Wie haben Sie das gemacht, Herr Luhmann?
von Benjamin
Ich war einmal auf einer Tagung über Gesellschaftstheorie, da wunderte sich ein nicht unbekannter Soziologie vor Publikum, dass es da an seiner Fakultät so eine Sozialwissenschaft für Arme gebe, wo man sich wundere, welches Interesse die habe und aus welchen Motiven man die studiere: die Kommunikationswissenschaft, die ja letztlich eine Sozialwissenschaft für angehende Kabelträger beim Fernsehen sei.
Aber zur Sache: Wie macht man eigentlich soziologische Theorien?
Die Antworten darauf sind enttäuschend. Der größte Teil der Literatur, die nicht Forschungsergebnisse darstellt, sondern wissenschaftliche Arbeitsweisen beschreibt, erstreckt sich auf empirische Methoden (die einigermaßen willkürlich von den zu prüfenden oder zu erstellenden Theorien abgetrennt werden) oder auf das wissenschaftliche Schreiben (und auch das oft nicht sehr hilfreich). Literatur über Theoriebildung, gar Theoriearbeit ist meist sehr begrenzt.
Vielfach gilt Theoriearbeit als etwas Außerwissenschaftliches, was dem alltäglichen Zufall oder individueller bzw. kollektiver Genialität überlassen ist – eine Haltung, welche die Soziologie in anderen sozialen Bereichen niemals durchgehen lassen würde. Man hält es aber einfach nicht nötig, die eigene Theorieproduktion zu reflektieren, so lange sie funktioniert und man auch so Eindruck schindet, Schülerinnen und Schüler rekrutiert, denen die eigene Theorie und Arbeitsweise auch so in Fleisch und Blut übergeht, und man diejenigen kritisieren kann, die es offenbar nie begreifen (also nicht der eigenen Schule anhängen).
Oder die Vorstellung von Theoriearbeit ist übermäßig idealistisch: Durch systematische Kritik oder Vergleiche bestehender Theorien entstünden neue.
Die Begrenzung äußert sich auch in der Art der behandelten Theorien bzw. den berücksichtigten Wegen. Entweder besteht Theoriearbeit aus dem Herumdeuten an Klassikern oder ihrer Rekombination (meist wird das aber auch nur im Rückblick für einzelne Theorien beschrieben: X. überwand den Gegensatz zwischen Marx und Weber und kombinierte die Elemente soundso und soundso in seiner Theorie… Wie man dabei aber vorgeht, erfährt man nicht). Andere sind der Meinung, Theorien bestünden nur in Erklärungen: A führt zu B, oder etwas umfangreicher: A und B führen zu C, C führt zu D usw. Aber eben nur nach diesem Schema – und das ist ja nicht falsch, solche Theorien gibt es, und man möchte nicht einmal ihren Nutzen bestreiten. Aber so stellt man keine Theorien à la Parsons, Luhmann, Bourdieu, Habermas usw. her. Wie aber?
Die Frage nach der handwerklichen Verfertigung von Theorien zu stellen und sich nicht auf seine Position als genialer Gesellschaftstheoretiker zurückzuziehen, das kann vielleicht nur einem Kabelträger der Sozialwissenschaft einfallen, der den großen Regisseur unverfroren fragt, welcher sich in seiner unergründlichen Genialität sehr gefällt: Wie haben Sie das eigentlich gemacht? Oder etwas weniger unterwürfig: Wenn die Kommunikationswissenschaft nicht groß in der Theoriebildung ist, hat die Soziologie aber auch darin versagt, sich selbst Rechenschaft darüber abzulegen und andere zu lehren, wie man Theorien bildet.
Man müsste das mal für gängige soziologische Theorien durchgehen: Welche Kniffe, Strategien, Wendungen, Operationen, oder wie man das nennen soll, wurden angewandt, um zu diesen Theorien zu kommen? Man kann das natürlich nicht immer genau herausfinden, sofern man die Leute nicht befragen oder ihre Arbeitsweise nicht anhand von Notizen, Entwürfen usw. rekonstruieren kann. Aber man kann das teilweise aus den Publikationen herauslesen.
Ich gebe mal Beispiele für solche Strategien. Eine ganz einfach, mit der man mal beginnen könnte, ist die Umkehrung. A führt zu B. Oder nicht eher B zu A? Wenn die erste Annahme nicht so befriedigt, aber irgendwie doch ein Zusammenhang zu bestehen scheint, probiert man es mal andersherum. Machen Computerspiele gewalttätig oder nutzen aggressive Personen eher gewalthaltige Computerspiele (oder nichts davon)?
Oder eine andere gängige Strategie: die Frage nach latenten Funktionen. Ein gesellschaftliches Phänomen (z.B. ein Ritual oder eine Norm) wird vordergründig mit einem bestimmten Zweck erklärt, der aber nicht so recht einleuchtet, oder die Beteiligten können nicht einmal so recht einen Grund dafür vorbringen. Man stellt also aus der Beobachterperspektive eine Theorie darüber auf, welche bindende, motivierende, stabilisierende Wirkung das Phänomen hat, oder wie es sonstwie für eine soziale Gemeinschaft und ihre Strukturen förderlich ist, ohne dass diese Funktion deutlich ins Bewusstsein tritt. Mittels der Operationen: Identifikation des Phänomens, Unterscheidung zwischen manifester und latenter Funktion, Identifikation weniger beachteter Wirkungen des Phänomens für den sozialen Zusammenhang, und der Analyse, ob die Wirkungen erhaltend und reproduzierend wirken, bildet man also eine Theorie über das Phänomen.
Ein wenig komplexer, Luhmann-Stil. Wir beginnen mit einer Unterscheidung, die wir in der Gesellschaft beobachten. Es wird z.B. offenbar zwischen Recht und Unrecht unterschieden (vor allem, und das ist ja praktisch tautologisch, im Rechtssystem). Nun nehmen wir diese Unterscheidung und wenden sie auf sich selbst an: Ist die Unterscheidung von Recht und Unrecht selbst rechtens? Seltsame Frage, wird man sagen. Aber wir können überlegen, ob sie sich nicht wirklich in der Gesellschaft stellt. Ja! Wenn ein Gesetz verabschiedet wird, das festlegt, was rechtens und unrecht ist, will man vielleicht auch wissen, ob es überhaupt rechtens ist, ein solches Gesetz zu erlassen. Um das zu entscheiden, gibt es dann Verfassungen, wo drinsteht, wie Gesetzgebung vonstatten gehen muss, um rechtmäßig zu sein. Oder wenn ein Gericht entscheidet, ob eine bestimmte Handlung rechtens war, dann muss die Entscheidungsfindung selbst wiederum auf legale Weise ablaufen, nach Strafprozessordnung etwa. Man kann also mittels der Anwendung von Unterscheidungen auf Theorien kommen, wie die Gesellschaft solche unendlichen Regresse (ist es recht, dass recht ist, dass es recht ist…) unterbricht.
Oder nehmen wir Bourdieu: Partikularisierung des Universellen, Soziologisierung der Philosophie. Das muss man auch erklären. Die Philosophie hat so manche Dinge beschrieben, die als allgemeinmenschlich, universell, allgültig, essenziell für das Dasein überhaupt dargestellt wurden. Bourdieu hat Philosophie studiert, war aber nie mit diesen Absolutheitsansprüchen zufrieden, wollte aber wiederum nicht einfach alles über Bord werfen. Er hat verschiedene Dinge mit phiosophischen Theorien angestellt, aber eins davon bestand darin, das scheinbar Universelle als etwas Partikuläres darzustellen: eine Denkweise, die unter bestimmten sozialen Bedingungen gedeiht (partikulär ist) und sogar von dieser sozialen Perspektive aus so selbstverständlich erscheint, dass sie mit dem Wesen der Dinge (dem Universellen) schlechthin gleichgesetzt wird. Bourdieu hat also gefragt: Wer vertritt eigentlich wirklich so eine Ästhetik wie Kant, wie hat sie sich historisch entwickelt? Oder z.B.: Ist nicht Heideggers Auslegung des „Seins des Daseins“ überhaupt in Wirklichkeit die beschränkte und reichlich abschätzige Weltsicht der gelehrten Erzkonservativen vor, nach und während der Nazizeit? Aus welchem Umfeld, aus welchen Quellen speist sich ein solches Gedankengebäude, was erklärt seinen Erfolg und auch die Gegnerschaft anderer? Die Theoriebildung funktioniert also so, dass man das scheinbar Universelle als das Partikuläre begreift und nach den Bedingungen sucht, unter denen es als universell erscheinen kann.
Ich hab mal ein wenig angefangen, das systematisch für einen Gesellschaftstheoretiker durchzugehen, nämlich Niklas Luhmann, und dessen Theoriebildungsoperationen zu systematisieren. Das Ergebnis mag man in einem Aufsatz nachlesen und stelle ich gerne zur Diskussion.
Sehr löbliches Unterfangen, muss ich sagen, und geradezu völlig unpublizierbar in unserem Fach, also vermutlich wertvoll… ;) Ich hätte da aber noch ein paar Zutaten. Ich weiß nicht wie das in den Science & Technology Studies aussieht, wo mir aber zumindest ein paar interessante Beiträge zu Paradigmen und deren Entstehung bekannt sind; aber unter dem Label „Sense making“ (nebenbei, Werbung für mein eigenes Oeuvre, of course) gibt es doch zumindest einiges dazu, wie Laien- und Alltags-Theorien gemacht werden. Die großen Themen hier wären zunächst die zugrundeliegenden Universalannahmen: Es gibt keinen Zufall, zumindest überschaubare Handlungen sind gewollt also erfüllen irgendwelche persönlichen oder sozialen Funktionen (selbst wenn sie durch unüberschaute Folgen dysfunktional werden), manche Arten der Zusammenhänge sind universell während andere kulturell kontingent sind. Dann die große Domäne (oft informaler) Logik (wenn kein Zufall kann Korrelation dreierlei Erklärungen haben: a>b, b>a, c>{a,b}) und (vermeintlicher, physischer, psychischer, sozialer Gesetzmäßigkeiten, deren Verkettung gewissermaßen neue Theoriechen relativ grundsätzlichen Geltungsanspruchs gebiert. Dann die Versinnhaftigung reiner Korrelationen, die aus Regelmäßigkeiten Notwendigkeiten bastelt, mal mit mal ohne Erklärung. Und dann das unendliche Feld analogischer Inferenz, in dem Beobachtungen anhand selektiver Kriterien auf andere, besser bekannte Phänomene projiziert werden in der Hoffnung, dass dabei etwas Lehrreiches herauskommt. Jetzt wäre meine These dass wissenschaftliche Theoriebildung sich nicht grundsätzlich von Alltagstheorien unterscheidet (Gedenke, Du bist nur ein Mensch, Imperator!) – sondern bestenfalls formalere Logik, besser geprüfte Analogien, und generell eine höhere Systematik beim Erwägen substantiellerer Erklärungen anwendet (auch da bin ich nicht immer sicher). Das ist ja auch nicht verkehrt, viele bahnbrechende Erkenntnisse folgen ja letztlich aus einer Überlegung aufgrund von Alltagsbeobachtungen, die sich nach einiger Überprüfung als äußerst nützliche Erklärung herausgestellt hat (von Wellentheorien der Physik über Sprechakttheorie bis hin zur Frame-Metapher). Dabei entsteht auch viel Unsinn, aber was allzu großer Mist ist scheitert halt dann an der Überprüfung, und kleinerer Mist ist ja manchmal auch informativ wenn es Kollegen reizt dasselbe besser und konsistenter zu erklären, nachdem die Beobachtung und erste Hypothese mal formuliert ist. Die „großen“ Soziologen basteln da mehr mit weit abstrahierten Regelmäßigkeiten, andere mehr mit konkreteren Beobachtungen, aber letztlich haben die Prozesse der Sinngenerierung viel miteinander gemein…
Das ist in der Tat zutreffend, dass man viele Analogien zu Alltagstheorien finden wird, und einige der Operationen wie Analogiebildung habe ich auch auf der Liste. Der sozialwissenschaftliche Anspruch ist zusätzlich zu Alltagstheorien und zu den von dir genannten Gütekriterien oft noch, mehr zu sehen als die Alltagsbeobachtung. Natürlich gibt es auch im Alltag Ansprüche, die blinden Flecken anderer aufzudecken, unwahrscheinlichere, aber einleuchtende Vergleich zu ziehen oder latente Funktionen offenzulegen. Die Sozialwissenschaft hat da (teilweise!) aber einen weitergehenden Anspruch: Ent-Essenzialisierung, wo der Alltagsverstand keine Alternativen, sondern das ewige Wesen einer Sache am Werke sieht; unintendierte Konsequenzen und latente Funktionen zu finden, die nicht nur nicht gesehen, sondern teilweise sogar explizit abgestritten oder verdrängt werden; Dinge zu verstehen, wo man sich im Alltag weigert, sich hineinzuversetzen oder Verstehen moralisch empört als entschuldigendes Verständnis aburteilt (warum Nazis, Kinderschänder, Verschwörungstheorien usw. verstehen? Ist doch krank!); die Folgen der Wiedereinführung einer Erkenntnis in die Gesellschaft analysieren oder sie noch einmal auf einen selbst anwenden (schafft sich ein Zusammenhang ab oder verstärkt er sich, wenn er bekannt wird? Was passiert, wenn sozialwissenschaftliche Begriffe diffundieren? Was, wenn man nicht nur das der anderen, sondern das eigene Denken als ideologisch, sozial und historisch bedingt usw. analysiert?), usw.
Andere Zweige der Sozialwissenschaft konzentrieren sich natürlich darauf, diejenigen Probleme abzuarbeiten, die ohnehin auf der Straße liegen (wie kann man besser X? Wie schädlich ist Y?), und recht naheliegende Kausalitäten mal systematisch zu prüfen, die immer nur vermutet werden. Daran ist ja auch nichts falsch, wenn es die andere Forschung, die überraschenden Einsichten durch eine Wendung mehr in der Theoriebildung nicht verdrängt und delegitimiert werden…