupten Änderungen der Arbeitsweise auf Anweisung. Außerdem erhalten sich Handlungsmuster und andere Haltungen selbst über Auswechselung des Personals hinweg infolge einer kettenförmigen Weitergabe (durch explizite Belehrung, Lernen am Vorbild und andere Beeinflussung). So entstehen so etwas wie dauerhafte Eigenschaft des Dings „Organisation“, die eigentlich kein Ding ist, sondern in Momente zerfällt; so entsteht, was man so Unternehmenskultur, Strategie, Identität einer Organisation usw. nennt.

Soziale Phänomene sind dem Menschen als zeitlichem Wesen angepasst: Sie sind zeitlich entfaltet und müssen sich noch mehr als Menschenleiber und -erinnerungen ihre Stabilität ständig erarbeiten. Was sie natürlich nicht hindert, sehr stabil zu sein (ein andermal aber abrupt umzubrechen). Aber sie schauen sich andere Formen der Zeitlichkeit bei anderen Sachverhalten ab. Sie verwandeln sich in Dinge, die so lange bestehen, bis sie willentlich zerstört werden. Oder sie sind so reversibel wie logische und mathematische Operationen. Fiktionen der Zeitlosigkeit, welche das Soziale handhabbar machen (es hängt nicht von der aktuellen Lust ab, ob etwas zuverlässig geschieht oder nicht; man hadert nicht mit der Unumkehrbarkeit eines Nachteils, sondern versucht ihn immerhin irgendwie zu kompensieren, usw.). Und dieser Beitrag ist selbst ein Kunststück in der Verschlingung und Verkürzung der Zeit, damit ihr nicht meine wirren Gedanken in der Reihenfolge ihres Auftauchens durcharbeiten müsst.