Synästhetische Soziologie

Versuche und Unterweisungen, die Gesellschaft mit Sinn und Verstand zu begreifen

Kategorie: Biologisches

Körbe und Gründe

Wissen wir immer die Gründe unserer Urteile? Keineswegs – wir kennen ja alle die Rede vom Bauchgefühl. Gerade über die Vorstellungen darüber, was welchem Geschlecht zusteht, für es typisch ist und wie die Geschlechter zueinander stehen, legen wir nicht immer Rechenschaft ab (und täten wir es, kämen wir womöglich zu ganz anderen Ergebnissen, oder dazu, dass das ganze Spiel Unsinn ist). Es erscheint uns, oder vielen oder meistens, als natürlich. Damit meine ich nicht einmal: biologisch begründet. Die ganzen biologischen Begründungen sind nachgeschoben. Die Geschlechterverhältnisse nehmen wir oft (selbst wenn wir das Gegenteil anstreben) als natürlich wahr. In dem Sinne, dass es eben so ist, selbstverständlich; es uns gar nicht in den Sinn kommt, dass es anders sein könnte, Punkt (es ist ein praktischer, kein theoretischer, reflektierte Sinn, den alles dann für uns ergibt, also einer, der sich in Alltagshandeln und alltäglichen Urteilen ausdrückt, nicht im Grübeln und in überlegten Äußerungen). Keine weiteren Begründungen, denn das würde ja schon bedeuten, dass es Gründe bräuchte, dass man sich und andere davon überzeugen müsste oder es zumindest etwas Rätselhaftes hätte, dass man nachforschen müsste.

Rätselhaft sind dann aber die Gründe unserer Urteile – nicht die bewussten, nennbaren Gründe, also etwa die Argumente, das sei von Natur aus so, weil…, oder das sei eine Frage der Erziehung, gehe auf den Einfluss von Germany’s Next Topmodel zurück, usw. Sondern die Grundlagen dessen, dass wir etwas für selbstverständlich halten. Ich gebe einige Beispiele und lade ein, gemeinsam nachzuforschen, welche diese Gründe sein könnten. Die Methode wird die der schrittweisen Variation sein. Wir ändern bestimmte Merkmale und schauen, ob sich unser intuitives Urteil ändert.

Was ganz Banales. Ist euch schon mal aufgefallen, dass fast ausschließlich Frauen Körbe an ihren Fahrrädern haben? Ich hab’s mal auf dem Heimweg (per Fahrrad, ohne Korb, aber ich besitze einen) beobachtet. Praktisch alle Radfahrenden mit Korb waren Frauen, praktisch kein Mann fuhr ein Rad mit Korb. Bei den abgestellten Damenrädern hatte die Mehrheit einen Korb, von den Herrenrädern nur wenige (die Zuordnung zu Personen ist nicht ganz eindeutig, aber man davon ausgehen, dass zumindest Damenräder überwiegend von Frauen genutzt werden und sehr viele Herrenräder von Männern). Körbe sind ja praktisch, aber Männlichkeit und Weiblichkeit ist meist keine Frage des Funktionalen. Wir können ja den praktischen Sinn des Fahrradkorbs ausloten und sehen, ob wir ihn darauf reduzieren können.

Wir können uns mal Folgendes fragen: Wären die Frauen unter euch ratlos, wohin mit ihrer Handtasche, hätten sie keinen Fahrradkorb? Was, wenn sie keine Handtasche hätten? Erscheint es euch allen sinnvoller, einen Korb fest zu montieren (was Vorteile hat, aber mit dem Nachteil, dass man gewisse sperrige Gegenstände nicht transportieren kann – das müsste ja beide Geschlechter betreffen!) oder ihn immer abzunehmen? Wie urteilen Männer und Frauen ästhetisch über Räder mit Körben (sind Körbe sportlich, spießig, heimelig…)?

Aus alledem können wir dann erschließen, ob der Korb eine Fortsetzung der Handtasche ist (und uns fragen, was an der Handtasche in unserer Kultur „weiblich“ ist), ob Frauen eher mit kleinteiligeren Transporten verbunden werden, welche ästhetischen Maßstäbe mit Rädern von Männern und Frauen und mit Männlichkeit und Weiblichkeit überhaupt assoziiert sind.

Ganz anderes Thema. Eine jüngere, attraktive, aber nicht übermäßig reiche Frau, die eine Beziehung mit einem älteren, wohlhabenden Mann unterhält. Ich darf einmal unterstellen, dass vielen das irgendwie – ja wie eigentlich vorkommt? Es ist nichts Neues, aber irgendwie nimmt man es doch nicht als normal und gut hin. Was genau stört einen daran, wenn es einen denn stört? Wir können versuchen, das herauszufinden, indem wir verschiedene Elemente variieren und überlegen, ob die Bedenken der Bedenkentragenden dann wegfallen würden. Was, wenn sie immer ihre Rechnungen selbst bezahlt? Wenn sie keinen Sex hätten? Er der verwitwete Vater ihres verstorbenen gleichaltrigen Mannes wäre? Sie seine Chefin wäre (wenn auch eine weniger gut bezahlte, vielleicht irgendwas Öffentliches oder Gemeinnütziges, und sein Vermögen wäre geerbt, usw.)? Sie sich in eine Chat sehr intim kennengelernt haben, wobei Alter und Vermögensverhältnisse keine Rolle spielten?

Keine Antworten? Nein, ihr müsst diesmal mitforschen. Ich habe ja schon die Fahrräder beobachtet und mir die Fragen ausgedacht, jetzt könnt ihr auch mal was tun.

Alles Egoisten

Jüngst hörte ich die besorgte Nachfrage, meine Themen seien gelegentlich etwas düster, ob denn alles in Ordnung sei? Mit mir durchaus meistens, freilich die Umstände, die sind nicht so. Und dann versorgt ihr mich ja auch immer mit Nachschub an schwermütigen Themen. Wie neulich die Debatte, ob nicht Menschen ganz im Kern immer egoistisch seien und zum Altruismus ungeeignet. Aber wenden wir uns einmal trotzdem der oft seufzend vorgetragenen Auffassung zu, die Menschen seien halt so, dächten nur an sich selbst. Seufzend? Naja, vielleicht oft auch stolz über die eigene Abgebrühtheit! Moralisierende Gutmenschen sind ja nur halb so cool. Man merkt schon, das hier ist keine zu tiefgehende Abhandlung über Egoismus und Altruismus an sich, sondern eine Rekonstruktion herrschender Vorstellungen und ihrer Probleme.

Trotzdem noch etwas grundsätzlicher: Ist dieser herrschende Gegensatz altruistisch/egoistisch eigentlich ein moralischer, auf dem die Seiten eindeutig verteilt sind? Auf den ersten Blick scheint das so – welche andere Funktion sollten diese Unterscheidung auch sonst haben, außer zu bewerten und zu rechtfertigen, oder sich über die Schlechtheit oder Güte der Menschen und der Welt überhaupt zu empören oder zu erfreuen? Gewiss gab es schon immer Klagen über allzu eigennützige Menschen. Man kann das schon in der Bibel lesen. Freilich ist dieses Menschenbild keinesfalls universell. Nicht alle Epochen und Kulturen waren sich einig, dass gerade Eigennutz das Wesen des Menschen ausmache. Ihnen waren ganz andere Kriterien wichtiger, aber das an sich spricht ja noch nicht gegen eine Beschreibung des Menschen z.B. als durchweg egoistisch. Interessanter ist es da schon, wie Egoismus historisch umgewertet wurde (mindestens ja einmal, nämlich in der Epoche Mandevilles und Adam Smiths) – und zwar als eine Art Altruismus! Der blieb also eigentlich das unangefochtene Kriterium, nur dass Egoismus ihn letztlich befördert und damit geadelt wird. Wenn alle ihren Nutzen verfolgen, dann sei das gemeinwohlförderlich – weniger nützlichen ist dagegen offenbar, aber das wird nicht so laut gesagt oder zumindest in der Rezeption überlesen, das offen altruistische Verhalten. Aber darin liegt dann gerade eine wichtige Ebenenunterscheidung: zwischen intendierten (privat verfolgten) und latenten (für die Allgemeinheit, „öffentlich“ resultierenden) Handlungskonsequenzen: „private vices, publick benefits“ (ein wenig spricht aus dieser Wendung noch das schlechte Gewissen oder der Wille zur Provokation, keine abgebrühte Selbstverständlichkeit). Man verdoppelt Altruismus und Egoismus unter der Hand, eliminiert aber unter anderem den offenen Altruismus als letztlich weitgehend überflüssig, vielleicht ob seiner Blindheit auch als kontraproduktiv. Eine gängige Strategie zur Untermauerung einer solchen Wertung ist nun aber Naturalisierung: Es ist nicht nur eigentlich in Ordnung, sondern liegt ohnehin im Wesen des Menschen, oder in der Ordnung der Natur. Es war aber jedenfalls historisch viel Arbeit nötig, um den eigennützigen Menschen zu legitimieren (und damit auch zu diesem Wesen erst zu erziehen), was bis heute nicht ganz so funktioniert hat, wie das Seufzen über den Egoismus zeigt: Er ist zwar ein wenig zur (vermeintlichen oder zumindest zweiten) Natur geworden, aber nicht zu einer geliebten.

Aber jenseits moralischer Wertungen kann man der Unterscheidung auch die Funktion zuschreiben, Verhalten vorherzusagen. Dann müsste alles in egoistisches und altruistisches zerfallen, oder? Somit hätte man aber kein endgültiges Erklärungsprinzip, denn dann müsste man noch vorhersagen, ob sich jemand altruistisch oder egoistisch verhalten wird, um dann ausgehend davon Weiteres zu erklären. Die häufigere Strategie ist die Ausweitung des Egoismus – Grundthese: Menschen handeln immer zum eigenen Nutzen.

Aber wenn keine genauen Kriterien angegeben werden, was denn Nutzen sei, dann begreift man eigentlich all das als nutzensteigernd, was eine Person eben so will. Altruismus ist dann unauffindbar, wenn alles spontan zum Egoismus erklärt werden kann, was man nur mit einiger Motivation tut: Es muss dann gegenüber anderen Dingen präferiert werden, man fühlt sich besser dabei als bei anderen Dingen – oder so ähnlich die Logik – und damit hat man sich für das entschieden, was einem selbst nutzt (es kann aber diskutiert werden, ob Nutzen, Präferenz und gutes Gefühl letztlich so ineinander übersetzt werden können, aber so geht eben die Schlussfolgerung). Man sei z.B. moralisch wegen der sozialen Billigung oder einfach des eigenen guten Gefühls dabei (und umgekehrt hält man es für nötig, für Moral mit dem guten Gefühl zu werben, dass man sich dabei durchaus erlauben dürfe).

Schon wieder dieselbe Figur: Das eine ist im anderen enthalten bzw. läuft auf es hinaus, nur umgekehrt: Altruismus ist letztlich Egoismus! Nur: Gibt es hier, wie im Falle „private vices, publick benefits“ eine Ebenendifferenzierung (dort ist es die zwischen persönlichem Nutzen und allgemeinem Wohl), mit denen man beide noch auseinanderhalten kann? In ein und derselben Person entpuppt sich das altruistische Verhalten offenbar als Egoismus. Es bleibt die Frage, nach welchen Maßstäben das Verhalten zuerst altruistisch, dann aber „eigentlich“ egoistisch sein kann.

Natürlich kann man versuchen, beides sorgfältig zu definieren. Meist kommen dabei zu enge Eingrenzungen heraus, die aber für eine Untersuchung immerhin einigermaßen handhabbar sind: Wenn Leute die Wahl haben zwischen mehr oder weniger Geld, werden die meisten sich für mehr Geld entscheiden (ceteris paribus, also bei sonst gleichbleibenden Bedingungen – was aber die Vorhersage fast schon wieder entleert, denn es kann niemals alles gleich bleiben, so dass man doch auch eine gewisse Vorstellung über den Wert und Unwert anderer Sachverhalte braucht, die sich zusätzlich zur Geldmenge ebenfalls ändern). So könnte man jedenfalls vorhersagen, dass Menschen ihren Nutzen maximieren, jedenfalls den in Geld gemessenen.

Das andere Extrem wäre eben, dass man alles durch eine Person Gewollte, alles Präferierte für eigennützig erklärt, gemäß der Logik: Warum würde jemand etwas (bewusst) tun (oder unterlassen), wenn man es eben nicht den Alternativen vorziehen würde; und dass man etwas vorzieht, heißt ja, dass man ihm persönlich den höchsten Wert zuschreibt, und wenn man das tut, was für einen selbst den höchsten Wert hat, dann handelt man egoistisch. Freilich bleibt dann keine Vorhersagekraft mehr übrig, bzw. eigentlich kein Platz mehr für den Begriff des Egoismus, der dann gleichbedeutend wäre mit Wollen oder Intention schlechthin, sofern sie wirklich handlungsleitend sind. Und umgekehrt könnte man dann nicht einmal altruistisch sein wollen – denn was wollte man denn dann überhaupt? Vielleicht höchstens Dinge, die man nie ausführt, wenn die Hypothese lautet, dass Personen immer egoistisch handeln

Mir scheint aber, jenseits solcher Vereinseitigungen erfolgt die Zuordnung „egoistisch/altruistisch“ nach gewissen konventionellen Vorstellungen. Beides, Vereinseitigung und differenzierende Konvention, kann durchaus in gewissem Umfang parallel existieren: Mal ist es geboten, pauschal über die menschliche Natur zu seufzen, mal braucht man praktikable Unterscheidungen, um Personen zu beschreiben, die Dinge aufs Spiel setzen oder auf sie verzichten, die gemeinhin als wertvoll und eigennützig gelten, vom ungestörten Schlaf bis zum Leben: höfliche Gesprächspartner, Kamikaze-Piloten, Ordensleute, Eltern, Liquidatoren, sich für die Liebe Aufopfernde, Selbstmordattentäter usw. Ein Teil dieser Aufopferung wird man als echt altruistisch beschreiben wollen, ein Teil als nur „vermeintlich“ im Sinne höherer Ziele, aber eigentlich wertlos oder verwerflich, einen Teil je nach Befindlichkeit vielleicht doch auch als egoistisch.

Um diese teilweise widerstreitenden Kriterien anzuwenden, bedient man sich einiger Manöver, wovon zwei genannt sein sollen, welche das Problem beheben, dass Alltagsphilosophie selten in sehr widerspruchsfreien Systemen vorliegt, sondern aus Weisheiten und Denkweisen besteht, die spontan und wechselnd herangezogen werden.

Man wechselt erstens zwischen Beschreibungen von Aufopferung als Natur und als Intention. Falls man annehmen wollte, dass Egoismus oder auch Altruismus in der menschlichen Natur liegen, dann wäre kritisch zu bedenken, dass „Aufopfern“ in einem gewissen Sinne durchaus nicht vergleichbar ist mit Tieren, die „sich“ aufopfern. Das entscheidende Argument lautet hier vielleicht nicht einmal „Entscheidungsfreiheit“, sondern vielleicht eher einmal: kulturelle Variabilität. Jede der genannten und vergleichbarer Formen hat ihren Ort, ihr Milieu, ihren Zeitpunkt in zivilisatorischen Prozessen: Es ist eine andere Disziplinierung, ins Kloster zu gehen, fürs Vaterland zu kämpfen oder Kröten über die Straße zu tragen. Und dann das „sich“: Aufopferung hat einen anderen Sinn, sobald man es nicht blind tut, sondern überhaupt zwischen der eigenen Perspektive und derjenigen anderer unterscheiden kann: Man weiß, was man aufgibt, und vermutet, wie es es ankommt. Die Empfindungen dabei mögen dann zwar herkommen, wo sie wollen, jedoch stellt einen das Wissen um alternative Aufopferungsmöglichkeiten oder ihre Unterlassung vor zusätzlich Gedanken und Empfindungen, welche nicht nur diejenigen verdoppeln, die bei einem unbewussten Aufopfern Antrieb wären. Man kann z.B. alleine schon merken, dass Aufopferung in einem gerade vorliegenden Sonderfall anderen gar nichts bringt, anstatt sich natürlicherweise blind zu opfern. Eine subjektive Vorstellung, ob und wie man sich aufopfert, ist also etwas anderes als nur ein natürlicher Antrieb, etwas zu tun, was objektiv zum eigenen Nachteil ist und zum Vorteil anderer, bzw. etwas, das es auch nur vermeintlich sein könnte, sich bei bewusster Betrachtung jedoch als das Gegenteil herausstellt.

Außerdem unterscheidet man zweitens manchmal, weitgehend unbemerkt, zwischen zwei Ebenen: Was man selbst für moralisch hält und was allgemein dafür gilt. Manche Spiele mit der Unterscheidung egoistisch/altruistisch funktionieren nur so. Wenn Nietzscheanisch Moral als Eigennutz z.B. derjenigen beschrieben wird, die sich sonst keinen Vorteil zu verschaffen wissen und so die Starken bändigen, oder umgekehrt als das, was die ohnehin Stärkeren noch auf ihre Unverschämtheiten zur Steigerung ihres Nutzens noch draufsetzen, dann ist das ja „Moral“ im Sinne des als moralisch Geltenden, nicht notwendig der selbst als moralisch gültig Erachteten. Man selbst legt sich auf die Bewertung dessen als egoistisch fest, und damit entweder als unmoralisch, oder darauf, dass man skeptisch ist gegenüber jeder Begründung von Moral, womit man aber auch nicht die „Sklavenmoral“ der Schwachen oder die „Herrenmoral“ der Starken gelten lässt. Man entlarvt also den vermeintlichen oder angeblichen Altruismus anderer als Egoismus und damit als unmoralisch oder als so illusorisch wie jede Moral.

Das Spiel mit der Unterscheidung egoistisch/altruistisch funktioniert also mittels der Unterscheidungen persönlicher/allgemeiner Nutzen, eigene/fremde/keine Moral, mittels der wahlweisen Gleichsetzung mit Natur, Intention, und womöglich mit der Gleichsetzung Altruismus=Egoismus, indem die vorgenannten Unterscheidungen übersprungen werden.

Geschlechtsteilchen

Die Biologie scheint heute die Wissenschaft zu sein, die uns sagt, was es mit dem Menschen so auf sich hat: Säugetier, großes Hirnvolumen, aufrechter Gang usw. Ein wenig Philosophie und Theologie halten manche für erlaubt, aber die Biologie ist im Zweifelsfall Garantin für Wahrheit (Gentest und Hirnscan sind etwa ultimative Beweise für Identität respektive Denken bzw. Fühlen). Natürlich hat sich die Soziologie bei der Biologie im Laufe ihrer Geschichte großzügig bedient, und das sogar mit abnehmendem Schaden und zunehmendem Nutzen: vom Sozialdarwinismus zu vernünftigen Theorien sozialer Evolution, aber auch bei manchen Methoden (ich bin ja selbst auch nicht unschuldig bei deren Weiterverbreitung). Manche irreführende oder unreflektiert Metaphorik bleibt, aber die Gesellschaft als Körper, eine Kultur als gesund oder ungesund zu bezeichnen, das ist sicher nicht mehr Stand der Sozialwissenschaft. Aber Biologie ist nicht alles (einige wollten immerhin in der Frühzeit der Soziologie die Rede von der „Sozialphysik“ etablieren). Vor allem, wenn daraus gar nicht erst Sozialwissenschaft wird, sondern es schlecht verstandene Biologie zur Erklärung sozialer Phänomene bleibt.

Nehmen wir etwa die Geschlechterunterscheidung. Müssen wir uns sie in sozialer Hinsicht vorstellen wie eine Art organische Substanz, eine relativ dauerhafte körperliche Sache, die ständig Lebensäußerungen hervorbringt – ein Trieb, Genprogramm, oder etwa so etwas wie Blutgruppe oder Schuhgröße? Wie wäre es stattdessen mit etwas Teilchenphysik? Es kommt mir dabei nicht so sehr darauf an, nun physikalisch korrekt zu argumentieren, sondern auf die Metaphorik.

In einem kurzen Augenblick kann es dazu kommen, dass in einem Gewirr von Teilchenkollisionen und Lichtblitzen ein Teilchen und ein Antiteilchen auseinandertreten. Sie sind klar unterscheidbar, wenn man die richtigen Messinstrumente hat. Andernfalls bekommt man nichts mit. Kurz darauf sind sie auch schon wieder weg, vernichten sich in Energie, die an anderer Stelle weiterwirkt. Das ganze Ensemble ist höchst instabil, fällt ohne besondere Maßnahmen, ohne Energiezufuhr sofort wieder in sich zusammen. So im Alltag: eine winzig kurze Beobachtung. Die Unterscheidung „Mann oder Frau“ tut sich meist unwillkürlich auf. Sie ergibt nur Sinn, wenn die andere Seite auch existiert, zumindest als Erwartung: Dieser Mensch ist eine Frau, ist kein Mann, und tut etwas. Und das ist z.B.: eher männlich. Oder es ist: Wie man in der CDU halt so denkt und redet, oder: typisch für Hipster, oder: schlechter Service. Und weg ist die Unterscheidung, in sich zusammengefallen zugunsten einer neuen. Denn Gedanke folgt auf Gedanke, und über kurz oder lang sind sie instabil – wiederholen sich zwar und können eine Weile bleiben, aber das Denken geht weiter, neue Unterscheidungen müssen das gerade Gedachte ablösen. Natürlich kann man aus einer Unterscheidung sehr viel machen, wenn man entsprechende Energie zuführt, d.h. entsprechend motiviert ist: lange Reden über Geschlechterunterschiede führen, sich über Genderforschung aufregen, sich über die recht triviale Paradoxie auslassen, dass Forschung, welche Unterschiede aufheben oder anders sehen will, diese erstmal immer wieder herstellt, usw. Muss man aber nicht. „Die Gedanken sind frei,/wer kann sie erraten?/Sie fliehen vorbei,/wie nächtliche Schatten“, heißt es bekanntlich.

Wie unterscheidet man Männer und Frauen? Man würde vielleicht naiv antworten: biologisch (da eben das Denken eingeschliffen ist, die Biologie erhelle das Wesen des Menschen). Somit anhand der Genitalien, anhand der Gene, vielleicht anhand der sekundären Geschlechtsmerkmale, aber das ist schon trügerisch. Flachbrüstige oder Männerbrust, Damenbart und Stimmbruch hin oder her, der Beweis liegt in der Hose, denkt man (oder in den Genen). Die eigentliche Antwort lautet aber, wie in der Teilchenphysik: Man beobachtet höchst indirekt. Zum Beispiel bei Personen in Winterkleidung aus einiger Entfernung von hinten. Wer kann schon mit Sicherheit ausschließen, dass man sich bei der gut aussehenden Frau in eine Penisträgerin verguckt hat? Oder indem man sich fragt, ob ein ausländischer Name unter einem Artikel im Internet nun männlich oder weiblich sei. Die Leserinnen und Leser dieses Blogs, welche den Verfasser schon nackt gesehen haben, dürften sich an ein bis zwei Händen abzählen lassen. Alle anderen müssen auf Schlussfolgerungen und Wahrscheinlichkeiten vertrauen. Meinen Chromosomensatz kenne selbst ich nicht, Hormonspiegel wurden bei mir noch nie gemessen, meine Fruchtbarkeit wurde meines Wissens auch noch nie unter Beweis gestellt.

Wir müssen für unsere Unterscheidungen jede Menge Messinstrumente mitschleppen. Dass sie inzwischen gut funktionieren, bedeutet nicht, dass sie nicht labil sind und schwierig zu konstruieren waren. Sie sind aufwändig hergestellt und eingestellt. Kinder müssen das erst lernen: was und wie Männer und Frauen „sind“, und was davon sie selbst (selbst wenn man darüber reden möchte, was Personen körperlich „sind“, so heißt noch nicht, dass sie es wissen im eigentlichen Sinne des Wortes „wissen“). Jugendliche müssen bei Dr. Sommer in die Lehre gehen. Noch als Erwachsene glauben sie an ein Rätsel, glauben, dass im Geschlecht irgendein tiefes Geheimnis des Menschseins liege (statt ihren Spaß zu haben oder es sein zu lassen). Und dann sind die Messinstrumente doch manchmal irritiert: strange matter. Tops und bottoms. Charm und spin. Gay und straight, cis und trans oder Geschmacksrichtungen wie vanilla.

Und die beobachtete Person zerfällt ja und kann sich neu zusammensetzen, wie die Teilchen. Man verbindet sie mit Haushalt, Sex, Ehepartner, Schuhen, Karriere, Zielgruppen für Slipeinlagen, Schwulenbars, Brustkrebs, Zehen, an denen man lutschen könnte, usw., aber nicht mit allem zugleich.

Aber sind nicht Geschlechter anders als Teilchen, die man erst herstellen muss, laufen nicht Männer und Frauen herum? Es laufen Personen herum, die gebär- und zeugungsfähig sind, die solche und solche Chromosomen haben, diese oder jene Hormonspiegel, einen Bartansatz, kurze Röcke an, Sommersprossen, einen Finger zu wenig, Fussel im Bauchnabel, einen sitzen, Nachtschicht, die Krätze, ein SPD-Parteibuch in der Schublade, sich einer geschlechtsangleichenden Operation unterzogen, Heuschnupfen usw. Ich habe ja nicht Körper oder Dinge mit Teilchen verglichen, sondern Unterscheidungen, welche auftauchen und zerfallen. Unterscheidungen von Körpern, Namen, Äußerungen, Handlungen usw. Und umgekehrt: Männer und Frauen müssen erst mittels Energie auseinandertreten. Man muss so beobachten und nicht anders (oder: Man muss nicht so beobachten, sondern kann auch anders). Oder so: Sie müssen hergestellt werden, mit Energiezufuhr. Die Teilchen müssen hergestellt werden, kleine Körper mit ihren Körperhaltungen, Körpermodifikationen, Bekleidungen, kosmetischen und medizinischen Behandlungen. Selbst wenn die Körper schon allerhand mitbringen – sozial wesentlich ist die Beobachtung (und die Beeinflussung der Körper, indem man sie sozialen Kraftfeldern aussetzt).

Man sollte nur wissen, was man tut und seine Messinstrumente kalibrieren oder auch mal austauschen, seine Manipulationen an den Teilchen bedenken oder auch mal variieren. Und öfter mal darauf hinarbeiten, dass andere Unterscheidungen aufblitzen.

Was Dinge tun

„It is not the case, I think, that all kinds of nonsense have been adequately classified yet.“
(Austin, Performative utterances. In ders., Philosophical Papers)

Man redet auf verschiedene Weise darüber, was Dinge tun. Auf manche Weise redet man aber auch nicht. Unterscheide z.B.:

Das Messer schneidet das Gemüse gut.
Ich schneide das Gemüse mit Hilfe dieses Messers.
Meine Freundin schneidet das Gemüse.
Ich schneide das Gemüse mit (der) Hilfe meines Freundes.

Das „der“ ist hier offenbar ganz entscheidend. Man kann aber durchaus „mit Hilfe“ auf Menschen anwenden, wenn man Mittelsleute (sozusagen im Idealfall willenlose menschliche Hilfsmittel) einsetzt:

Mit Hilfe eines Mittelsmannes verschob er das Geld auf die Bahamas.

Aber zurück zum Eingangsbeispiel: Wie schneidet denn ein Messer? Gut, sauber, glatt etc., aber nicht gewissenhaft, geschickt, absichtlich:

Ich habe mir in den Finger geschnitten – Absichtlich oder unabsichtlich?
Das Messer hat mir in den Finger geschnitten.

Grenzfälle:

Der Computer erinnert mich („automatisch“ – wofür spricht dieses Adverb?) an den Geburtstag meines Freundes.
Die Maschine schneidet wenn nötig
selbstständig den Faden ab.

* * *

Ein Auto erlaubt es mir, schnell auch weiter entfernte Ziele zu erreichen.
Mein Chef erlaubt mir, dieses Geld für einen neuen Computer auszugeben.
Darfst du das? – Mein Auto hat es mir erlaubt!

Heißt erlauben nicht einfach: ermöglichen? Aber wann verwendet man: „mein Auto ermöglicht mir“, „mein Chef ermöglicht mir“? Eine Person kann zwar durch ihre Erlaubnis etwas ermöglichen, aber häufig wird man eine substanzielle Unterstützung erwarten, wenn diese Formulierung benutzt wird. Meine Eltern hätten mir, als ich früher bei ihnen auf dem Dorf wohnte und noch keinen Führerschein hatte, erlauben können, bis um drei auf irgendwelche Partys in einer vierzig Kilometer entfernten Stadt zu gehen, aber sie haben es halt nicht ermöglicht (ein Auto hätte es ermöglicht, oder eine gute Busverbindung).

Aber man setze statt „erlauben“ ein: „die Erlaubnis erteilen“:

Mein Chef erlaubt mir (erteilt mir die Erlaubnis)… Mein Auto erlaubt…

Manchmal ermöglichen oder erlauben Menschen schon fast so wie Dinge:

Mein privater Koch ermöglicht (erlaubt) es mir, auf Wunsch Tag und Nacht kleine Mahlzeiten zu mir zu nehmen.

Der Koch erlaubt nicht im Sinne von „die Erlaubnis“ erteilen, sondern er ermöglicht nur. Umgekehrt erlauben Dinge fast wie Menschen:

Das Programm erlaubt keinen Zugriff auf die Datei.

Man muss sich das nicht nur unbedingt so vorstellen, dass eine Person einmal eingestellt hat, dass der Zugriff möglich ist, sondern der Computer könnte einen komplizierten Algorithmus verwenden, der „entscheidet“, ob man zugreifen darf. Ab wann erlaubt denn der Algorithmus und nicht mehr derjenige, welcher das Zugriffsrecht eingestellt hat oder den Algorithmus programmiert (vor allem wenn es viele Programmierer gibt)? Würde ein Programmierer auch „erlauben“, wenn der Algorithmus ein Zufallsprogramm wäre? Oder würde man dann gar nicht mehr von „erlauben“ sprechen? Oder ist die Diskussion nicht Unsinn, ob der Algorithmus oder Personen dahinter „erlauben“, da man ja immerhin so spricht wie oben angegeben, dass nämlich das Programm erlaubt? Handlungen lassen sich in arbeitsteiligen Zusammenhängen auch unterschiedlich zuschreiben: Erlaubt der Türsteher oder der Besitzer des Clubs denn den Zutritt? Je nach Sachlage und Absicht der Beschreibung! Es sind ja die verschiedensten Konstellationen denkbar, wie die beiden untereinander ausmachen, wer Zutritt hat. Außerdem kann man „erlauben“ auf leicht verschiedene Art gebrauchen:

Der Club-Besitz erlaubt nicht, dass angetrunkene Personen hereingelassen werden.
Der Türsteher hat einer angetrunkenen Personen nicht den Zutritt erlaubt.

Wenn wiederum der Zugriff auf eine Datei erlaubt ist, ermöglicht das so manches, aber es kann sich auch um eine leere Erlaubnis handeln, die einem nichts bringt: Man weiß nichts mit der Datei anzufangen. Zwischen Erlauben und Ermöglichen gibt es keine eindeutige Entsprechung. „Möglich“ ist ja bereits sehr stark von den Vorannahmen abhängig, nicht absolut zu sehen (ob es z.B. „möglich“ ist, von soundso viel Euro im Monat zu leben, hängt ganz entscheidend ab, auf welches reale oder nur „mögliche“ Wirtschafts- und Sozialsystem und auf welche Bedürfnisse man sich bezieht). „Ermöglichen“ kann also heißen, dass etwas „nur“, „theoretisch“ möglich wird, was man vorher, gemessen an einem Maßstab, als unmöglich ansah (aber noch nicht wirklich real ist oder nicht ohne weitere Vorbedingungen herbeizuführen – in diesem Sinne „erlaubt“ die Ermöglichung letzten Endes noch nichts). Oder es kann heißen, dass man nun etwas nun ohne weitere Vorbedingungen erreichen kann, wenn man es will (und was real ist, ist logischerweise ohnehin immer auch möglich: Ab esse ad posse valet). Erlauben kann umgekehrt hinreichend sein fürs „wirkliche“ Ermöglichen, wenn sonst alle Bedingungen erfüllt sind (man kann ermöglichen, indem man erlaubt; etwas kann auch erlauben, indem man ermöglicht, aber nicht notwendig). Man kann also mangels klarer Abgrenzung nicht sagen, Dinge ermöglichten „eher“ als Personen, oder ermöglichen „nur“, während Personen auch erlaubten, wenn man „erlauben“ auch anders benutzt, mal im Sinne von „ermöglichen“, aber nicht deckungsgleich.

Aber wie erlaubt „man“ (ein Ding, ein Mensch) denn so, und wann kann man „eine Erlaubnis erteilen“ einsetzen? „Man“ erlaubt: großzügigerweise, nach einigem Überreden, durch Einbau eines Zusatzmoduls, usw.

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Man ist einerseits versucht, bestimmte Redeweisen als „nur“ eine Redeweise zurückzuweisen (Dinge, die so handeln wie Menschen), andererseits können gleiche Redeweisen darauf hinweisen, dass verschiedene Dinge in einer bestimmten Weise vergleichbar sind. Das sind drei verschiedene Soziologien: Erstens eine metaphysische Polizei, welche die Bevölkerung zur eigenen Sicherheit darüber aufklärt, dass es bestimmte Dinge nach Meinung der Sicherheitsexperten nicht gibt und es gefährlich ist daran zu glauben, z.B. böse Geister, Wunderheilungen, Computer mit einem Eigenleben, und welche dann aufklärt, wie es zu diesem Irrglauben kommen konnte. Zweitens eine botanische Soziologie, welche durch entlegene Landstriche wandelt und alle kuriosen Wesen einsammelt, welche sich so darbieten, die skurrilsten Redeweisen, die kuriosesten Figuren, welche die Gedankenwelten bevölkern, eben die genannten Geister, beseelten Maschinen usw. Schließlich eine Soziologie, die Sprach- und Situationswitze liebt, weil sie scheinbar unpassende Beschreibungen liefert oder Dinge vermeintlich falsch einordnet, Kategorienfehler begeht, worauf ja viele Witze beruhen, die so aber überraschende Betrachtungsweisen, Vergleiche und Beschreibungen liefert: Man kann x auch als y sehen oder beschreiben (Dinge tun dann etwas, was sie eigentlich nicht tun, aber es leuchtet ein, dass ihr Tun so ähnlich ist wie das von Menschen: Der Poller „verbietet“ das Parken so ähnlich wie eine gerade vor Ort verbindliche Polizistin oder ein Schild, ja sogar effektiver, aber eben doch anders). Diese Soziologien schließen sich ja offensichtlich nicht aus: Man kann fremde Vorstellungen sammeln und eigene hegen, vorhandene Beschreibungen analysieren, erklären und/oder kritisieren oder neue schaffen.

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Selbst das inhaltsleere, von manchen als Unwort verschrieene „machen“ differenziert sehr fein nach Personen, Dingen und Teilen von Personen, und welche Dinge sie machen und welche nicht. Vergleiche etwa:

Die Flöte macht so ein Geräusch (z.B. wenn man falsch reinbläst, wenn man sie fallenlässt).
Die Lüftung macht so ein Geräusch.
Er macht so ein Geräusch mit dem Mund.

(In welchen Fällen würde man wohl sagen: „Sein Mund macht so ein Geräusch“?).

Der DVD-Player macht nicht, was ich will.
Die Pfanne macht eine gute Kruste, wenn man etwas darin anbrät.
Die Pfanne macht gerade ein Fischcurry.

Selbst „machen“ kann zwei Bedeutungen haben, die einer grundsätzlichen Möglichkeit (siehe bereits den vorletzten Satz) oder einer aktuellen Tätigkeit. Auf die Aussage, dass eine bestimmte Droge abhängig macht, kann man z.B. spitzfindig antworten: Nicht, wenn man sie nicht einnimmt. Das kann man wiederum zurückweisen mit dem Hinweis, dass die Droge eben so sei, dass sie abhängig mache, das sei ihre Eigenart, die sich zwar an jedem Fall neu erweise, aber unabhängig davon sei, dass es gerade jemand „ausprobiert“ (oder wie auch immer man die Aktivität einer Person und einer Droge beschreiben will, welche dazu führt, dass die Person abhängig wird).

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Manchmal wird scheinbar auch das Produkt aktiv, erschafft sich selbst:

Ein trüber Film hat sich auf den Gläsern abgesetzt.
In den letzten Tagen ist eine Inversionswetterlage entstanden.
Das Kunstwerk entstand 1723.
Der Text schreibt sich (wie) von selbst.

Dieses „wie“ verweist darauf, dass wir manchmal keine Probleme damit haben, Formulierungen zu verwenden, welche eine Erschaffung aus dem Nichts andeuten, manchmal aber skeptisch sind. Eigentlich bei näherem Nachdenken meist: Die Ablagerung ist ja irgendwo hergekommen. Das herauszufinden ist ja oft gerade der Zweck des Geredes. Mal kann man aus Redeweisen etwas über die ontologischen Überzeugungen der Sprechenden herausfinden (es gibt Inversionswetterlagen, oder zumindest Dinge, die man mit diesem Wort grob zusammenfasst), mal sind es eben nur Redeweisen unter anderen (das Kunstwerk „entstand“ z.B., weil man schon so oft vom Künstler geredet hat, dass man seinen Namen nicht wiederholen will, oder man kennt ihn umgekehrt gar nicht).

Das „sich“ ist aber vielfach nur noch ein schwacher Abglanz einer wirklich selbstbezogenen Aktivität. Man wäscht sich die Hände, der Backofen reinigt sich selbst. Aber: Die Blätter verfärben sich im Herbst. Und eben: Ein trüber Film setzt sich ab. Hier geht es darum, dass Dinge in einem Zustand verharren oder ihn ändern (oft ohne dass eine besondere Aufmerksamkeit auf äußeren Einflüssen liegt, oder man findet diese insgesamt unbedeutend. Jedenfalls sind es die betreffenden Dinge „selbst“ – aber welche sonst? –, manchmal „von selbst“). Ersetzt man die wirklich reflexiven Formulierungen, taucht tendenziell immer noch ein Verweis auf den Akteur auf: Man wäscht seine Hände. Bei den praktisch bedeutungsneutral verwendeten reflexiven Sprachformen lässt sich dieser Verweis eher eliminieren: Die Blätter werden braun, nehmen eine rote Farbe an, wechseln die Farbe, usw. Man kann von der reflexiven Formen sogar in eine passive wechseln: Sie zersetzen sich oder werden zersetzt. Aber nicht: Ich werde von mir gewaschen.

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Was wiederum eine Person macht:

Sie schneidet das Gemüse.
Sie schneidet es mit einem Messer.
Sie schneidet es mit der Hand.

Aber nicht mit dem Kopf, dem Herzen, der Lunge, die beim Schneiden mit dem Messer ebenso unabdingbar sind wie die Hand – das mag aber darauf hindeuten, dass der Ausdruck „mit der Hand“ ähnlich funktioniert wie „mit dem Messer“, nämlich dass es nicht um beliebige Voraussetzungen geht, sondern um verschiedene Varianten derselben Tätigkeit (mit der Hand, dem Messer, einer Maschine usw.). Ähnlich, aber auf ganz anderer Ebene: „mit voller Konzentration“, oder eben nicht – auch hier sind verschiedene Varianten denkbar. „Kopflos“ geht vielleicht auch, aber ohne Kopf kann eine Person nach Stand der Erkenntnis nicht schneiden.

Wir wissen, dass ein Messer Gemüse schneidet, aber dass eine Hand kein Gemüse schneidet – wie aber dann eine Person? Entweder schließt 1. die Person das Messer und die Hand ein, so dass alles zusammen das Gemüse schneidet (das wäre aber seltsam), oder 2. Hand und Person sind verschiedene Dinge (auch seltsam), oder 3. „schneiden“ bedeutet Verschiedenes, was einmal auf „die Person“ zutrifft (was bedeutet das aber?), einmal auf ein Messer, aber nicht auf eine Hand. Also kann „schneiden“ 1. einen Gesamtkomplex- und Prozess bezeichnen, welcher z.B. durch Körper plus Messer plus Schneidbrett plus Personalität plus… (und noch auf verschiedene andere Arten) sich manifestieren kann, oder 2. einen besonders zentralen Ausschnitt daraus, nämlich das Sicht-Auftrennen des Schneidguts am Messer. Weniger emblematische Ausschnitte des Ganzen werden seltener so bezeichnet (man schneidet mit der Hand, aber die Hand schneidet nicht), aber ferner auch analoge Vorgänge, welche durch Maschinen ausgeführt werden.

Hände tun überhaupt recht besondere Dinge. Sie spülen in der Regel nicht Geschirr oder fahren Auto, schreiben keine Texte. Sie zittern, und selten tun sie Dinge, zu denen Adverbien wie „gefühlvoll“ passen. Z.B.: A.s Hand strich B. durchs Haar, oder: Eine Hand kam durch den Türspalt und tastete nach dem Lichtschalter. (Wo findet man wohl solche Beschreibungen und welchen Zwecken dienen sie?)

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Man sagt, Werkzeuge seien Verlängerungen oder Verstärkungen von Körperteilen. Ein Stock kann durchaus eine Art verlängerter Arm plus Hand plus Finger sein (meine Oma benutzt gerne einen Stock, um das sonst nur mühevoll erreichbare Radio ein- und auszuschalten). Wovon ist aber ein Schraubendreher eine Verlängerung? Was am Körper vollbringt nur annähernd dasselbe? Wie sehr Technik mit menschlichem Handeln vergleichbar ist, hat auch nicht unbedingt etwas mit der Komplexität oder Neuheit der Technik zu tun. Man vergleiche in dieser Hinsicht Roboter, Raketen, Computer, Atombomben, Glühbirnen, Feuerzeuge, Surfbretter, Hämmer, Pinsel, Notizzettel.

* * *

Wir haben uns womöglich in der Soziologie zu sehr darauf konzentriert, nur zwischen unbewusstem, sinnfreiem, unwillkürlichem etc. Verhalten und bewusster, geplanter, sinnhafter etc. Handlung von Menschen zu unterscheiden, und zu wenig die Fülle der Geschehnisse beachtet, die insgesamt rund um, durch, mit Hilfe von etc. Menschen und Dingen passieren. Wenn Bruno Latour das Verdienst zukommt, auf das „Handeln“ oder das Handeln (ohne Anführungszeichen) von Dingen hingewiesen zu haben, dann um den Preis sprachanalytischer Naivität, die er womöglich seinen beschriebenen Akteuren unterstellt: Die Leute glauben teilweise in der Tat, dass die Jungfrau Maria dieses oder jenes tut oder geschehen lässt, aber nicht unbedingt, dass ein Auto in derselben Weise etwas „erlaubt“ wie Vorgesetzte oder Eltern, und so für viele andere Fälle, wo die Bezeichnungen für Geschehen und Geschehenlassen bzw. Geschehenmachen gleich klingen, wenn Menschen oder Dinge daran beteiligt sind. Herauszufinden wäre, wie Leute das bei Computern, Primaten oder Spermien sehen.

Es gibt die Furcht vor der Mensch-Maschine, dass entweder der Mensch nur eine Maschine sei (de La Mettrie schrieb vom homme machine), dass er zur Maschine gemacht werde oder dass eine Maschine werden könne wie ein Mensch (oder zumindest der Mensch sogar durch eine recht menschenunähnliche Maschine ersetzt werden könne). Aber wir vergessen darüber den Wunsch, Dinge so zu tun wie Maschinen: sich bestimmte Dinge unfehlbar zu merken, im Sport präziser oder unermüdlich sich zu bewegen (aber der Reiz wäre sofort weg, gelänge das perfekt), „gestählt“ zu sein gegen Krankheiten und Gebrechen.

Wir stellen uns Maschinen vielfach als einen Ersatz für menschliche Arbeitskraft vor, was ja seit Jahrhunderten diskutiert wird, und das nicht zu unrecht. Aber Maschinen sind nicht nur Arbeitsmaschinen, sondern auch Wunschmaschinen: Sie vollbringen Dinge, die man ohne sie nicht könnte, erfüllen unerfüllbare Wünsche oder bewirken etwas, von dem man noch gar nicht ahnte, dass es einem gefallen könnte. Ein paar bewusst harmlose Beispiele – vergleiche:

Diese Kaffeemaschine macht einen so guten Kaffee wie meine Oma.
(Den die Oma ohne oder mit einer viel einfacheren Maschine macht.)
Diese Maschine macht einen traumhaften Kaffee, den bekäme man anders gar nicht hin.
Diese Maschine macht einen so guten Kaffee – ich wusste gar nicht, dass mir Kaffee so gut schmecken kann.

Aber viele Vorstellungswelten bestehen aus mehr als aus Menschen und Maschinen (bzw. eigentlich: Mensch und Natur). In der Tat eine schwierige und womöglich – zumindest für manche Zwecke – unsinnige Unterscheidung. Bzw. eine übermäßig verkürzte Formel für schwierige Entscheidungen: Ein Gott kann entweder handeln wie ein Mensch (nur etwas mehr von dieser oder jener Fähigkeit aufweisen), nur eine illusionäres Abziehbild menschlichen Handeln sein, oder umgekehrt der Mensch ein Ebenbild Gottes. Dinge können von einem Geist „bewohnt“ sein gleich dem menschlichen, oder Menschen nur eines der vielen Dinge sein, die von einem Geist „bewohnt“ sind wie eben alle Dinge, oder nichts davon. Hier sind wir wieder bei den oben unterschiedenen Soziologien, also wie man sich zu den Wesen verhält, die andere in der Welt und um die Welt herum sehen.

Und dann noch die Tiere. Man spricht davon, dass manche Leute Tiere vermenschlichen. Man kann entweder darauf antworten, dass wir das alle die ganze Zeit tun (zumindest indem wir von Tiere so reden wie von Menschen), dass das nur so scheint (die Redeweisen also trotz des gleichen Wortlauts nicht dasselbe meinen) oder dass überhaupt erstmal untersucht werden müsse, was wer für menschlich und für tierisch hält oder ob überhaupt alle so unterscheiden (denn man kann es auch anders formulieren – statt „vermenschlichen“: „keinen Unterschied machen“, „ganz andere Grenzen ziehen“ – solche Beschreibungen würden also die Unterscheidung nicht voraussetzen, sondern zum Gegenstand machen).

Der Hund erwartet sein Herrchen.
Der Hund erwartet sein Herrchen in drei Wochen zurück.
(Man kann bezweifeln, dass das ein sinnvoller Satz sei.)
Der Hund tut so, als habe er Schmerzen im Bein.

(Tut er das auf dieselbe Weise wie ein Mensch? Kann man dieselben Adverbien einsetzen wie bei einem entsprechenden Satz über Menschen?)

* * *

Schließlich Darstellungen, bzw. was dargestellte Dinge tun, ja was sie überhaupt sind.

Der Mann auf dem Gemälde trägt einen goldenen Helm.
Das Bild zeigt einen Mann mit goldenem Helm.

(Beide vorstehenden Sätze würde man im Alltag, ja in einer kunsthistorischen Abhandlung als wahr in Betracht ziehen.)
Der goldene Helm glänzt im Kerzenlicht.
Den Helm gibt es wirklich. Er befand sich im Privatbesitz des Malers.
Du musst keine Angst haben, mein Kind, das ist nur ein Bild. Der Mann mit dem Helm tut dir nichts.
Der Maler hat sehr geschickt Glanzlichter auf dem Helm gesetzt.

(Die beiden vorigen Sätze sind eigentlich sehr kuriose Mischungen: Welcher Helm?! Trotzdem würden wir sie akzeptieren, so wie wir auch von einem „gemalten Helm“ reden würden.)

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Man wird nun vielleicht fragen: Wie, kein Fazit? – Nun gut, wenn du willst:

Aus dem Vorstehenden ergibt sich…
Das Vorstehende führt uns zur Schlussfolgerung…
Ich ziehe aus dem Vorstehenden den Schluss…
Mein Bildschirm zeigt folgenden Schlussabsatz an…
Ich wurde von …
[setze eine natürliche Person oder übernatürliche Entität ein] zu folgender Schlussfolgerung inspiriert…

Ökonomie der Monogamie (2)

Nachdem wir ein wenig die im weitesten Sinne ökonomischen Überlegungen rund um Monogamie und Polygamie erörtert haben, interessiert uns vielleicht die Statistik: Wie häufig sind diese Formen nun im Vergleich der Kulturen? Wir werfen also einen Blick in die Daten und sind überrascht: George P. Murdock und Douglas R. White haben eine Stichprobe von Kulturen initiiert, für die standardisiert Merkmale erhoben werden (hinsichtlich der herrschenden Wirtschaftsformen, Familienstrukturen, Ritualen, Erziehungsweisen, Umgangsweise mit Konflikten usw.). Die Kulturen sind so gewählt, dass sie möglichst voneinander, durch westliche Christianisierung, Modernisierung usw. unbeeinflusst und gut dokumentiert sind (die 186 Kulturen betreffen überwiegend Stammeskulturen, aber auch einige moderne und historische Fälle). In diesem Standard Cross-Cultural Sample (SCCS, vgl. das Codebuch; zu den hier interessierenden Variablen näher diese Darstellung) herrscht in nur 16% der Gesellschaften echte Monogamie (unter 1% lebt polyandrisch), 7% leben in monogamen Kernfamilien und 5% siedeln neolokal. Es ist klar, dass diese Stichprobe nicht primär dem Zweck dienen kann, Anteile bestimmter Formen zu untersuchen, sondern Zusammenhänge herzustellen, weil sie zwar möglichst vielfältig und umfangreich, aber nicht im strengen Sinne repräsentativ sein kann. Trotzdem mögen die Häufigkeiten zum Ausdruck bringen, was einigermaßen gängig und selten ist.

Man darf aber auch nie vergessen, dass für die kleine Minderheit an Gesellschaften mit außergewöhnlichen Strukturen (Polyandrie, Besuchsehe usw.) diese die natürlichste (oder übernatürlichste) Sache der Welt sind. Das ist genau ihre Art zu leben (eben ihre Welt), umso mehr als diese mit anderen Gegebenheiten meist gut zusammenpassen (in der Vorstellungswelt und funktional gesehen), insbesondere den Bedingungen des Wirtschaftens, vor allem unter den geografischen Bedingungen und abhängig von benachbarten Gruppen, mit denen man sich friedlich austauscht, im Konflikt liegt oder sich ignoriert. Aber die Lebensweise ist eben auch diejenige, die einem überliefert oder oktroyiert wurde oder die bei Migration in neue Umwelten erhalten blieb. Das heißt also: Verschiedene Aspekte einer Kultur müssen zwar einigermaßen zusammenpassen (Matrilokalität und Polgynie passen schwer zusammen) und das Überleben sichern, aber eine einmal erworbene Kultur hat ein Eigengewicht und kulturelle Überlieferung oder Überformung überbringen ganze „Pakete“ kultureller Elemente, von denen nicht alle Teile funktional sein müssen.

So zeigen einige Auswertungen des SCCS und anderer Daten, dass Monogamie in der Tat kulturell zwischen benachbarten und sprachlich verwandten Gesellschaften übermittelt sein könnte, aber auch häufiger ist bei komplexerer Arbeitsteilung, gleicherer Ressourcenverteilung und günstigen natürlichen Bedingungen (anderer Studien aber auch: bei weniger Ackerland, aber großen Beitrag der Frauen zur Versorgung), seltener dagegen bei hohen Krankheitsrisiken und hohem Gewaltpotenzial. Freilich muss man zugestehen, dass die Forschungslage schwierig ist, da viele Einflussfaktoren auf die Eheformen untereinander zusammenhängen und es kompliziert ist, ihren jeweiligen Einfluss klar von demjenigen anderer zu trennen. Außerdem verwenden die Studien unterschiedliche Datengrundlagen und Auswertungsverfahren. Jedenfalls darf man schlussfolgern, dass Monogamie oder Polygamie nicht einfach in allen Fällen biologisch vorteilhaft sind, sondern damit zusammenhängen dürften, wie man je nach Umgebung, abhängig von Krankheiten, Nahrungsangebot, Kriegsführung usw., überleben kann und wie verschiedene Regeln des Zusammenlebens untereinander verknüpft sind und überliefert wurden.

Vereinfachung der Beziehungsstrukturen führt dazu, dass wiederum komplexe soziale Strukturen aufgebaut werden können (Vereinfachung heißt aber nie vollständig schematische Betrachtungs- und Handlungsweisen, sondern auch eine nötige Flexibilität und Kreativität). Wenn alle mit allen können und dürfen, entsteht ein nicht offensichtlich strukturierter Heirats-„Markt“ (der natürlich bestimmte Verteilungen und damit Strukturen hervorbringen kann, also wer mit welcher Wahrscheinlichkeit was abbekommt; das ist aber nicht so offensichtlich wie klare Regeln, die allgemein bekannt sind). Wenn Beziehungen dagegen binär und exklusiv kodiert und auch ansonsten kodifiziert sind, also nach bestimmten Regeln geschlossen werden, kann man auf ihnen komplexe Strukturen aufbauen. Die Wahrnehmungs- und Verarbeitungskapazität geht nicht dafür drauf, komplizierte Einzelbeziehungen zu verstehen, sondern dafür, basierend auf einfachen Beziehungen komplizierte Strukturen zu praktizieren. Verwandtschaftsverhältnisse können dann weite Teile des gesellschaftlichen Lebens regeln, weil man sehr weit damit kommt, relativ klare Unterscheidungen und Regeln wenn nötig vielfach zu kombinieren und durchzudeklinieren. Sind Beziehungen dagegen vielgestaltig und offen, werden sie selbst problematisch und kann man damit auch keinen Staat, keine organisierte Wirtschaft usw. machen, sondern man hat wie heute überwiegend einen gesonderten Staat und eine eigentliche Wirtschaft mit Unternehmen, die nicht mit Verwandtschaftsstrukturen zusammenfallen. Diese neuen Systeme sind komplex, brauchen aber wiederum Vereinfachungen, damit Einzelne damit umgehen können, wie etwa eine Währung und die eindeutige Unterscheidung von Kaufen und nicht Kaufen bzw. Zahlen und nicht Zahlen, oder scharf abgegrenzte Abstimmungssysteme (Partei A oder Partei oder Partei C; für die Maßnahme oder gegen die Maßnahme usw.). Umgekehrt bedeutet deren Existenz gerade, dass die persönliche Beziehung sich darauf konzentrieren kann, Beziehung zu sein und damit kompliziert und vielgestaltig zu werden. So kann sie sich aber gerade auch wieder an die Erfordernisse anderer Bereiche der Gesellschaft anpassen (z.B. an die Erfordernisse der Wirtschaft, mit Fernbeziehungen statt Lokalitätsregeln), ohne darin aufzugehen. Diese Beziehung bzw. die Familie ist dann zunehmen davon befreit, sehr viele verschiedene Funktionen zu erfüllen, also zugleich ein wirtschaftliches Tauschgeschäft bzw. die wirtschaftliche Einheit überhaupt zu sein, ein „politischer“ Pakt zwischen Gruppen, Träger der verschiedensten rituellen Funktionen usw.

Zusammengefasst: Vormoderne, kleinteilig segmentierte Gesellschaft – die Familienstruktur übernimmt vielfältige Funktionen und ist deshalb detailliert geregelt, aber in recht schematischer Weise, selbst wenn das nicht im Detail befolgt wird. Moderne Gesellschaft – die Familienstruktur oder oft auch die reine Zweierbeziehung kann innerlich komplex werden, ist aber tendenziell (!) losgelöst von anderen Funktionen und weniger geregelt, nur sehr abstrakt kodiert (zusammen/nicht zusammen, meist ohne konkrete Vorgabe oder Mitspracherecht anderer bei der Wahl des Partners). Andere Funktionen werden von entsprechenden Gesellschaftsbereichen wie Staat und Wirtschaft übernommen, basierend nicht mehr auf Familienstrukturen, sondern oft anonymen Verhältnissen (Anbeiter und Nachfrager, Wählerinnen und Politikerinnen müssen nicht kennen), was mit der Flexibilität korrespondiert, mit der Personen Partner, Wohnorte usw. wählen und auch wieder verändern können. Personen können sich teils befreit von anderen Funktionen, teils in Anpassung an deren großmaßstäblichen Erfüllung in den genannten Gesellschaftsbereichen zusammentun und lösen.

Die Beziehung wird „privat“ (ihrem idealen Kern nach nicht-ökonomisch, nicht-politisch, selbst wenn sie weiterhin anderen Einflüssen unterliegt) und „romantisch“. Man könnte meinen, diese relative Eigenständigkeit spräche für eine Abkehr von starren Prinzip der Monogamie. Das hat sich aber nur zum Teil bewahrheitet.

Romantik ist Verschwendung ökonomischer Ressourcen, indem man gerade bekundet, dass es auf diese nicht ankommt und sie deshalb scheinbar ohne Sinne und Verstand (natürlich in Wirklichkeit trotzdem wohldosiert) herauswirft. Verschwendung nicht nur des Geldes (das nicht alle gleichermaßen haben), sondern auch der Zeit. Zeit fürs Reden, Zeit für das Lesen von Romanen (sowie Zeit und Mittel für das Lesenlernen), denn Romantik kommt aus den Romanen, wenn diese alte These gestattet ist, oder ihren heutigen Nachfolgern. Diese aufwändige Beschäftigung mit Romantik hat Folgen: Die Kompliziertheit der jeweils anderen Person und der Beziehung, der Glaube an die Vollendung des Menschen in der Liebe, die Widerspiegelung im anderen, die Unerschöpflichkeit des Wesens der anderen usw,, insgesamt die gesteigerte Intensität und Komplexität der Partnerschaft sowie die Forderung nach einer idealtypischen Einheit der Liebe („geistige“ Beziehung, Sexualität. Alltag etc.) machen sie jetzt zu einem seltenen Gut. So verbieten sich allzu viele vollgültige Beziehungen gleichzeitig. Ja viele hängen eben der Überzeugung an, man könne nur eine haben (gar nur die eine wahre im Leben), weil die beschriebene Intensität und Komplexität unteilbar seien. Sofern man sich natürlich dieser historisch erst gewachsenen, eben „romantischen“ Vorstellung nicht verweigert.

Auch diese Form der Beziehung und ihre Verweigerung (schon das ein Dualismus, in den die Gesellschaft das Verhalten tendenziell zwingt: Entweder es ist eine Beziehung oder ein Seitensprung, eine klassische geschlossene oder eine offene Beziehung) führen zu ökonomischen Problemen, die nach einigermaßen überschaubaren und handhabbaren Regelungen zu verlangen scheinen (so zumindest die sozial vorherrschende Auffassung).

Erstens will man auf die Regelung ökonomischer Angelegenheiten in Paarbeziehungen nicht verzichten, heute etwa durch den Staat und mittels Verträgen beim Notar. „Es ist kompliziert“, ließe sich als Beziehungsstatus schlecht steuerrechtlich fassen. Verträge unter mehr als zwei Personen zur gemeinsamen und getrennten Verfügung über Güter lassen sich durchaus denken, werden aber in eine andere Kategorie eingeordnet als der Ehevertrag. So viele andere Beziehungen man haben mag, es bleiben doch Schematisierungen, oft in komplexitätsreduzierender Weise auf das exklusive Verhältnis zweier Personen reduziert,

Man versucht die Probleme heutiger komplexerer Beziehungsgestaltung zweitens mit Rekurs auf biologische Fakten zu beheben. Nehmen wir etwa an, eine Frau A. ist promisk eingestellt oder teilt ihre ernsthafte Liebe zwischen zwei Männern auf, sagen wir dem finanz- und zeugungskräftigen B. und dem arbeits- und mittellosen aber ebenso fruchtbaren C. Wenn sie nun innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums mit beiden Geschlechtsverkehr hat und schwanger daraus hervorgeht, so ist es eine reine Lotterie, wer von den beiden Herren der biologische Vater ist. Wenn insbesondere keiner von beiden sich genötigt fühlt, die so genannte soziale Vaterschaft zu übernehmen, und weil man aus ihrer Sicht nicht unbedingt Geld verschenkt, stellt Frau A. die Vaterschaft fest und lässt den Erzeuger Unterhalt zahlen. So ergibt sich quasi per Zufall, wer von beiden hierzu verpflichtet wird und in welcher Höhe die Restfamilie mit einem Zusatzeinkommen rechnen kann. Man kann die Lotterie der Vaterschaft und Zahlungsverpflichtung für gerecht halten (während es kurios ist, dass die Höhe der Unterstützung von Kindern davon abhängt – aber sonst ist es ja auch so, dass man qua Geburt einer mehr oder weniger begüterten Familie zugelost wird): Zuteilung unteilbarer Verpflichtungen per Los ist ein altes Verfahren, das Gleichheit verbürgen soll. Man wird auch eingestehen, dass der Nachweis des unzureichend geschützten Geschlechtsverkehrs mit dem Mann, der nicht der biologische Vater ist, schwer zu führen sein wird. Trotzdem schwebt über diesem Fall die biologische Elternschaft wie ein Gottesurteil. Wenn sie in anderen Fällen der Eitelkeit schmeichelt und als eine Art Verdienst an der natürlichen Ordnung erworben wird, so ist sie hier Verpflichtung wider Willen aufgrund höherer Fügung. Sie ist ein unsichtbares Band zwischen Elternteil und Kind, welches als das allerrealste gilt (ganz im Gegensatz zu den „weichen“ Beziehungen, welche „nur“ sozial, freiwillig usw. sind). Man kann die biologische Elternschaft als Notbehelf rechtfertigen, um eine Versorgung von Kindern sicherzustellen, welche Alleinerziehende oder Patchwork-Familien nicht leisten können. Sie wäre ein Ausgleich für die Tendenz, die Fürsorge für Kinder überwiegend den Frauen zuzuschieben und möglicherweise zur Zeugung führenden Geschlechtsverkehr aus Männersicht zu banalisieren, so als sei es nicht ihr Problem, wenn dabei eine schwanger wird (man kann natürlich auch die umgekehrte Tendenz beobachten, dass manche Frauen eben die Aufzucht der Kinder für sich monopolisieren wollen und sich eine alleinige Kompetenz darin zubilligen – die Polemiken dazu füllen das Internet und die Leserbriefseiten). Aber dass biologische Elternschaft das unausweichliche, allerhärteste und aufgrund ihrer „Natürlichkeit“ einzig richtige Kriterium sei, die Verhältnisse in niemals entstandenen, bestehenden und aufgelösten Beziehungen und Familien zu regeln, kann als Ausweis eines Biologismus gelten, der statt nach unabhängigen Gerechtigkeitskriterien und Modellen des guten Lebens und Zusammenlebens zu suchen, zufällige Fakten der Natur zum selbstverständlichen Gesetz erheben will. Insbesondere da ja andere Zeiten und Kulturen eben dieses Kriterium nicht nutzen konnten, aber darüber nicht verdrießlich wurden, sondern andere entwickelten, die sie wiederum für die natürlichste Sache der Welt hielten.

Biologismus ist nicht die Rückkehr zur Natur, sie ist die Wiederkehr der Natur auf einer anderen Ebene: Eine Vorstellung von Natur wird zur sozialen Norm oder zur Erklärung von Verhalten, weil sie offensichtlich nicht so selbstverständlich ist, wie die Natur selbst eigentlich ist (die Natur braucht keine Normen, um das „Natürliche“ herzustellen, sie ist schon natürlich). Dass man sich den Kopf über Monogamie zerbrechen kann, zeigt also, dass uns weder von der Natur, noch von der Kultur klare Anweisungen und Begründungen mitgegeben sind, sondern sie eine vieldeutige Vereinfachung ist, die wie alle Vereinfachungen mehrere Seiten hat. Eine dieser Vereinfachungen lautet heute eben auch, dass man es „natürlich“ machen solle, was immer das heißt. Die Natur des Menschen ist ja nun einmal die Kultur.

(Nun mögen die Ethnologen und andere wirkliche Auskenner kommen und mir auf die Finger klopfen, weil ich Unsinn geschrieben habe. Aber ich wollte nur eine bestimmte Grundbotschaft vermitteln: Eine verbreitete, allzu vulgäre Soziobiologie denkt immer nur an Sex bzw. projiziert das immer in andere. Freilich muss der Mensch auch überleben, sich in der Welt zurechtfinden, in einigermaßen geordneten Verhältnissen mit anderen leben, wozu man nicht nur mit dem Schwanze und der Gebärmutter denken darf. Sofern nun die populäre Theorie des Paarverhaltens das anerkennt, dass man auch überleben muss, übersieht sie freilich oft weiter, dass das scheinbare Standardmodell der monogamen Kleinfamilie mit dem womöglich zum Seitensprung neigenden Ernährer hierzu nicht unbedingt die beste Lösung ist. Außerdem wollte ich mal gesagt haben, dass bevor man Polygamie und Monogamie diskutieren kann, sich erst einmal darüber wundern muss, dass Beziehungen überhaupt binär kodiert und dann weiter geordnet werden. Es ist also auf den ersten Blick erstaunlich, dass gerade in fragilen Gesellschaften Beziehungen so detailliert geregelt werden anstatt sie einer „natürlichen“ Auswahl zu überlassen. Das klärt sich aber auf, wenn man die Vorteile dieser Formen des Zusammenlebens und ihre Verbindung untereinander und zu anderen Eigenschaften einer Kultur berücksichtigt.)

Zum Weiterlesen:

Einige neuere Studien, auch wenn ich nicht allen Schlussfolgerungen zustimmen würde und die unterschiedlichen verwendeten Daten und Auswertungsverfahren einen Vergleich erschweren:
Ember, Ember & Low (2007). Comparing explanations of polygyny.
Barber (2008). Explaining cross-national differences in polygyny intensity. Resource-defense, sex ratio, and infectious diseases.

Ferner einige Klassiker:

Murdock, Social structure
Lévi-Strauss, Les structures élémentaires de la parenté (Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft)

Zur heutigen Romantik:

Luhmann, Liebe als Passion
Illouz, Der Konsum der Romantik

In meinem Buch gibt es auch ein Kapitel zu heutigen nichtehelichen „festen“ Beziehungen („Akte der Paarbildung“).

Ökonomie der Monogamie (1)

Eine simple biologische Analyse des Paarverhaltens scheint zu unterstellen, dass Paare relativ isoliert ihren Nachwuchs aufziehen, weshalb die Frau ein Interesse habe, möglichst lange einen Ernährer oder Unterstützer oder eine emotionale Stütze oder was immer zu haben, der Mann aber das Interesse habe, seinen Samen möglichst weit zu verteilen oder eben auch seinen Nachwuchs zu beschützen und dessen Wohlergehen und Status zu sichern, damit die Gene… (und wie solche Erklärungen eben so gehen). Das widerspricht schon den Gegebenheiten in der Mehrheit der nichtindustriellen Gesellschaften. Man muss hier auf der Ebene des Familienverbandes rechnen, und dann gehen ganz andere Größen ein. Die genetische Nähe nimmt mit der Größe einer Gruppe Verwandter schnell ab, die wechselseitige soziale Abhängigkeit tritt in den Vordergrund, und insbesondere die Ökonomie. Die spricht für eine Regelung von Beziehungen, aber nicht zwingend für Monogamie, wie wir analysieren werden. Erst in einem zweiten Teil werden wie sehen, warum diese für uns heute plausibel sein kann.

Bevor man sich einer (scheinbar) konkreten Gegenüberstellung von Mono- und Polygamie widmen kann, muss man erstmal grundsätzlicher zur Kenntnis nehmen, dass es überhaupt eindeutig Kodierungen von Beziehungen gibt. Es ist ja nicht selbstverständlich, dass diese nach dem Entweder-Oder-Prinzip organisiert sind (selbst heutige westliche nichteheliche Beziehungen neigen dazu), sondern viele Übergänge wären denkbar. Und erst wenn es ein solches Prinzip gibt statt offener Beziehungen und feiner Abstufungen im Verhältnis zueinander, kann man Monogamie und Polygamie einigermaßen klar unterscheiden. Beides, die Frage nach der binären Kodierung und dieser Unterscheidung, soll uns als im weitesten Sinne ökonomisches Problem interessieren.

Unter Ökonomie ist natürlich nicht das zu fassen, was man gemeinhin darunter versteht, also das Wirtschaftssystem, unter dem wir als der kleinste Teil der Gesamtmenschheit seit ihrem Bestehen leben. Vielmehr die Versorgung und auch der symbolische Tausch mit nicht mühelos zu erhaltenden Gütern, sofern dies über den Augenblick und die instinktive Bevorratung hinausgeht, über die unmittelbare Versorgung seiner selbst und eventuell noch des Nachwuchses, sondern sofern man in gesellschaftstypischer Weise haushaltet und mit anderen Güter austauscht. Dabei muss nicht „ökonomisch“ gedacht werden in der Weise, die wir für typisch halten, sondern der subjektive Zweck kann auch rituell, magisch, religiös, moralisch usw. sein, die Güter eher symbolischer Art als über ihren reinen Nutzwert, z.B. als Nahrung oder Baumaterial, definiert.

Vormoderne Gesellschaften, selbst noch die ländlichen Gebiete vergangener Jahrhunderte, sind letztlich kleinteilig segmentiert: Diejenigen Personen, die eine enger verbundene Gruppen bilden, die also wirklich häufiger Kontakt haben und sich gegenseitig wesentliche Ressourcen zukommen lassen, umfassen wenige Dutzend bis wenige hundert Personen (spätere Zeiten kennen ja Segmentierungen ganz anderer Größenordnung, in denen man aber nicht in derselben Weise aufgehen kann, wie etwa das Großunternehmen oder den Nationalstaat). Solche Gruppen sind unter vielen Umweltbedingungen zerbrechlich und brauchen ein hohes Maß an ökonomischer Sicherheit und gefestigter Beziehungen zwischen den sie bildenden Familienverbänden. Deshalb gibt es zumeist Regeln über das Zusammenwohnen: Junge Paare leben entweder beim Vater des Mannes oder bei der Mutter der Frau (oder alle bei sich, was dann auf Besuchsehen hinausläuft, in welcher Paare nicht denselben Haushalten angehören, sondern statt des andernorts lebenden Elternteils andere Verwandte eine stärkere Rolle in der Erziehung und Versorgung von Kindern einnehmen). Die Regelung der Wohnstätte geht oft mit der Auffassung einher, was eigentlich eine Familie sei – nämlich oft nicht ein Paar mit Kindern, sondern eine männliche oder weibliche Linie (Patri- oder Matrilinearität) mit den angeheirateten Partnern und den unverheirateten Nachkommen, aber nicht mehr die verheirateten Nachkommen des je anderen Geschlechts, die einer neuen Familie zugehören. Neolokalität, d.h. die Wahl eines neuen Wohnsitzes für Paare, zersplittert die Haushalte, führt zu vermeidbaren Aufwendungen und ist deshalb nur unter bestimmten Bedingungen sinnvoll. Wegziehende Familienmitglieder sind aber unabhängig von der Lokalitätsregelung ein Verlust für den ursprünglichen Haushalt, der sich nicht so leicht anpassen kann: Zu bearbeitende Flächen, zu versehende Funktionen in der Gemeinschaft sind nicht kurzfristig anzupassen, verbleibende Alte, Kranke, unverheiratete Familienmitglieder und Kinder sind zu versorgen, aber plötzlich alles mit weniger Personen. Deshalb kennen viele Kulturen Mitgifte und Halbehen: Zieht das Paar zur Wohnstätte einer männlichen oder weiblichen Familienlinie, so wird diejenige Linie dafür entschädigt, die eine Person verliert, entweder durch Güter oder Arbeitsleistungen, oder indem der Auszug verzögert wird, bis der Verlust „abgearbeitet“ ist (erst dann ist die Ehe voll gültig, während man vorher noch der alten Familie angehört). Auflösungen von Paarbeziehungen wären wiederum mit dem Verlust einer Person verbunden – ob das betreffende Paar nun bereits Kinder hat oder nicht – und müssen deswegen ebenfalls reguliert werden (nicht notwendig verboten, aber formalisiert). Gänzlich ungeregelte Beziehungen zu verschiedenen Partnern würde dagegen bedeuten, dass Zugehörigkeiten und damit auch Leistungen unklar werden. Das heißt aber nicht, dass neben einer offiziellen Partnerschaft nicht noch weitere Beziehungen oder spontane Kontakte bestehen können, sofern die Versorgung aller Beteiligten und des Nachwuchses sichergestellt ist (Vaterschaft ist ja ohne bestimmte Technologien nicht sicher nachzuweisen; es braucht also ohnehin eine offizielle Regelung, welche mit biologischer Abstammung nichts zu tun haben muss, aber die Versorgung und Erziehung sicherstellt).

Eindeutigkeit, Vereinfachung ist in diesen relativ fragilen ökonomischen Strukturen also recht notwendig. Zumindest sollte der Beziehungsstatus binarisiert werden, in ein einfaches Zweierschema: Ehe oder nicht, und eventuell: erlaubter und unerlaubter Geschlechtsverkehr mit anderen, so dass für alle wichtigen Aspekte eindeutige Regelungen bestehen und Personen nicht ökonomisch und hinsichtlich ihrer Zugehörigkeit „in der Luft hängen“.

Polygamie ist nun möglich bei ausreichender Ressourcenversorgung – sie bleibt aber in vielen Gesellschaften ein Phänomen statushoher Männer (Polyandrie ist viel seltener als Polygynie). Man muss es sich leisten können, aufgrund der ökonomischen oder einer Machtposition – oder es braucht umgekehrt Bedingungen, unter denen größere Haushalte vorteilhafter sind. Das heißt nicht einfach nur: mehr Besitz und mehr Ressourcen eines Mannes, denn viele Kulturen kennen eine starke Umverteilung bzw. Vergemeinschaften von Gütern. Zum Beispiel könnte die Zuteilung, etwa von gejagtem Wild, automatisch mit der Familiengröße anwachsen, so dass Polyganie kompensiert wird. In nicht wenigen Kulturen tragen Frauen die Hauptarbeit der Ernährung, so dass ein Zahlenverhältnis von vielen Frauen zu wenigen Männern für einen Haushalt günstig ist. Unter anderen Bedingungen ist der umgekehrte Fall günstiger und Polygamie sozusagen Luxus oder eben verboten. Man darf sich hier Ökonomie nicht einfach als individuelles Wirtschaften und Besitzen vorstellen, sondern muss die genauen Regelungen beachten, wer was behält und weitergibt, die Unterscheidung zwischen privaten und Allgemeingütern und welchen symbolischen Status das aber wiederum bringt, wenn man in all dem eine bestimmte Rolle einnimmt. Zusammenfassend, und weitere Gründe:

„Monogamy is therefore more likely where male resources consist of rivalrous private goods, such as food; where variation across males in resource endowments is low; where there exist few institutions treating food or productive resources as common goods; and where there is little demand for male-provided non-rivalrous public goods, such as defense.“

Und:

„There are a number of ways in which a larger household would increase fitness. First, an additional female allows increased within-household specialization, so that efficiency and diversification increase, improving access to food, an advantage where there is high extrinsic risk due to famine. Second, in environments with high extrinsic risk due to violence, a larger household will be more able to defend itself from others. Third, where the additional female is unrelated to the original female, the network of kin relations linking the household to the surrounding society expands, so that resources during periods of famine and allies during periods of strife are more easily obtained.“

(Dow & Eff, 2010: When on wife is not enough)

Und selbst wenn der im engeren Sinne ökonomische und demografische Druck begrenzt ist, bleibt noch die kognitive und moralische Ökonomie: Eindeutigkeit, die Orientierung schafft und Frieden stiftet. Dass die konkreten Strukturen der Verwandtschaft und Beziehungen (Heirat, Zusammenleben, Geschlechtsverkehr usw.) mit der gedanklichen Vorstellungswelt zusammenhängen und dass dies dem Prinzip der Sparsamkeit folgt, hat George P. Murdock aufgezeigt (in „Social structure“, 1949). Es gibt eine riesige Zahl an möglichen Verwandtschaftsbeziehungen, wenn man alle erdenklichen Differenzierungskriterien anwendet: Gehört die benannte Person zur gleichen, nächstälteren, übernächsten, jüngeren Generation usw., ist sie männlich oder weiblich, mit dem Vater oder Mutter verwandt, über Brüder oder Schwestern eines Elternteils, angeheiratet oder nicht, jünger oder älter an Jahren, noch lebend oder gestorben, geschieden, wiederverheiratet, verwitwet, Erst- der Zweitfrau oder -mann, usw. Alle Kombinationen gehen in die Hunderte wenn nicht Tausende. Man kann unmöglich für alle eine gesonderte Bezeichnung haben und selbst zusammengesetzte werden irgendwann unpraktisch. Murdock hat nun gezeigt, dass bevorzugt jene Verwandtschaftsbeziehungen gesondert bezeichnet und damit von anderen unterschieden werden, für welche es besonders geregelte Beziehungen gibt. Personen etwa, für die das Inzestverbot gilt, werden eher zu einer Kategorie zusammengefasst und häufiger von denjenigen unterschieden, für die es nicht gilt. Das Inzestverbot hält sich kulturübergreifend nämlich kaum an den biologischen Verwandtschaftsgrad, sondern bevorzugte Partner in der einen Kultur können in der anderen absolut tabu sein. Damit eine Kultur Ordnung in diese Dinge bringen kann, wer mit wem (Geschlechtsverkehr hat, die Ehe eingeht, zusammenlebt, gemeinsam wirtschaftet), braucht eine überschaubare, handhabbare Menge an Kategorien und Bezeichnungen. Die Form der Vereinfachung variiert aber eben erheblich.

Es geht bei diesen Heiratsregelungen aber nicht um Ressourcen im Familienverband, sondern auch um die Regelung von dessen Verhältnis mit anderen, als um die materielle und moralische Ökonomie im Austausch mit weiteren Familien. Dafür wird die Beziehungsgestaltung weiter schematisiert. Nicht nur welche Beziehungstypen es gibt, sondern es wird auch vorgeschrieben oder zumindest nahegelegt, mit wem. So gebieten viele Völker die Heirat eines Mannes mit der Tochter der Schwester des Vaters oder des Bruders der Mutter (die Kreuzkusinenheirat). Das erscheint zunächst beliebig, führt aber bei einigermaßen konsequenter Durchführung dazu, dass zwei männliche Linien fortgesetzt Frauen austauschen, denn wenn eine Familie als Reihe der männlichen Vor- und Nachfahren definiert ist, dann gehört eine verheiratete Schwester des Vaters zu einer anderen männlichen Linie und ihre Tochter wird dieser Linie zugerechnet. Umgekehrt könnte der Sohn der Schwester des Vaters wiederum die Tochter des Vaters heiraten, weil sie die Tochter des Mutterbruders ist. Mit diesem Tausch kann ein hohes Maß an Gegenseitigkeit zwischen zwei Familien hergestellt werden, zumal wenn dabei noch weitere Güter ausgetauscht werden. Selbst im einmaligen Fall gehen zwei Familien einer Verbindung ein, die bei einer Parallelkusinenheirat in patrilinearen Familienformen nicht unbedingt zustande käme (wenn ein Mann die Tochter der Schwester der Mutter heiratet bleibt das Paar bleibt bei Patrilinearität ganz in der Familie – aber auch sein Besitz!). Im modernen System, bei dem man abstammungsmäßig zwei Herkunftsfamilien zugehört, bzw. in einer je neue Familie geboren wird und eine solche gründen kann, herrscht ein verallgemeinerter Tausch, d.h. die Familien geben Söhne und Töchter zwecks Heirat, aber ohne Gegenseitigkeit. Eltern und Schwiegereltern tauschen in der Regel nichts mehr im eigentlichen Sinne aus und können sich recht fremd bleiben, die neue Familie sich von beiden absetzen. So ist die Gesellschaft, zumal ob ihrer Größe, nicht mehr durch Verwandtschaftsbeziehungen zu integrieren und zu befrieden, während es umgekehrt auch nicht mehr nötig oder legitim scheint, Ressourcen durch Heirat innerhalb derselben Linie in Familienhand zu behalten.

Es geht bei dem Aspekt der Ordnung und Befriedung nicht einfach um gemütliches Zusammenleben, sondern kann eine Frage von Krieg und Frieden, von Mord und Totschlag sein. Ressourcen müssen auch für die Verhinderung von Frauenraub und Vergewaltigung, Gattenmord und Fehden eingesetzt werden, Zweit- und Drittfrau (oder die seltenen Zweit- und Drittmänner) können in Streit verfallen, Männer (und je nach Praxis der Kriegsführung auch Frauen) im Krieg zu Tode kommen. Verteidigung muss also ebenfalls als wichtige Ressource gesehen werden, die ja nach der Art der möglichen Konflikte für individuelle Partner oder kollektiv geleistet werden muss und damit unterschiedliche Auswirkungen darauf hat, wie viele Personen man ehelichen kann und will. Außerdem können tödliche Auseinandersetzungen die Geschlechterverhältnisse verschieben und den Druck erhöhen (auch wieder abhängig von der Notwendigkeit, sich versorgt zu sehen!) mehr oder weniger Partner, diese oder jene Partner zu nehmen oder neben sich zu akzeptieren.

(Fortsetzung folgt)

Die Sprache der mehr als tausend Worte

Wir sind in unserem naiven Glauben (und hiervon sind Wissenschaftler nicht ausgeschlossen) hin- und hergerissen zwischen: einerseits Vorstellungen über die Macht der Sprache, ihre Weisheit, eine in ihr abgespeicherte Wahrheit und eine durch sie auszusagende Wahrheit – alles, was sich aussprechen läßt, lässt sich klar aussprechen, und trotzdem ist noch viel mehr gesagt, als klar zutage liegt. Andererseits der Skepsis gegenüber der Sprache, ebenso ein tief verwurzelter Glaube: ihre Begrenztheit, all das Unsagbare, die starren Formen und die engen Grenzen der Sprache. Deshalb der Glaube an bessere „Sprachen“, als da sein sollen: die Musik, das Bild, der körperliche Ausdruck von inneren Regungen. Vorstellungen über künstlerische und andere Darstellungen, über die Ausdruckskraft und Wirkung von Bild, Musik und Geste, sind aber oft mehr konventionelle Redensarten und magische Überzeugungen als selbst erfahrene oder wohlerwogene Erkenntnisse. Magisch heißt: der Glaube an eine Wechselwirkung zwischen einem Mikrokosmos der Symbole (der Bilder und Laute, die mehr sind als tote Formen, als willkürliche Hervorbringungen) und der sonstigen Realität, an eine Wesensverwandtschaft zwischen allen Dingen und Lebewesen, die bewirkt, dass sie miteinander in direkter und geheimnisvoller Beziehung stehen und im Guten wie im Schlechten auf uns einwirken können.

Und zugleich messen wir Bild, Klang und Geste an der Sprache, anstatt sie für sich selbst zu würdigen. Sie sollen bessere Sprachen sein statt für sich zu stehen. Und wenn die Sprache schon so mächtig zu sein scheint, dann noch mehr diese so schwer fassbaren Phänomene (wobei schwer fassbar ja gerade heißt: nicht leicht zu versprachlichen).

Also ein paar Gegenzauber und einiges Zurechtrücken – mittels Sprache.

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Sagt man. Als ich kürzlich mit meiner Oma alte Fotos ansah, da konnten wir auf einigen Porträts nicht mehr identifizieren, wer darauf zu sehen war. Irgendwelche Bekannte von Verwandten, oder entfernte Mitglieder der Familie. Wir hatten namenlose Gesichter vor uns – uns fehlten drei oder vier entscheidende Worte: Das ist… Man mag nun daran glauben, dass man Personen den Charakter an der Nasenspitze ablesen kann (Aber wozu, wenn man nicht weiß, um wen es sich handelt? Außerdem ist das ja auch nur so ein konventioneller Glaube…) oder sich einfach ästhetisch an den Aufnahmen erbauen. Sie machen irgendeinen Eindruck, gewiss, aber „sagen“ sie uns etwas? (Was heißt hier sagen? Man kann natürlich einwenden, unser Verständnis von „sagen“ sei von vornherein zu Gunsten der Sprache verzerrt, so dass sie besonders gut wegkommt.) Vielleicht: So war man damals angezogen. Wir werden alle älter. Das hielt man damals für eine Fotografie wert. Usw. Als ob wir das nicht meist schon gewusst hätten…

Überhaupt die seltsame Verschiebung zwischen Sprache und Bild, selbst wenn wir etwas Wahres über ein Bild zu sagen versuchen (dass man wahre Dinge sagen kann, die man nicht bildhaft darstellen kann, sei geschenkt). Die Oma sagt: Das (auf dem Bild) ist Tante soundso, als sie noch mit Onkel soundso verheiratet war. Oder (über ein Gruppenbild junger Frauen): Hier waren wir an einer Stelle, wo im Krieg ein Flugzeug abgestürzt war. Oder: Das ist der Bruder des Opas, der später im Krieg gefallen ist. Wir würden das alles als richtige Aussagen über die Bilder ansehen. Nur irgendwie sagen uns das die Bilder trotzdem nicht. Sie sagen etwas ganz anderes, oder „sagen“ eigentlich nichts, oder nur, was man mit hilflosen und eigentlich „nichtssagenden“ Worten ausdrückt: Na, das..., So…, Der hier…. Gerade das ermöglicht es aber auch, mittels Bildern die Grenzen der Sprache zu verschieben: Ah, das ist also…, jetzt weiß ich es! Aber begreifen wir Bilder nicht zu sehr nach einem bereits viel zu sehr vereinfachten Schema der Sprache, nämlich als Ausdruck wahrer Aussagen? Sprache ist zur mehr zu gebrauchen als nur festzustellen, wie es ist. Und man denke gleichermaßen an Passbilder, Andachtsbilder, Bühnenbilder, Familienfotos, Katzenbilder im Internet, Zielfotos, Pin-ups usw.

Das alles wissen wir, nur glauben wir irgendwie an eine tiefere Macht und Wahrheit der Bilder in ihrer unendlichen Begrenztheit oder Andersartigkeit (die wir in unserer ererbten Sprachfixierung nicht recht begreifen gelernt haben). Es ist dies der Glaube an die Bildmagie.

Musik ist die Sprache der Gefühle. Sagt man. Nur welcher? Welches Stück drückt, ohne Text und programmatischen Titel, Schadenfreude aus? Wie unterscheidet man Liebeskummer von Melancholie oder Sehnsucht aller anderen erdenklichen Arten? Höchstens mittels des Wissens, dass Liebeskummer als der konventionelle, ja klischeehafte Anlass für einen „traurigen“ musikalischen Gestus gilt, dass man Texte über Liebe dazu singt, entsprechende Titel an die Kompositionen dranschreibt. Überhaupt das „Traurige“ an der Musik. Womöglich gibt es einige universelle Anzeichen, welche Traurigkeit signalisieren, auch in der Musik: Langsame Bewegung, kleine (Ton-)Schritte, seufzende Laute. Jedoch hat nichts an dem Halbtonschritt, der Dur und Moll unterscheidet, eine Ähnlichkeit zu Traurigkeit, obwohl wir dieselbe Melodie in Moll „trauriger“ finden. Man möchte fast sagen: Das nennen wir eine Sprache, nämlich wenn willkürliche Zeichen für bestimmte Sachverhalte stehen, etwa Moll für Traurigkeit.

Umgekehrt mag uns die Sprache über Musik ganz schön verwirren: Wenn Musik die Sprache der Gefühle sei, dann könnte man sagen, sie drücke Gefühle aus. Man könnte aber auch sagen: Sie handelt von Gefühlen (Jede und jeder möge selbst überlegen, wie das sein könnte). Andererseits sagt man aber auch: Sie ist traurig. Traurig sein ist aber an sich wohl kein sprachlicher Akt und braucht nicht notwendig sprachliche Äußerungen. Wie kann überhaupt Musik traurig „sein“, wo sie ja kein Lebewesen ist? Und man sagt: Sie macht traurig. Nicht alles, was traurig macht, tut dies aufgrund sprachlicher Äußerungen. Nicht alles, was traurig macht, ist auch traurig und umgekehrt. Man könnte sogar sagen, sofern es denn zutrifft: Der Komponist X schreibt immer, wenn er traurig ist, fröhliche Stücke. Seine fröhlichen Stücke sind Zeichen oder Anzeichen seiner Traurigkeit, sie drücken aber nicht seine Traurigkeit aus. Oder: Der Komponist war einmal, in einer Lebensphase, tief traurig. Er begann, eine Sinfonie zu komponieren. Es dauerte letztlich zwei Jahre bis zur Fertigstellung. Drückt die Sinfonie nun dieser Traurigkeit aus, ist von ihr inspiriert, handelt sie von ihr, oder von Traurigkeit überhaupt (wenn sie denn überhaupt traurig „ist“ oder „klingt“ – oder muss sie das nicht, zumindest nicht durchgängig? Sie könnte ja so von Traurigkeit handeln, indem sie sagt, dass auf Traurigkeit wieder Fröhlichkeit folgt…)? Überhaupt, was sagt man zu Leuten, die das nicht einsehen, dass man die Sinfonie traurig findet, oder dass sie sie ausdrückt? Wie beweist man ihnen das, oder geht das überhaupt nicht? Durch Tagebucheinträge des Komponisten? Durch Verweis auf bestimmte musikalische Merkmale? Dadurch, dass Hörer typischerweise traurig sind oder werden, wenn sie die Sinfonie hören, oder sie mehrheitlich traurig finden?

Manche Musik ist aber völlig intransparent für uns. Je älter die Musik, je weiter kulturell von uns entfernt, je avantgardistischer, desto verschlossener erscheint sie den Nicht-Eingeweihten. Sie ist verschlossen, ihre Physiognomie ist nicht lesbar, sie „spricht nicht zu uns“.

Trotzdem glauben wir irgendwie an eine universelle Macht der Musik, an eine direkte Verbindung zu den Gefühlen. Es ist dies die Musikreligion (und möchten wir nicht vielleicht glauben, Musik sei nicht nur wohltuend, sondern ein sehr mächtiges Heilmittel für fast alles, sei nicht nur gelegentlich eine Erweckung, sondern adele die Seele und mache uns zu besseren Menschen?).

Tränen lügen nicht. Sagt man. Lügen muss man lernen, bzw. wir reden nur unter bestimmten Bedingungen von „Lügen“, oder auch von „andere täuschen“, was ja im Falle der Tränen der richtigere Ausdruck wäre. Denn da fangen die Probleme ja an: „Lügen“ nennen wir ja nur ein Glaubenmachen mit Worten. Man mag getäuscht werden vom Verhalten eines Säuglings oder Tieres, sie können einen aber nicht absichtlich täuschen im üblichen Sinne, schon gar nicht anlügen (kleine Kinder müssen erst lernen, dass andere nicht dasselbe wissen wie sie selbst, also ist Täuschung oder Lüge für sie gar nicht vorstellbar). Aber absichtlich weinen kann man natürlich lernen. Und vor allem ist ja das Gegenteil nicht korrekt: Vor allem lügen keine Tränen nicht nicht. Will heißen: Wer nicht weint, aber sonstwie bestimmte Gefühle behauptet, hat nicht weniger Anrecht auf Glaubwürdigkeit. Es ist biologisch ganz praktisch eingerichtet, dass der Körper in gewissen Automatismen nicht „lügen“ kann: Man hat z.B. kurzfristig keine willkürliche Kontrolle über das Erröten oder über Gänsehaut bei Kälte. Die Unwillkürlichkeit macht solche „Äußerungen“ glaubwürdig, aber deswegen sind sie eben auch keine eigentliche Sprache, zu der immer eine Auswahlmöglichkeit gehört zwischen der unendlichen Menge dessen, was man so sagen könnte. Aber immer nach denselben Regeln hemmungslose weinen wäre sozial gesehen fatal. Es kann einen überkommen, aber es gelten sonst die gesellschaftlichen Regeln der Gefühlsäußerung: dass man sich zusammenreißen solle oder die Gefühle zur rechten Zeit rauslassen (je nach Stand der Küchenpsychologie), und Situationen, in denen Weinen erlaubt ist, etwa bei Beerdigungen. Auch sonst weiß die Sprache Bescheid oder weist zurecht: Haltung bewahren, ein Indianer kennt keinen Schmerz, gute Mine zum bösen Spiel machen usw.

Trotzdem glauben wir an die „Körpersprache“ als die ursprünglichste und wahrste aller Sprachen. Paradoxerweise gilt aber: Man kann Körpersprache nicht beliebig lernen, aber sie ist eine erlernte. Sie ist im Augenblick oft unwillkürlich, aber nur ein kleiner Teil unterliegt nicht der Willkürlichkeit sozialer Prägungen, sondern das meiste offenbart diese unwillkürlich.

Das Fernsehen scheint irgendwie gefährlich zu sein. So reden viele jedenfalls darüber. Nicht nur die Worte, die da gesprochen werden, scheinen eine gefährliche magische Wirkung zu haben – es scheint irgendwie besonders dramatisch, wenn am Fernsehen Worte wie „Scheiße“, „Arsch“ oder „fuck“ gesagt werden. Was dann genau passiert, scheinen die Leute, die so denken, nicht zu wissen – irgendwas Schlimmes mit den Kindern. Viele Meinungen über das Fernsehen sind entweder von der trivialen Art, wie dass man beim Sitzen vor dem Fernseher (wie über einem Buch!) keine Bewegungskoordination erlernt und wenig Energie verbraucht, oder sie sind so hoffnungslos diffus oder so offenkundig begründungsfrei herbeigeahnt und nachgeplappert, dass man auf manche Aussagen nur antworten möchte: Was soll denn da passieren? Wie soll das funktionierten? Oder einfach nur: Na und? Hä? Dass man in weiten Teilen des Fernsehprogramms nichts über die soziale Realität oder irgendwelche Zusammenhänge und Hintergründe erfährt, dass zumeist keine besonders ausgefeilten Plots verfilmt werden, sondern das die Welt in zusammenhangslose menschelnde, teilweise gewalthaltige Anekdötchen von unbekannter Repräsentativität zerlegt wird, mit letztlich zum Teil sexistischen, ethnozentrischen, konsumverherrlichenden usw. Kernaussagen – das weiß man. Aber das ist schon zu spezifisch gedacht im Vergleich zur diffusen Vorstellung, Fernsehen sei schon an sich gefährlich, unabhängig vom Inhalt, und dass das vielleicht mit seiner Bildhaltigkeit zu tun haben müsse. Für Kinder ohnehin, und womöglich auch für Erwachsene. Gewiss muss man Kindern nicht unbedingt unendlich lange den für sie teilweise verwirrenden und teils verängstigenden, dabei aber faszinierenden Reizen aussetzen, die das heutige Fernsehprogramm so bietet. Aber es wird vielfach so getan, als sei Fernsehen unabhängig vom Programm eine Droge oder ein Gift, so dass die Maximaldosis genau bestimmte werden müsse (nicht länger als eine halbe Stunde am Tag oder so – als sei nicht vor allem jede Minute schlechten Programms Zeitverschwendung). Es wird nun niemand genötigt, sich das anzusehen, und die Aussagen sind auf diesem Niveau der Debatte, mit diesen mythischen Vorstellungen vom gefährlichen Fernsehen nur geeignet, sich über Alleinerziehende ohne Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kinder zu erheben, welche ihren Nachwuchs mangels Alternativen, die diesen einen halben (Haus-)Arbeitstag lang beschäftigen, etwas lange fernsehen lassen. Immerhin werden den Kindern im Fernsehen vielfach ganze, grammatisch richtige deutsche Sätze dargeboten, was in ihrem Umfeld nicht immer sichergestellt ist. Das Fernsehbild sagt oft weniger aus als tausend Worte über die Realität, aber die tausende Worte, die im Fernsehen so vorkommen, sind zumindest nicht ganz wertlos. Gutes Kinderprogramm schlägt (oder schlüge) Massenware auf dem Kinderbuchmarkt mit ihren stereotypen Geschichten, Charakteren und Bildern um Längen.

Aber trotzdem dieser Glaube an die schwarze Magie des Fernsehens. Fernsehen ist vor allem eine soziale Institution (wie man sagt: Der arbeitet beim Fernsehen). Es eignet sich vorzüglich zur Darstellung mancher Dinge und für andere weniger, aber im Zweifelsfall eignet es sich auch als eine Art Radio mit Bild, ein Vorlesegerät, ein Bildschirm für Sprechpuppen, eine Textanzeige usw.

Bilder sind nur Bilder. Das müssen wir zweimal begreifen. Erstmal in der Kindheit: Es sind nur Bilder, wir müssen uns nicht vor ihnen fürchten. Und dann später nochmal: Es sind nur Bilder. Es sind keine magischen Einflusskanäle und geheimnisvollen Zauberzeichen oder -gifte. Musik ist nur Musik, nicht das Allheilmittel, die Weltsprache, die Erweckung schlechthin zum neuen Menschen. Eine der wichtigsten Emotionen bei Musik ist, wenn sie für uns einfach nur schön und gut ist. Wenn sie uns zu Tränen rührt, dann schweigt die Sprache. Sie hat aber tausende Worte für all das, was man nicht in Bilder und Töne fassen kann.

gesichtsfeld

50:50

Ein paar statistische Spielereien.

In einer idealisierten einfachen Gesellschaft mag man sich vorstellen, dass es nur zwei Tätigkeitprofile gibt. Das ein besteht aus Großwildjagd, rituellem Bemalen des Körpers, Sammeln von Wildhonig usw., das andere in der Jagd von Kleintieren, der Beaufsichtigung von Kindern, den Ahnen Speiseopfer darzubringen, sich Federn in die Haare zu stecken, usw. Somit gibt es für jede Person zwei Auswahlmöglichkeiten, bzw. wenn man genau zwei Personengruppen definiert, denen genau je eines der Tätigkeitsprofile zugeordnet ist, dann sind alle „Berufswahlen“ entschieden. Man kann sich eine Arbeitsteilung nach Geschlecht vorstellen, aber auch nach Alter, nach traditionellen Hälften (sog. moieties) eines Stammes oder Dorfes oder anderen Kriterien (die Strukturen „einfacher“ Gesellschaften sind in der Regel komplizierter als man denkt – sonst würden sich nicht Generationen von Forschern darüber streiten, wie sie richtig zu beschreiben sind). Nehmen wir aber eine komplexere Gesellschaft, in der es tausend Berufe gibt. Nehmen wir großzügig an, die Hälfte wäre so genannte Frauen- und die Hälfte Männerberufe, wie auch immer das entscheiden wurde. Dann ist aufgrund des eigenen Geschlechts nur die eine Entscheidung, nämlich für eine Hälfte davon gefallen, und es bleiben noch 499 weitere Entscheidungen. Oder anders gerechnet: Es gibt 499.500 Paare von Berufen, zwischen denen man schwanken könnte. Von diesen Paarvergleichen sind aufgrund des eigenen Geschlechts nur solche entscheidbar, bei denen ein Männer- und ein Frauenberuf zur Auswahl stehen. Das sind 125.000. Wir haben also wahlweise zwischen einem Fünfhundertstel und etwa einem Viertel der möglichen Berufsentscheidungen durch das Geschlecht eindeutig erklärt, wenn auch nur der Annahme, dass sich alle Personen streng an die Geschlechtertrennung halten. Den Rest müssen in einer modernen Gesellschaft andere Kriterien erledigen. Geschlecht kann nicht alleine die Last tragen, einziges Organisationsprinzip einer durch und durch arbeitsteiligen Gesellschaft zu sein.

Oder nehmen wir statistische Untersuchungen über Unterschiede zwischen Geschlechtern. Deren Ergebnis kann man ja meist mit der Aussagen zusammenfassen: Frauen sind eher x als Männer (oder umgekehrt; wobei x eine untersuchte Eigenschaft ist). Das kann aber vieles bedeuten, und man vergegenwärtigt sich nicht immer den Unterschied. Es kann zunächst sein, dass 99% der Personen mit der Eigenschaft x Frauen sind und 1% Männer. Das findet man bei einigen Körpermerkmalen (aber das ist ja in gewissem Sinne auch tautologisch), bei psychischen oder sozialen Eigenschaften in der Regel nicht (außer man versteht die Eintragung des Geschlechts im Pass – sicher nicht zu unrecht – als sozialen Sachverhalt und stellt fest, dass über 99% der Frauen, nach welchem Kriterium auch immer zugeteilt, im Pass als weiblich eingetragen sind; wir wollen aber jenseits solcher Spitzfindigkeit bleiben). Es könnte aber auch sein, dass das Verhältnis von Männern und Frauen unter Personen mit x 51 zu 49% beträgt. Schließlich ist auch denkbar, dass 0,00005% der Frauen die Eigenschaft x aufweisen und 0,00001% der Männer – Frauen sind dann noch immer eher x als Männer. So weit, so klar wahrscheinlich noch für die meisten. Aussagen der Form „Frauen sind eher x als Männer“ können aber je nach Form leicht zu statistischen Fehlschlüssen führen. Nehmen wir an, in einem „Männerberuf“ arbeiten 80% Männer und 20% Frauen. Weiter wäre es so, dass insgesamt 70% der Frauen und 30% der Männer in Elternzeit gehen. Gehen in diesem Beruf insgesamt mehr Frauen oder mehr Männer in Elternzeit? So leicht werden das die meisten nicht einschätzen können, ohne nachzurechnen. 24% der in diesem Beruf Tätigen sind Männer, die in Elternzeit gehen, 14% sind Frauen, die in Elternzeit gehen, der Rest geht nicht in Elternzeit. Selbst wenn in manchen Bereichen klare Geschlechterverhältnisse vorliegen (der Größenordnung 70:30 oder 80:20), woher sie auch immer kommen und wie wandelbar sie sein könnten, dann führt die Kombination entsprechender Merkmale oft zu recht undeutigen Relationen, weil sich mit jeder Merkmalskombination die Unvollkommenheit des Zusammenhangs multipliziert. Wenn Merkmal 1 mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,8 vorliegt, Merkmal 2 ebenfalls, dann noch ein drittes, dann liegen diese Merkmale, so „typisch“ sie sein mögen, zusammen eben nur noch knapp in der Hälfte der Fälle zusammen vor. Aber es besteht eben die psychische Tendenz, einem Repräsentanten oder einer Repräsentantin einer Kategorie alle prototypischen Eigenschaften derselben zuzuschreiben und eine Person in eine Kategorie einzuordnen, wenn sie dafür typische Eigenschaften aufweist, selbst wenn die Einordnung recht unwahrscheinlich ist (in einem Beruf mit wenigen Frauen sind selbst die Personen in Elternzeit selten weiblich).

Damit haben wir natürlich auch noch lange nicht beantwortet, wie Berufe eigentlich in dieser Einteilung platziert werden und sich verschieben, und ob das überhaupt einen Sinn ergibt, aber das ist eine andere Geschichte. Es soll nicht um den Sinn der Einteilung gehen, sondern darum, was sie (vermeintlich) erklärt.

Gewiss ist es ungerecht, einer Unterscheidung vorzuwerfen, dass sie wenig erklärt, wenn es sich nun einmal um eine binäre handelt (eine dreiteilige Klasseneinteilung z.B. ist ja rein kombinatorisch nicht viel besser). Sie wäre ja höchst effizient und sparsam: Mit nur zwei Kategorien könnte man dann doch Wesentliches erklären, auch wenn zehn Kategorien natürlich schon ihrer Anzahl nach die Welt präziser erfassen. Es gibt aber zwei wesentliche Probleme: die Frage, was das Geschlecht wirklich erklärt, und die Ausschließlichkeit, mit der sich manche soziologisch laienhaften Welterklärer darauf als Erklärung versteifen. Das zweite meinte Erving Goffman mit seinem auf Marx anspielenden Ausspruch: „Gender, not religion, is the true opiate of the masses“ (der es mir angetan hat). Wer die Welt vor allem nach Geschlechterunterschieden wahrnimmt, betäubt seine Wahrnehmungs- und Urteilskraft bezogen auf die massiven sonstigen Ungleichheiten: Die Gesellschaft ist nicht nur, und eben wohl nicht einmal primär, auf Geschlechterunterschieden aufgebaut, sondern man muss sich ernsthaft der Frage stellen, ob der Unterschied eines 40-jährigen Oberstudienrates zu seiner gleichaltrigen Frau desselben Berufs wirklich größer ist als zwischen z.B. einer Nonne und einer Prostituierten, einer Hartz-IV-Empfängerin und einer Mehrheitseignerin eines Weltkonzerns, einer Aborigine-Frau vor der Ankunft der Europäer und einer modernen Informatikerin oder meinetwegen Krankenschwester. Wenn man darauf beharren will, dass es zwischen einer Jäger-und-Sammler-Kultur und dem Spätkapitalismus Analogien im Verhalten gibt, muss man auch fragen, worin denn dann die Unterschiede zwischen beiden Gesellschaftsformen bestehen.

Gewiss kann man vieles mit Geschlechterunterschieden erklären. Vieles aber auch mit Altersunterschieden, oder mit Unterschieden der sozialen Klasse – da findet man zum Teil Differenzen, die man bei sozialen Sachverhalten in dieser Stärke nicht zwischen den Geschlechtern findet: Z.B. das Hören von Hiphop, volkstümlicher Musik oder Klassik nach Alter und/oder sozialer Herkunft. Am Alter kann man sich auch ganz gut deutlich machen, was ein solches Merkmal eigentlich erklärt. Wir Jüngeren hoffen jedenfalls überwiegend, dass das Hören von Volksmusik kein biologisch determiniertes Altersmerkmal sei, sondern eine Folge unterschiedlicher sozialer Prägung (ohnehin hören nicht alle älteren Menschen volkstümliche Musik, sondern nur solche bestimmter Schichten). Meinen mitlesenden Kollegen Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern muss ich das hoffentlich nicht erklären, allen anderen sei es in Erinnerung gerufen: Ein Merkmale „erklärt“ das andere zunächst, so sagt man, wenn es einen statistischen Zusammenhang gibt, wenn man das eine aufgrund der Kenntnis des anderen vorhersagen kann (sage mir, wie alt du bist und aus welcher Klasse, dann sage ich dir, was du hörst). Aber ein solcher Zusammenhang verlangt nach einer „Erklärung“, einer Beschreibung, die es nachvollziehbar macht, was das eine mit dem anderen zu tun hat. Ich muss das wohl nicht anhand des Musikgeschmacks vorführen, sondern wende mich gleich dem Geschlecht zu. Man braucht eine Theorie, welche erklärt, warum dieses oder jenes psychologische oder soziale Merkmale mit „dem Geschlecht“ zusammenhängt. Schon der Anfang ist schwer: „Geschlecht“ in welchem Sinne? Chromosomensatz, äußere Körpermerkmale, Hormone, das im Pass vermerkte Geschlecht, wofür einen die Leute halten, wofür man sich selbst hält usw.? Man muss also ein Merkmal von diesen wählen und von da eine ganze Kette von Zusammenhängen konstruieren bis zu dem Merkmal, das man schlussendlich erklären will (da reicht es nicht, mit ein paar Stichworten um sich zu werfen: Evolution!, Gene!, Gehirn!, Hormone! oder so, vor allem in solch tautologischen Formulierungen wie dass Frauen eben ein „weibliches“ Gehirn hätten, so als hätte dieses Brüste, gehe ab und zu manisch Schuhe kaufen usw., was man eben so für „weiblich“ hält). Und in einem weiteren Schritt müsste man jeden Schritt eigentlich auch nachweisen, aber so weit sind wir noch lange nicht. Da findet z.B. eine Forschergruppe, dass männliche Babies eher auf ein gezeichnetes Spielzeugauto sehen (statt auf eine gezeichnete Puppe) als weibliche. Hier kommen wir wieder zur Vielfalt der Bedeutungen von „mehr“. Es zeigt sich nämlich, dass beiderlei Kinder absolut gesehen die Puppe bevorzugen, nur die Jungen etwas häufiger auch zum Auto hinschauen als die Mädchen. Und dann brauchen wir ja eine Erklärungskette. Die Forscher selbst haben überprüft, ob die Vorlieben etwas mit Farben und Form zu tun haben. Sie präsentierten Kindern auch einfache Formen und Farbflächen, aber ohne dass sich hier klare Vorlieben zeigten (also nicht etwa der Mädchen für rosa!). Es gibt eine ganze Forschungsliteratur, die solche Unterschiede zwischen Spielzeugen auf Hormonspiegel vor der Geburt zurückführen. Aber was heißt hier zurückführen? Wir wissen nicht genau, wie sich Hormone auf die Verarbeitung von Seheindrücken auswirken könnten. Zwischen beiden Phänomenen liegt noch eine große Erklärungslücke. Und wir wissen nicht, was an den Spielzeugen genau dran ist, was die Kinder interessiert. Schließlich steht ja nicht in unseren Genen geschrieben, dass Männer eine Vorliebe für Autos haben sollten, von denen kleine Kinder ja noch keine Ahnung haben und die trivialerweise in der Urzeit nicht vorkamen (auch die allgemeinere Umschreibung mancher Forscher, es handele sich um komplexe mechanische Konstrukte lässt einen ratlos: Was wäre das steinzeitliche Äquivalent? Woran erkennt man bei einem knubbelig gezeichneten oder einem stilisiert als Spielzeug nachgebildeten Auto, dass es ein komplexes mechanisches Konstrukt ist?). Wir müssten also formulieren: Männliche Babies wenden sich eher dem da (was wir ein Auto nennen, wofür auch immer sie es halten und was genau sie daran interessiert) zu als weibliche, aber oft auch dem da (was wir als Puppe bezeichnen).

Dass wir uns überhaupt über biologische Erklärungen, soziologische Geschlechterforschung, Sexualmoral, Frauenförderung usw. streiten, ist schlussendlich bereits ein bemerkenswerter Befund. Wäre das gesamte Empfindungs- und Denkvermögen des Menschen nur eine Verdoppelung der biologischen Realität, wären also alle Theorien nur ein schwacher Abglanz der Regeln, die uns die Natur ohnehin auferlegt, dann wären die Diskussionen überflüssig, vor allem evolutionär höchst nachteilig, weil Energieverschwendung. Was sich über Hormone und Gene höchst sparsam regeln lässt, braucht man nicht mittels eines aufgeblähten, Unmenge an Glukose verschlingenden Hirns erneut zu wälzen, mit der bekannten Uneindeutigkeit, Wechselhaftigkeit und Fehleranfälligkeit dieses Vorgangs. Um wie vorprogrammiert die Beine breit zu machen, Kinder zu gebären, sie zu säugen und ein paar Knollen und Früchte zu sammeln, bräuchte man keinen Intellekt einer Physik-, Medizin- oder Wirtschafts-Nobelpreisträgerin (und analog für das „männliche“ Gehirn).

Man kann die Unterschiede zur Kenntnis nehmen und dann beharrlich von ihnen als einer entscheidenden Geschlechterdifferenz reden. Immer das Verhalten von Männern und Frauen im Lichte dieser Unterschiede interpretieren. Gar so tun, als seien die Differenzen absolut, von der Form: Frauen sind immer…, alle Frauen sind…, Männer sind immer… – oder zumindest Rede-, Denk- und Verhaltensweisen pflegen, die so tun, als wäre dies der Fall. Das wäre aber statistische Unverantwortlichkeit und eine Unverschämtheit gegenüber den Einzelnen, die gar nicht mehr in ihrer Eigenart gewürdigt werden. Ganz zu schweigen davon, dass jede Reflexion fehlt, was überhaupt der Sinn der Zweiteilung sein und nicht sein könnte.

Selbst wenn man daran nicht als biologische Hypothese glaubt, so kann man sich jedoch auch zur Lockerung der Gedanken die Unterschiede einmal derart vorstellen, dass sie Rudimente seien, schwache Überbleibsel stärkerer Geschlechterunterschiede (die in vielen, aber nicht allen anderen Tierarten zu finden sind). Unterschiede, die dann im Laufe der Evolution reduziert wurden, so dass der Mensch trotz der biologischen Vorteile einer geschlechtlichen Fortpflanzung nicht in einem Zustand verharrte, in dem Verhalten sehr weitreichend nach Geschlecht festgelegt und spezialisiert ist. Vielmehr ging die Art in einen Zustand über, in dem unabhängig vom Geschlecht eine ungeheure Zahl verschiedenster Spezialisierungen möglich wurde und in dem die Flexibilität besteht, je nach den Umständen, Neigungen oder sozialen Notwendigkeiten auch dieselben Tätigkeiten wie eine Person des anderen Geschlechts zeitweilig oder dauerhaft zu übernehmen. Eine Entspezialisierung zwecks Vertretbarkeit, und zwecks neuer, vervielfachter Spezialisierung. Diese Vervielfachung der Spezialisierung (jene 500 oder viel mehr anderen Unterschiede) macht uns heute aus.

Wenn der Klapperstorch Heißhunger hat

Dass der Körper viele Dinge automatisch ausführt, ist ungemein praktisch. Sonst würde man vor lauter Arbeit noch vergessen zu atmen, zu verdauen oder den Restalkohol zu verstoffwechseln. Es gibt aber auch diese praktischen Schnittstellen zwischen Körperfunktionen und bewusstem Denken und Handeln: Hungergefühl, Schmerz, Erektion infolge rein berührungsfreier, bewusster Wahrnehmung erregender Sachverhalte usw., die uns aber immer noch einige Wahlmöglichkeiten und damit Flexibilität lassen, die unsere Anpassungsfähigkeit ausmachen: Dieses oder jenes essen oder erstmal nix; Hausmittel oder zum Arzt gehen; Penetration, Selbstbefriedigung oder dezente Verhüllung. Nun scheint es geboten, einigermaßen um seine Körperfunktionen zu wissen und ihre Verbindungen zu bewusstem Erleben und Verhalten zu kennen. Man mag das als Symptom des allgemeinen Körperkultes ansehen, als Folge der spätmodernen Entdeckung von Gesundheit und Körperbeherrschung als Frage von Macht, Herrschaft und Politik, als Ausdruck der Biologisierung unserer Vorstellungen des Menschen, oder einfach als Teil einer praktischen Weisheitslehre, dass es sich in einem wohl befindlichen Körper (wie immer definiert) und mittels Achtsamkeit auf diesen oft besser leben lässt.

Nur gibt es so manche Vorstellung und Redeweise, die ein unmittelbares Wissen von unseren Körperfunktionen unterstellen, welche mir doch fraglich erscheinen wollen. Will heißen: Man vermischt Zustände des Körpers und das Wissen davon; redet davon, dass der Körper etwas wisse, wolle, mitteile, und man tut so, als wäre das dasselbe, wie wenn man selbst weiß, will, mitteilt. Also als ob der Körper sich direkt dem Bewusstsein mitteile oder seine Mechanismen so funktionierten wie unser bewusstes und unbewusst erworbenes Wissen. Als ob der Körper dieselbe Art Wissen haben könne, wie es der Mensch erst in einer gesellschaftlich höchst wandelbaren Umwelt mühsam oder beiläufig erwerben muss.

Vielleicht am besten ein Beispiel. Es verlangt einen manchmal nach Süßem und Fettigen, und der Körper reagiert durchaus auf manche Inhaltsstoffe. Erhöhter Blutzucker etwa wirkt sich auch auf das Gehirn aus. Aber kann man deshalb behaupten, der Körper wisse und hole sich, was er brauche? Das ist nicht ausgeschlossen, aber man stelle sich den entsprechenden Mechanismus in den Einzelschritten vor. Es verlangt einen etwa nach Zuckerhaltigem. Hier fangen die Probleme schon an: Hat man nur Lust darauf oder besteht wirklich ein Mangel? Das wäre erst einmal herauszufinden (es ist biologisch plausibel, dass der Mensch sich süße Lebensmittel auch ohne akuten Mangel einverleibt, wenn er die Gelegenheit hat, dass ihn also auch ohne besonderen Mangel die Lust packt, weil bei weniger üppiger Versorgungslage nicht bei jeder Mangelsituation Süßigkeiten zur Hand sind; von da ausgehend ist es vorstellbar, das nicht nur der Anblick attraktiver Lebensmittel, sondern auch der bloße Gedanke daran die Lust darauf erregt). Weiter: Wäre die weitere Vorgehensweise vorab biologisch kodiert, müsste der Organismus, ohne sie jemals probiert zu haben, mit ausreichender Sicherheit alle wichtigen süßen Lebensmittel erkennen. Es müsste irgendwo von Geburt an hinterlegt sein, was das Gemeinsame an Schokolade, Götterspeise, Limonade, kandierten Früchten, Gummibärchen usw. ist. Das ist schon evolutionär unplausibel, bestand doch die wesentliche Erscheinungsform zuckerhaltiger Nahrung früher in reifen Früchten und bestenfalls noch Honig, welche ja nach Aussehen und Geruch sehr verschieden von Schokolade usw. sind. Man muss also angesichts der Vielfalt der Lebensmittel erst lernen, welche davon bei akutem Hungergefühl wirklich sättigen und welche die spezifische Lust des Süßen und Fettigen befriedigen. (Die man sich natürlich abtrainieren oder unterdrücken kann.) „Wüsste“ der Körper schon um alle Vor- und Nachteile der Lebensmittel, bräuchte es nicht all die Ernährungsratschläge und Diäten – man muss erstmal lernen, welche Lebensmittel „gut“ und „böse“ sind. Bzw. soweit der Körper durchaus bereits auf die Lebensmittel in gewisser Weise reagiert, je nach den Inhaltsstoffen, kann dies nicht direkt in vorheriges zielgerichtetes Verhalten umgesetzt werden, weil nicht für jedes Lebensmittel schon bei der Geburt gespeichert sein kann, wie es aussieht, schmeckt, wirkt und nährt. Jemand hat also irgendwann gelernt, dass Pralinen insgesamt, und besonders dieunddie, süß sind und cremig gefüllt, und erst so kann es einen danach gelüsten (das gefüllte Lebensmittel ist ja das Beispiel par excellence für solche Lerneffekte: Man vergleiche den als Streich mit Senf gefüllten Krapfen, nach dem es einen einmal gelüstet und dann ist man geheilt). Und hierbei kann man irren: Die ganzen fett- und zuckerreduzierten Lebensmittel dienen ja der Überlistung im Lichte solcher Lerneffekte: Sie tun nur so süß und cremig. Wie genau der Körper Inhaltsstoffe mit konkreten Lebensmitteln in Verbindung bringen kann, wäre dann noch näher zu erörtern: So müsste ja ein Mechanismus bestehen, wie der Stoffwechsel für einen Inhaltsstoff (z.B. eine Aminosäure oder ein mineralischer Bestandteil), den man nicht einmal unbedingt schmeckt, mit dem abgespeicherten Wissen über ein Lebensmittel verknüpft werden kann. Während man sich also Aussehen, Geruch, Geschmack, vielleicht noch Name, Verpackung, Aufbewahrungsort usw. eines gerade verzehrten Lebensmittels merkt, müsste von irgendwoher der Körper melden: Und überdies ist da noch XY drin. Beiderlei Wissen, also das über die äußerliche Wahrnehmung und über die Reaktion auf die Inhaltsstoffe müsste also gemeinsam abgespeichert werden. Die Verarbeitung der Inhaltsstoffe irgendwo im Körper müsste mit dem Wissen um das Nahrungsmittel so verbunden werden, dass man auch umgekehrt bei Mangel des Inhaltsstoffs dieses Wissen abruft und ein Verlangen nach dem Nahrungsmittel (oder einem vergleichbaren) verspürt. Das ist je nach Inhaltsstoff nicht ausgeschlossen. Dagegen spricht aber ja, dass man die verschiedensten Mangelerscheinungen haben kann, ohne dass man weiß, was einem fehlt, und ohne dass man umgehend passende Nahrungsmittel zu sich nimmt, selbst wenn sie wie bei uns überreichlich vorhanden sind. Unser Wissen um Lebensmittel ist also zumindest unzureichend mit Signalen eines Mangels verknüpft.

Kann man also sagen, der Körper wisse und hole sich, was er braucht? Eher umgekehrt: Man probiert (oder beobachtet die Reaktion anderer), speichert Geschmack, Mundgefühl und Sättigung bzw. anderes Wohlbefinden, verknüpft das mit Wissen um die Erscheinungsform des Lebensmittels, und wenn dann (ein wohl unspezifischer) Hunger, Gelegenheit oder auch der Gedanke an eine Leckerei aufkommen, dann greift man auf das Wissen zurück und gegebenenfalls zu, sofern nicht Verbote, Beobachter, Ernährungswissen usw. dagegen stehen.

Oder die Vorstellung, bestimmte Inhaltsstoffe lösten psychische Zustände aus: Man könne Glück essen, sich oder andere sexuell stimulieren, Stress besänftigen usw. Auch das nicht von vornherein ausgeschlossen. In vielen Fällen gibt es aber mindestens zwei Probleme, die das fraglich erscheinen lassen: die Dosis und die Blut-Hirn-Schranke. Im ersten Fall liegen viele potenziell psychoaktive Substanzen in viel zu geringer Konzentration in den entsprechenden Nahrungs- und Genussmitteln vor, um im Gehirn wirksam zu werden. Zweitens wäre es für das Gehirn ziemlich unpraktisch, wenn alle möglichen durch den Verdauungstrakt aufgenommenen Stoffe sein kompliziertes System von Botenstoffen durcheinanderbringen könnten. Darum können nur bestimmte Stoffe vom Blut ins Gehirn übertreten – wichtige Ausnahmen wie Koffein oder Alkohol sind allgemein bekannt, andere fallen unter die illegalen Drogen. Aber wenn alles, was man so isst und trinkt, direkt auf den Kopf durchschläge, wäre das ein kaum informatives Chaos und nicht unbedingt förderlich für die Anpassung an die Umwelt. Für das Gehirn ist es zwar teilweise relevant, wie lange die Energiereserven im Körper noch reichen oder was man Gefährliches eingenommen hat, aber detaillierte Informationen über Art und Beschaffenheit der Lebensmittel erlangt der Körper oft doch besser vorab über die Sinnesorgane und über Lernprozesse als im Nachhinein, wenn die Inhaltsstoffe schon im ganzen Organismus zirkulieren (schließlich sind die potenziellen Nahrungsmittel einfach zu vielfältig und man weiß nicht, welche man noch entdeckt und erfindet). Wenn dagegen ein Stoff auch körperintern produziert wird und relevante Funktionen auslöst oder hemmt, dann ist es zwar in einigen Fällen praktisch, wenn oral aufgenommene Stoffe dies auch können, in anderen Fällen würde das aber nur zu Verwirrung, Gesundheitsschäden oder nicht adaptivem Verhalten führen, weil der Körper nicht „weiß“, ob er den Stoff selbst produziert oder aufgenommen hat und dann womöglich unangemessen reagiert (so als bestehe Gefahr, Paarungsbereitschaft, Überanstrengung, ein mühsam errungener Glückszustand usw., dabei hat man nur was Bestimmtes gegessen oder getrunken). Es wäre also nicht unbedingt förderlich, wenn Gefühle derart doppeldeutig wären, dass sie sowohl durch äußerlicher Erlebnisse als auch durch einigermaßen alltäglichen Inhaltsstoffe erzeugt würden (man sich also nach Milch verliebt fühlt, nach Brot traurig und nach Fisch schadenfroh, oder man wirklich einfach durch Schokolade glücklich werden könnte). So verlören die Gefühle nämlich ihre Funktion, die Bedeutung einer Situation anzuzeigen und eine Verhaltenstendenz nahezulegen.

Oder nehmen wir Sex. Man kann sich Lustgefühle verschaffen, indem man selbst oder indem andere verschiedene Organe und andere Objekte in verschiedene Körperöffnungen einführen, man bestimmte Körperteile auf gewisse Weise berührt usw. Freilich müssen wir erst von unseren Eltern, auf dem Schulhof oder von Dr. Sommer erfahren, von welchen dieser Praktiken man z.B. wirklich schwanger wird (schwanger wird man auch, das vergisst man oft, durch künstliche Befruchtung innerhalb und außerhalb des Körpers). Der Körper „weiß“, wie man schwanger wird, d.h. er wird es einfachen bei gegebenen Voraussetzungen. Wir müssen es lernen und bewerten.

Wie ja auch das Geschlecht überhaupt. Der Körper verhält sich in gewisser Weise geschlechtsspezifisch (zumindest gemäß bestimmten Definitionen, was das Geschlecht sei). Er bildet etwa Geschlechtsorgane aus und unterhält sie, lässt sie die üblichen Stoffe herstellen und absondern usw. Das verschafft uns aber noch kein sonderlich präzises Wissen über geschlechtliche Aspekte unseres Körpers. Sonst wären junge Menschen bei ungenügender Aufklärung (und selbst im gegenteiligen Fall) nicht verunsichert ob der ersten Menstruation oder Pollution, und sonst gäbe es nicht die vielfältigen Mythen rund um den weiblichen Zyklus, welche einer biologischen Grundlage entbehren. Wir müssen erst in Kinderbüchern, von den Eltern und in der Schule über den inneren Aufbau der inneren Geschlechtsorgane belehrt werden. Es gibt noch nicht einmal eine Erklärung des weiblichen Orgasmus, auf den sich die Wissenschaft einigen könnte. Manche erleben ihn; aber zu wissen, warum und wozu es ihn gibt, ist etwas ganz anderes.

Der Körper hält gewisse Mechanismen zur Verarbeitung und Belohnung sexueller Erregung bereit (auch durch die verschiedensten kulturellen Objekte wie Schuhe, Strickwaren, Reitpeitschen usw.) und sieht bei manchen Praktiken die Möglichkeit einer Schwangerschaft vor. Jedoch um sich unter seinem Geschlecht wirklich etwas zu vorzustellen und es zu benutzen, muss man erhebliches Wissen erwerben – was als Wissen gilt, das fällt von Fall zu Fall sehr verschieden aus – und dieses Wissen mit körperlichem Tun und einer Erregung verknüpfen. Z.B. so, dass man sie bereits bei dem Gedanken an eine Sache verspürt oder dass man sie als erzböse ansieht und tunlichst vermeidet.

Wir reden gerne vom Körper so, als sei er ein ganzer Mensch oder eine vernetzte Menge von Personen, die einander Briefe schreiben, sich Dinge zurufen, telefonieren, etwas erfahren, sich merken usw. Der Körper wisse…, ein Organ übermittle die Information…, es werde signalisiert… Dabei ist die „Codierung“ (schon dieser Begriff impliziert eigentlich eine deutende Instanz) höchst unspezifisch, d.h. für die körperinterne „Kommunikation“ (die deshalb eigentlich keine ist) steht in keiner Weise fest, auf welche äußeren Umstände der Organismus reagiert. Ein System von „Boten“stoffen übermittelt keine Angaben darüber, warum der Stoff ausgeschüttet wurde. Es handelt sich nicht um Informationsübermittlung, sondern nur um Ursache und Wirkung im Rahmen einer Ursachenkette, welche sich in der Vergangenheit meist als brauchbar erwiesen hat, indem die letztendliche Reaktion der Situation angemessen war.

Nehmen wir als Beispiel folgendes Experiment: Eine Person wird eine Zeit lang in Bewusstlosigkeit oder Trance versetzt, so dass sie sich anschließend nicht erinnern kann, ob an ihrem Körper irgendwelche verletzungsfreie Manipulationen vorgenommen wurden oder nicht. Anschließend fragt man die Person, wie sie sich fühlt. Daraufhin fragt man sie wiederum, woher das wohl komme und gibt ihr folgende Möglichkeiten zur Auswahl (wobei es nicht darauf ankommt, ob das wirklich möglich wäre, sondern die Person das nur für möglich hält): Man habe ihr etwas eingeflößt (Kaffee, Trinkschokolade, Zuckerlösung usw.). Oder man habe ihr in ihrem vorherigen Zustand hypnotisch bestimmte Erlebnisse suggeriert (Lebensgefahr, entspannt am Strand zu liegen, Kaffee zu trinken usw.). Oder man habe ihr Gehirn an geeigneter Stelle verletzungsfrei elektrisch oder magnetisch stimuliert. Oder man habe ihr eine bestimmte Substanz injiziert (Koffein, Adrenalin, ein Benzodiazepin usw.). Vielleicht sogar, falls die Person an so etwas zu glauben geneigt ist: Ein Dämon sei in sie gefahren und habe ihr dieses und jenes einflüstert. Die Person könnte sich nun auf Mutmaßungen stützen: Das klingt doch zu unwahrscheinlich, das würden die nie tun, das funktioniert ja gar nicht, das würde ich jetzt doch noch irgendwie merken… –, doch entscheiden könnte sie nicht, welche der Behandlungen (wenn überhaupt) an ihr durchgeführt wurde. Falls man also davon sprechen könnte, der Körper „wisse“, was mit ihm passiert ist (indem etwa bestimmte Stoffe noch in der Blutbahn verbleiben), die Person jedenfalls kann darüber keine sichere Auskunft geben.

Man könnte sagen: Der Körper rechnet nicht mit Drogen (die von außen zugeführt werden, sondern nur mit Erlebnissen, die in ähnlichen Stoffen „codiert“ werden). Das wäre aber schon zu spezifisch. Denn genauso gut könnte man sagen: Der Körper sieht die Beeinflussung mittels Drogen vor. Oder eben neutral: Sie ist möglich. Der Körper ist eben kein Mensch, der mit etwas rechnet, etwas vorsieht, etwas erlaubt oder will.

Wie aber steht es mit dem „Wissen“, wie man einen anfliegenden Ball ins gegnerische Feld, Tor usw. schlägt, wie man sich auf dem Fahrrad im Gleichgewicht hält, wie man ein Auto lenkt? Die Außenwelt wird zwar hier unbewusst, sehr schnell und automatisiert verarbeitet, man nimmt zugleich aber einigermaßen bewusst ein Teil dessen wahr, was um einen geschieht (ähnlich wie man die bewusste Einnahme einer Substanz mitbekommt, oder zwischen einer eingenommenen Substanz und einer für die Befindlichkeit bedeutsamen, bewusst erlebten Situation unterscheiden kann). Kann man aber bei diesen automatisierten Handlungen von „Wissen“ reden? Ich habe in verschiedenen Beiträgen auf die Sprachverwendung verwiesen, um gewisse Unterschiede plausibel zu machen, aber hier kann man ein wenig ratlos zurückbleiben: Wissen, können und lernen teilen im Deutschen die Sachverhalte anders ein als in anderen Sprachen: savoir und pouvoir, to know, to can, to be able usw. Nach allgemeinem deutschen Verständnis liegt das „Wissen wie“ am Rande des Wissens, ist eine Grenz- oder Sonderform und ersetzt oder ergänzt teilweise das „Wissen, dass“. Man kann also – wenn man will! – von Wissen reden. Man muss z.B. nicht wissen, dass man in einem Pfannkuchenteig auf drei Eier soundso viel Mehl verwendet, wenn man weiß, wie ein Pfannkuchenteig aussieht und wie er „nach Gefühl“ gemacht wird – so gelingt er oft sogar besser. Den Botenstoffen und fürs Sättigungsgefühl aber kann egal sein, ob man Pfannkuchen gegessen hat oder eine vollkommen äquivalente Nährstoffmenge in anderer Darreichungsform und mit grüner oder blauer Lebensmittelfarbe, und es ist ihnen auch vorerst egal, ob man stattdessen Appetitzügler genommen hat. Aber ein eigener Botenstoff für Freude-wegen-Sättigung-durch-Pfannkuchen, das wäre aus biologischer Sicht übertrieben. Die wirklich weiterführende Reaktion darauf ist nicht: „Klar, es gab in der Urzeit keine Pfannkuchen!“, sondern: Das ermöglicht dem Menschen erst die Vielfalt jener Kulturen (die nicht zuletzt in einigem Maß an höchst verschiedene Umwelten angepasst sind bzw. waren), die wir ja so gerne an den verschiedenen Essgewohnheiten festmachen. Würde uns z.B. biologisch bedingt immer nur nach Eukalyptusblättern gelüsten oder wären nur diese für uns wirklich verdaulich, wäre an Esskultur wohl nicht zu denken und wäre auch sonst die vorwaltende Verschiedenheiten der Lebensweisen und Vorstellungs- oder Wissens-Welten nicht zustande gekommen. Die Menschheit hätte sicher nicht zu solch einem weltumspannenden Unternehmen werden können.

Unser Zeitgeist sagt uns, dass der Mensch ein dunkles Geheimnis habe, und das sei biologisch, sei seine tierische Vergangenheit (die Neurologen und Evolutionspsychologen haben Freud als obersten Hüter, Enthüller und Symbolfigur dieses Geheimnisses vom Thron gestoßen; Sexualität und Hirnstoffwechsel haben Erbsünde und Gnadenwahl als Geheimnis verdrängt). Zugleich sagt uns der Zeitgeist weiter, die Natur sei weise und ungemein trickreich. In der Kombination müsste man dann vermuten, dass die Natur in uns, dass der Körper irgendein weises bzw. nützliches Geheimwissen hat, das uns etwas über unser Wesen sagen müsste und dessen Befolgung uns eher gut täte. Man müsse nur genau auf seinen Körper hören. Freilich wird es sich oft als hilfreicher erweisen, auf solides Wissen über seinen Körper zu hören.

Nur

Es scheint heute unumgänglich, auf „Adrenalin“ zu verweisen, wenn es um Aufregung geht. Kann man sagen, Aufregung „ist“ „nur“ Adrenalin? Das klingt zeitgemäß, wissenschaftlich, nüchtern. Man erlangt durch diese Redeweise womöglich das Ansehen eines aufgeklärten Zeitgenossen, der ein vernünftiges Weltbild pflegt. So unbedarft man das dahinsagt, dass ein Erlebnis „Adrenalin pur“ gewesen sei, oder so ähnlich, so beschränkt vielleicht der Wortschatz zum Ausdruck des eigenen Erlebens ist, dass man diese schon abgedroschene Redeweise wiedergeben muss: Man profitiert wohl immer noch ein wenig von dem Ansehen, dass man einerseits das Abenteuer liebt, jedoch auch so abgebrüht ist, dass man davon nicht mit pathetischen Gesten spricht, sich zur überirdischen Heldin stilisiert, sondern nur als Teil einer natürlichen Spezies erscheint, die wie alle anderen den Mechanismen der chemischen Codierung aller ihrer Lebensvollzüge unterliegt, nur dass sie ein wenig mit dieser Chemie spielen kann, indem sie sich in die entsprechenden Situationen begibt. In die Situationen begibt! Nicht: sich die entsprechenden Substanzen von außen zuführt! Irgendwie kommt es doch auf das Erlebnis an, das irgendwie doch noch realer sein soll als das Allerrealste, die Chemie. Kurioserweise ist die Adrenalin-Redeweise also nur in bestimmten Kontexten attraktiv. „Ich habe mir gestern Adrenalin gespritzt. Das war geil!“ – das würde reichliches Kopfschütteln auslösen. Warum sollte man sowas machen?! Auch wenn eine Situation praktisch keinerlei positive Erlebnisse bereithielt, erscheint die Redeweise vom Adrenalin wohl ihren eifrigsten Nutzern komisch. Sie würden den Verweis auf Adrenalin als Ausweichen ansehen: „‚Adrenalin‘ hin oder her, du hattest einfach Schiss! Tust jetzt so, als hätte es dir gefallen!“ „Adrenalin“ ist also eigentlich eine Chiffre für das letztlich positive aufregende Erlebnis, die Angstlust rund um ein Erlebnis, das man zumeist selbst herbeigeführt hat oder dem man ab einem gewissen Zeitpunkt eine gute Seite abgewinnen konnte (weil man die Gefahr für letztlich irgendwie beherrschbar oder begrenzt hielt oder ausblendete, also z.B. Höhenrausch statt glaubwürdige Vorbereitungen für eine dann abgebrochene Hinrichtung).

Aber zurück zur Frage, ob Adrenalin Aufregung sei. Einige Argumente. In vielen Bereichen der Philosophie des Geistes sind philosophische Zombies ein bewährtes Mittel des Räsonnements. Man erschafft dabei in Gedankenexperimenten Gestalten, welche Menschen im Prinzip ähnlich sind, aber in entscheidenden Merkmalen abweichen, nämlich dass ihnen insbesondere bestimmte Gefühle und Wahrnehmungsweisen fehlen, während sie sich äußerlich wie andere Menschen verhalten. Das kann man natürlich auch umdrehen: Wir könnten uns Personen vorstellen, die Aufregung fühlen und äußerlich zeigen, bei denen aber nicht Adrenalin, sondern ein anderer Stoff diese Reaktion auslösen würde. Sie wüssten es nicht, wenn man es ihnen nicht sagte, nicht mittels biochemischer Analyse nachwiese!

Die komplizierte Verwendung der Worte „ist“ und „nur“. Sowie von „Aufregung“. Man könnte natürlich sagen, „Aufregung“ verweise auf dieses und jenes Befinden und Verhalten sowie zugleich auf die Überzeugung, dass das vom Adrenalin komme (wie auch immer man sich dessen sicher sein kann). So wie wir das Wort „Alkoholrausch“ verwenden, um nicht nur die Befindlichkeit oder das äußere Verhalten zu kennzeichnen, sondern auch die biochemische Ursache Alkohol. Analog wäre aber Aufregung zumindest nicht „nur“ Adrenalin, sondern Adrenalin plus…

Die Verabreichung von Adrenalin alleine erzeugt umgekehrt ein recht profanes Erregungsgefühl, eher neutral, wenn nicht unangenehm. Besonders wenn man nicht weiß, dass man erregende Stoffe verabreicht bekam bzw. eingenommen hat oder nicht um deren diesbezügliche Wirkung weiß, und wenn man sonst keinen äußeren Grund zur Aufregung hat, dann ist man verwundert oder gar beunruhigt über diese grundlose Erregung. Sie ergibt keinen Sinn. Der Geist muss sich erst etwas suchen, worauf sie zurückgehen könnte. Er irrt ziellos umher und beschließt dann, die Zittrigkeit, der kalte Schweiß und das Herzklopfen lägen am Raumklima, dem Arzt oder der Ärztin, die ohne das Wissen des Probanden Adrenalin verabreicht hat, oder woran auch immer. Dieser Sinn ist die andere Seite des Gefühls, seine kognitive Komponente (den Gegenstand der Wahrnehmung, auf den es sich richtet, ob nun Außen oder Innen, etwa auch eine aufregende Erinnerung, die man in Gedanken nacherlebt). Wie ja auch bei anderen Gefühlen: Man liebt jemanden; wen, das wissen nicht „die Hormone“, sondern sie sind auf andere Teile des psychischen Apparats angewiesen, der wahrnimmt und unwillkürlich beurteilt (die Moleküle in den Drüsen und in der Blutbahn haben ja keine Augen und können keine Gefallensurteile abgeben). Dann erst werden die Hormone losgelassen (welche, das kann dem oder der Fühlenden egal sein). Das Adrenalin weiß auch nicht, ob es auf eine Prüfung, einen Fallschirmsprung oder eine Injektion zurückgeht.

„Aufregung“ nennen wir diejenige Erregung, die auf bestimmte, „aufregende“ Sachverhalte zurückgeht, und nicht z.B. Erregung-durch-Adrenalininjektion. Nun definiert man kein Wort, indem man es nochmal verwendet. „Aufregende“ Sachverhalte sind also solche, die einen gewissen Kontrollverlust beinhalten. Die in der Adrenalin-Redeweise gemeinte Aufregung ist nun die von einer positiven Aufregung, bei der die Sachverhalte letztlich unter Kontrolle bleiben (der kontrollierte Kontrollverlust) oder sich zumindest zwischenzeitlich als kontrollierbar erweisen, und sei das auch nur illusionär, durch Verdrängung der Gefahr.

Mit dem Wörtchen „ist“ verhält es sich dabei schwierig. Der Satz, Aufregung „ist“ ein (das?) Gefühl, das mit der Ausschüttung von Adrenalin einhergeht bzw. durch diese ausgelöst wird, dieser Satz kann je nach dem Wissensstand der entsprechenden Forschung wahr sein. Und das Wort „ist“ wird darin richtig verwendet. Man muss aber zwei Bedeutungen unterscheiden (neben möglichen anderen, die hier nicht interessieren). „Ist“ kann zunächst heißen: identisch, gleich. Um das berühmte Beispiel von Gottlob Frege zu verwenden: Die Venus ist der Morgenstern ist der Abendstern. „Ist“ kann aber auch heißen: Etwas kann von einer Sache gesagt werden, die Sache hat die Eigenschaft. Zum Beispiel: Der Mensch ist sterblich. Dieser wahre Satz bedeutet nicht, dass „Mensch“ und sterblich Sein deckungsgleich wären. Ein Mensch ist nicht jedes Wesen, das sterblich ist. Der Mensch ist nicht „nur“ sterblich, sondern wir brauchen andere Eigenschaften zur Unterscheidung neben diesem Befund, den man als zufällige oder definierende Eigenschaft ansehen kann, aber jedenfalls nicht als einzige definierende. Mit der Aufregung ist es schwierig. Ist sie ein oder das Gefühl, welches auf Adrenalin beruht? Und macht das einen Unterschied? Im ersten Fall, ein Gefühl, wäre die Sache klar: Wenn es noch andere derartige Gefühle gibt, kann man Aufregung so nicht bestimmen. Wenn wir die eindeutige Variante, – das Gefühl, welches,… – wählen, müssen wir uns bewusst sein, dass wir vor einer Entscheidung stehen. Sollte sich wider erwarten erweisen, dass Aufregung nichts mit Adrenalin zu tun hat, wollen wir dann ein etwaiges anderes Gefühl, welches mit Adrenalin in Verbindung steht, „Aufregung“ nennen? Bzw. wie würden wir in einer möglichen Welt, in der die Verbindung nicht besteht, „Aufregung“ definieren? Halten wir den Zusammenhang von Aufregung und Adrenalin für bestimmend, für einen Bestandteil einer Definition, oder für zufällig? Ist Adrenalin wirklich Teil der gängigen Bedeutung von „Aufregung“? Oder wieder mit einem Zombie-Argument: Würden wir eine Person „aufgeregt“ nennen, deren Körper Adrenalin ausschüttet, die aber nichts dabei fühlt? Oder sind wir gerade Zeugen einer heimlichen Revolution in der Sprachverwendung, bei der alle Wörter für „Gefühle“ umdefiniert werden, so dass sie durch biochemische Vorgänge bestimmt werden und das Fühlen eine zufällige Eigenschaft wird, so wie vorher das Fühlen definierend und die Biochemie „zufällig“ waren? Eine solche Umdeutung wäre allerdings letztlich unpraktisch: Man müsste immer ein Labor mitführen, um zu wissen, wie man sich „fühlt“; bzw. es ginge dann ja nicht mehr um Gefühle. Worte wie „Aufregung“, „Liebe“ usw. wären ja dann anderweitig belegt, und man müsste für die Gefühle neue Wörter erfinden. Denn wir sind ja vielfach geneigt, Wörter für Zustände zu verwenden (bisher waren das: „Aufregung“, „Liebe“,…), ohne dass wir biochemische Untersuchungen angestellt haben.

Wir können auch noch einen anderen Zugang ausprobieren, nämlich indem wir von Fähigkeiten reden. Wir sagen: Es ist kalt. Wir sagen auch: Mir ist kalt. Dazwischen besteht ein gewisser Zusammenhang. Wir können etwa ohne Verwendung eines Thermometers in der Regel mit geschlossenen Augen, nur durch Anfassen, entscheiden, ob in einem Glas ein Getränk auf Eis oder ein Heißgetränk enthalten ist. Aber Kältegefühl und zu messende Temperatur können auch auseinanderfallen, weil sie sich gerade auf zwei verschiedene Dinge beziehen. Ähnlich einem Schmerz im Fuß und einer Verletzung desselben. Wir haben die Fähigkeit, mit einiger Sicherheit Verletzungen zu erkennen, ohne Hilfsmittel wie Röntgengeräte oder auch nur Abtasten, rein aus dem Schmerzgefühl. Wir können uns aber irren, und das ist Teil der unterschiedlichen Definition von „Schmerz“ und „Verletzung“. Diese Fähigkeiten hängen aber von einem Lernprozess ab. Wir kommen nicht mit dem Wissen auf die Welt, was ein Knochenbruch ist oder dass bei diesem Kältegefühl (das wir beim Anfassen etwa eines Glases mit eisgekühlten Flüssigkeiten haben) das Thermometer ungefähr soundsoviel Grad anzeigt. Genauso müssen wir lernen, dass Aufregung etwas mit Adrenalin zu tun hat. Erst mit diesem Wissen können wir ohne Zuhilfenahme eines Labors vorhersagen, dass Adrenalin ausgeschüttet wurde. Wir könnten uns aber irren, selbst wenn wir behaupten würden, dass der Zusammenhang sicherer sei als im Falle eines Schmerzes im Fuß und einer bestimmten Verletzung. Man kann sich womöglich eher die Laboruntersuchung sparen (aber nur, weil sie bereits früher jemand durchgeführt hat!) als das Röntgen eines schmerzenden Fußes. Die Aussage über Adrenalin ergibt sich also entlang einer Kette von Schlussfolgerungen: Ich habe ein Gefühl. Über dieses Gefühl weiß ich, dass es (immer/meist/vielleicht/sicher/…) mit Adrenalinausschüttung zusammenhängt. Also liegt eine solche (wahrscheinlich) vor. Fühlen und Schlussfolgern wären also die Fähigkeiten, mit denen wir den „zufälligen“ (auch anders denkbaren, erst erlernten), nicht definitorischen Zusammenhang herstellen.

Es verhält sich mit dem Fühlen und der Chemie womöglich ähnlich wie mit dem Gehirn und „denken“. Gewiss hat das Gehirn, nach allem was man weiß, etwas mit dem Denken zu tun. Es wäre Unsinn, das zu bestreiten. Aber man kann sagen: Nicht mein Gehirn denkt, ich denke. Denn mein Kopf ist noch nie durchleuchtet worden. Es könnte also sein, dass ein Räderwerk, ein Computer oder Stroh darin ist. Das hat für die Verwendung des Wortes „denken“ keine Konsequenzen. Offenbar haben andere und habe ich das Wort auf mich angewendet, ohne etwas über mein etwaiges Gehirn zu wissen. Befunde darüber würden daran nichts ändern. Man kann es auch so formulieren: Würde mein Gehirn denken, müsste ich erst in Erfahrungen bringen, was es denkt, bevor ich darüber Auskunft geben kann. „Ich“ und „mein Gehirn“ ist ja nicht so ohne Weiteres dasselbe – man denke nur an Sätze wie „Ich habe einen Fleck auf der Hose“, „Ich bin wissenschaftlicher Mitarbeiter“, usw. Wir können außerdem ja auch Sätze über das Denken historischer Personen aussagen, über deren Gehirn uns nichts überliefert ist.

Wir haben eigentlich zwei (wie auch immer unzulängliche) Analysen versucht: Eine kurze zu Beginn, welche die Attraktivität der Redeweise vom Adrenalin zu erklären versucht (abgesehen vom unbedachten Nachplappern), und eine andere, welche dem Zusammenhang von Aufregung und Adrenalin galt. Man könnte die erste soziologisch oder sozialpsychologisch nennen, die zweite philosophisch. Aber ist das notwendig? Das läuft auf die alte Frage hinaus, ob es für die „soziologische“ Analyse zur Entstehung und Verbreitung einer Denk- und Redeweise notwendig ist zu erörtern, ob sie nach Ansicht des Forschers zutreffend ist oder nicht…

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