Ökonomie der Monogamie (1)

von Benjamin

Eine simple biologische Analyse des Paarverhaltens scheint zu unterstellen, dass Paare relativ isoliert ihren Nachwuchs aufziehen, weshalb die Frau ein Interesse habe, möglichst lange einen Ernährer oder Unterstützer oder eine emotionale Stütze oder was immer zu haben, der Mann aber das Interesse habe, seinen Samen möglichst weit zu verteilen oder eben auch seinen Nachwuchs zu beschützen und dessen Wohlergehen und Status zu sichern, damit die Gene… (und wie solche Erklärungen eben so gehen). Das widerspricht schon den Gegebenheiten in der Mehrheit der nichtindustriellen Gesellschaften. Man muss hier auf der Ebene des Familienverbandes rechnen, und dann gehen ganz andere Größen ein. Die genetische Nähe nimmt mit der Größe einer Gruppe Verwandter schnell ab, die wechselseitige soziale Abhängigkeit tritt in den Vordergrund, und insbesondere die Ökonomie. Die spricht für eine Regelung von Beziehungen, aber nicht zwingend für Monogamie, wie wir analysieren werden. Erst in einem zweiten Teil werden wie sehen, warum diese für uns heute plausibel sein kann.

Bevor man sich einer (scheinbar) konkreten Gegenüberstellung von Mono- und Polygamie widmen kann, muss man erstmal grundsätzlicher zur Kenntnis nehmen, dass es überhaupt eindeutig Kodierungen von Beziehungen gibt. Es ist ja nicht selbstverständlich, dass diese nach dem Entweder-Oder-Prinzip organisiert sind (selbst heutige westliche nichteheliche Beziehungen neigen dazu), sondern viele Übergänge wären denkbar. Und erst wenn es ein solches Prinzip gibt statt offener Beziehungen und feiner Abstufungen im Verhältnis zueinander, kann man Monogamie und Polygamie einigermaßen klar unterscheiden. Beides, die Frage nach der binären Kodierung und dieser Unterscheidung, soll uns als im weitesten Sinne ökonomisches Problem interessieren.

Unter Ökonomie ist natürlich nicht das zu fassen, was man gemeinhin darunter versteht, also das Wirtschaftssystem, unter dem wir als der kleinste Teil der Gesamtmenschheit seit ihrem Bestehen leben. Vielmehr die Versorgung und auch der symbolische Tausch mit nicht mühelos zu erhaltenden Gütern, sofern dies über den Augenblick und die instinktive Bevorratung hinausgeht, über die unmittelbare Versorgung seiner selbst und eventuell noch des Nachwuchses, sondern sofern man in gesellschaftstypischer Weise haushaltet und mit anderen Güter austauscht. Dabei muss nicht „ökonomisch“ gedacht werden in der Weise, die wir für typisch halten, sondern der subjektive Zweck kann auch rituell, magisch, religiös, moralisch usw. sein, die Güter eher symbolischer Art als über ihren reinen Nutzwert, z.B. als Nahrung oder Baumaterial, definiert.

Vormoderne Gesellschaften, selbst noch die ländlichen Gebiete vergangener Jahrhunderte, sind letztlich kleinteilig segmentiert: Diejenigen Personen, die eine enger verbundene Gruppen bilden, die also wirklich häufiger Kontakt haben und sich gegenseitig wesentliche Ressourcen zukommen lassen, umfassen wenige Dutzend bis wenige hundert Personen (spätere Zeiten kennen ja Segmentierungen ganz anderer Größenordnung, in denen man aber nicht in derselben Weise aufgehen kann, wie etwa das Großunternehmen oder den Nationalstaat). Solche Gruppen sind unter vielen Umweltbedingungen zerbrechlich und brauchen ein hohes Maß an ökonomischer Sicherheit und gefestigter Beziehungen zwischen den sie bildenden Familienverbänden. Deshalb gibt es zumeist Regeln über das Zusammenwohnen: Junge Paare leben entweder beim Vater des Mannes oder bei der Mutter der Frau (oder alle bei sich, was dann auf Besuchsehen hinausläuft, in welcher Paare nicht denselben Haushalten angehören, sondern statt des andernorts lebenden Elternteils andere Verwandte eine stärkere Rolle in der Erziehung und Versorgung von Kindern einnehmen). Die Regelung der Wohnstätte geht oft mit der Auffassung einher, was eigentlich eine Familie sei – nämlich oft nicht ein Paar mit Kindern, sondern eine männliche oder weibliche Linie (Patri- oder Matrilinearität) mit den angeheirateten Partnern und den unverheirateten Nachkommen, aber nicht mehr die verheirateten Nachkommen des je anderen Geschlechts, die einer neuen Familie zugehören. Neolokalität, d.h. die Wahl eines neuen Wohnsitzes für Paare, zersplittert die Haushalte, führt zu vermeidbaren Aufwendungen und ist deshalb nur unter bestimmten Bedingungen sinnvoll. Wegziehende Familienmitglieder sind aber unabhängig von der Lokalitätsregelung ein Verlust für den ursprünglichen Haushalt, der sich nicht so leicht anpassen kann: Zu bearbeitende Flächen, zu versehende Funktionen in der Gemeinschaft sind nicht kurzfristig anzupassen, verbleibende Alte, Kranke, unverheiratete Familienmitglieder und Kinder sind zu versorgen, aber plötzlich alles mit weniger Personen. Deshalb kennen viele Kulturen Mitgifte und Halbehen: Zieht das Paar zur Wohnstätte einer männlichen oder weiblichen Familienlinie, so wird diejenige Linie dafür entschädigt, die eine Person verliert, entweder durch Güter oder Arbeitsleistungen, oder indem der Auszug verzögert wird, bis der Verlust „abgearbeitet“ ist (erst dann ist die Ehe voll gültig, während man vorher noch der alten Familie angehört). Auflösungen von Paarbeziehungen wären wiederum mit dem Verlust einer Person verbunden – ob das betreffende Paar nun bereits Kinder hat oder nicht – und müssen deswegen ebenfalls reguliert werden (nicht notwendig verboten, aber formalisiert). Gänzlich ungeregelte Beziehungen zu verschiedenen Partnern würde dagegen bedeuten, dass Zugehörigkeiten und damit auch Leistungen unklar werden. Das heißt aber nicht, dass neben einer offiziellen Partnerschaft nicht noch weitere Beziehungen oder spontane Kontakte bestehen können, sofern die Versorgung aller Beteiligten und des Nachwuchses sichergestellt ist (Vaterschaft ist ja ohne bestimmte Technologien nicht sicher nachzuweisen; es braucht also ohnehin eine offizielle Regelung, welche mit biologischer Abstammung nichts zu tun haben muss, aber die Versorgung und Erziehung sicherstellt).

Eindeutigkeit, Vereinfachung ist in diesen relativ fragilen ökonomischen Strukturen also recht notwendig. Zumindest sollte der Beziehungsstatus binarisiert werden, in ein einfaches Zweierschema: Ehe oder nicht, und eventuell: erlaubter und unerlaubter Geschlechtsverkehr mit anderen, so dass für alle wichtigen Aspekte eindeutige Regelungen bestehen und Personen nicht ökonomisch und hinsichtlich ihrer Zugehörigkeit „in der Luft hängen“.

Polygamie ist nun möglich bei ausreichender Ressourcenversorgung – sie bleibt aber in vielen Gesellschaften ein Phänomen statushoher Männer (Polyandrie ist viel seltener als Polygynie). Man muss es sich leisten können, aufgrund der ökonomischen oder einer Machtposition – oder es braucht umgekehrt Bedingungen, unter denen größere Haushalte vorteilhafter sind. Das heißt nicht einfach nur: mehr Besitz und mehr Ressourcen eines Mannes, denn viele Kulturen kennen eine starke Umverteilung bzw. Vergemeinschaften von Gütern. Zum Beispiel könnte die Zuteilung, etwa von gejagtem Wild, automatisch mit der Familiengröße anwachsen, so dass Polyganie kompensiert wird. In nicht wenigen Kulturen tragen Frauen die Hauptarbeit der Ernährung, so dass ein Zahlenverhältnis von vielen Frauen zu wenigen Männern für einen Haushalt günstig ist. Unter anderen Bedingungen ist der umgekehrte Fall günstiger und Polygamie sozusagen Luxus oder eben verboten. Man darf sich hier Ökonomie nicht einfach als individuelles Wirtschaften und Besitzen vorstellen, sondern muss die genauen Regelungen beachten, wer was behält und weitergibt, die Unterscheidung zwischen privaten und Allgemeingütern und welchen symbolischen Status das aber wiederum bringt, wenn man in all dem eine bestimmte Rolle einnimmt. Zusammenfassend, und weitere Gründe:

„Monogamy is therefore more likely where male resources consist of rivalrous private goods, such as food; where variation across males in resource endowments is low; where there exist few institutions treating food or productive resources as common goods; and where there is little demand for male-provided non-rivalrous public goods, such as defense.“

Und:

„There are a number of ways in which a larger household would increase fitness. First, an additional female allows increased within-household specialization, so that efficiency and diversification increase, improving access to food, an advantage where there is high extrinsic risk due to famine. Second, in environments with high extrinsic risk due to violence, a larger household will be more able to defend itself from others. Third, where the additional female is unrelated to the original female, the network of kin relations linking the household to the surrounding society expands, so that resources during periods of famine and allies during periods of strife are more easily obtained.“

(Dow & Eff, 2010: When on wife is not enough)

Und selbst wenn der im engeren Sinne ökonomische und demografische Druck begrenzt ist, bleibt noch die kognitive und moralische Ökonomie: Eindeutigkeit, die Orientierung schafft und Frieden stiftet. Dass die konkreten Strukturen der Verwandtschaft und Beziehungen (Heirat, Zusammenleben, Geschlechtsverkehr usw.) mit der gedanklichen Vorstellungswelt zusammenhängen und dass dies dem Prinzip der Sparsamkeit folgt, hat George P. Murdock aufgezeigt (in „Social structure“, 1949). Es gibt eine riesige Zahl an möglichen Verwandtschaftsbeziehungen, wenn man alle erdenklichen Differenzierungskriterien anwendet: Gehört die benannte Person zur gleichen, nächstälteren, übernächsten, jüngeren Generation usw., ist sie männlich oder weiblich, mit dem Vater oder Mutter verwandt, über Brüder oder Schwestern eines Elternteils, angeheiratet oder nicht, jünger oder älter an Jahren, noch lebend oder gestorben, geschieden, wiederverheiratet, verwitwet, Erst- der Zweitfrau oder -mann, usw. Alle Kombinationen gehen in die Hunderte wenn nicht Tausende. Man kann unmöglich für alle eine gesonderte Bezeichnung haben und selbst zusammengesetzte werden irgendwann unpraktisch. Murdock hat nun gezeigt, dass bevorzugt jene Verwandtschaftsbeziehungen gesondert bezeichnet und damit von anderen unterschieden werden, für welche es besonders geregelte Beziehungen gibt. Personen etwa, für die das Inzestverbot gilt, werden eher zu einer Kategorie zusammengefasst und häufiger von denjenigen unterschieden, für die es nicht gilt. Das Inzestverbot hält sich kulturübergreifend nämlich kaum an den biologischen Verwandtschaftsgrad, sondern bevorzugte Partner in der einen Kultur können in der anderen absolut tabu sein. Damit eine Kultur Ordnung in diese Dinge bringen kann, wer mit wem (Geschlechtsverkehr hat, die Ehe eingeht, zusammenlebt, gemeinsam wirtschaftet), braucht eine überschaubare, handhabbare Menge an Kategorien und Bezeichnungen. Die Form der Vereinfachung variiert aber eben erheblich.

Es geht bei diesen Heiratsregelungen aber nicht um Ressourcen im Familienverband, sondern auch um die Regelung von dessen Verhältnis mit anderen, als um die materielle und moralische Ökonomie im Austausch mit weiteren Familien. Dafür wird die Beziehungsgestaltung weiter schematisiert. Nicht nur welche Beziehungstypen es gibt, sondern es wird auch vorgeschrieben oder zumindest nahegelegt, mit wem. So gebieten viele Völker die Heirat eines Mannes mit der Tochter der Schwester des Vaters oder des Bruders der Mutter (die Kreuzkusinenheirat). Das erscheint zunächst beliebig, führt aber bei einigermaßen konsequenter Durchführung dazu, dass zwei männliche Linien fortgesetzt Frauen austauschen, denn wenn eine Familie als Reihe der männlichen Vor- und Nachfahren definiert ist, dann gehört eine verheiratete Schwester des Vaters zu einer anderen männlichen Linie und ihre Tochter wird dieser Linie zugerechnet. Umgekehrt könnte der Sohn der Schwester des Vaters wiederum die Tochter des Vaters heiraten, weil sie die Tochter des Mutterbruders ist. Mit diesem Tausch kann ein hohes Maß an Gegenseitigkeit zwischen zwei Familien hergestellt werden, zumal wenn dabei noch weitere Güter ausgetauscht werden. Selbst im einmaligen Fall gehen zwei Familien einer Verbindung ein, die bei einer Parallelkusinenheirat in patrilinearen Familienformen nicht unbedingt zustande käme (wenn ein Mann die Tochter der Schwester der Mutter heiratet bleibt das Paar bleibt bei Patrilinearität ganz in der Familie – aber auch sein Besitz!). Im modernen System, bei dem man abstammungsmäßig zwei Herkunftsfamilien zugehört, bzw. in einer je neue Familie geboren wird und eine solche gründen kann, herrscht ein verallgemeinerter Tausch, d.h. die Familien geben Söhne und Töchter zwecks Heirat, aber ohne Gegenseitigkeit. Eltern und Schwiegereltern tauschen in der Regel nichts mehr im eigentlichen Sinne aus und können sich recht fremd bleiben, die neue Familie sich von beiden absetzen. So ist die Gesellschaft, zumal ob ihrer Größe, nicht mehr durch Verwandtschaftsbeziehungen zu integrieren und zu befrieden, während es umgekehrt auch nicht mehr nötig oder legitim scheint, Ressourcen durch Heirat innerhalb derselben Linie in Familienhand zu behalten.

Es geht bei dem Aspekt der Ordnung und Befriedung nicht einfach um gemütliches Zusammenleben, sondern kann eine Frage von Krieg und Frieden, von Mord und Totschlag sein. Ressourcen müssen auch für die Verhinderung von Frauenraub und Vergewaltigung, Gattenmord und Fehden eingesetzt werden, Zweit- und Drittfrau (oder die seltenen Zweit- und Drittmänner) können in Streit verfallen, Männer (und je nach Praxis der Kriegsführung auch Frauen) im Krieg zu Tode kommen. Verteidigung muss also ebenfalls als wichtige Ressource gesehen werden, die ja nach der Art der möglichen Konflikte für individuelle Partner oder kollektiv geleistet werden muss und damit unterschiedliche Auswirkungen darauf hat, wie viele Personen man ehelichen kann und will. Außerdem können tödliche Auseinandersetzungen die Geschlechterverhältnisse verschieben und den Druck erhöhen (auch wieder abhängig von der Notwendigkeit, sich versorgt zu sehen!) mehr oder weniger Partner, diese oder jene Partner zu nehmen oder neben sich zu akzeptieren.

(Fortsetzung folgt)