Ökonomie der Monogamie (2)

von Benjamin

Nachdem wir ein wenig die im weitesten Sinne ökonomischen Überlegungen rund um Monogamie und Polygamie erörtert haben, interessiert uns vielleicht die Statistik: Wie häufig sind diese Formen nun im Vergleich der Kulturen? Wir werfen also einen Blick in die Daten und sind überrascht: George P. Murdock und Douglas R. White haben eine Stichprobe von Kulturen initiiert, für die standardisiert Merkmale erhoben werden (hinsichtlich der herrschenden Wirtschaftsformen, Familienstrukturen, Ritualen, Erziehungsweisen, Umgangsweise mit Konflikten usw.). Die Kulturen sind so gewählt, dass sie möglichst voneinander, durch westliche Christianisierung, Modernisierung usw. unbeeinflusst und gut dokumentiert sind (die 186 Kulturen betreffen überwiegend Stammeskulturen, aber auch einige moderne und historische Fälle). In diesem Standard Cross-Cultural Sample (SCCS, vgl. das Codebuch; zu den hier interessierenden Variablen näher diese Darstellung) herrscht in nur 16% der Gesellschaften echte Monogamie (unter 1% lebt polyandrisch), 7% leben in monogamen Kernfamilien und 5% siedeln neolokal. Es ist klar, dass diese Stichprobe nicht primär dem Zweck dienen kann, Anteile bestimmter Formen zu untersuchen, sondern Zusammenhänge herzustellen, weil sie zwar möglichst vielfältig und umfangreich, aber nicht im strengen Sinne repräsentativ sein kann. Trotzdem mögen die Häufigkeiten zum Ausdruck bringen, was einigermaßen gängig und selten ist.

Man darf aber auch nie vergessen, dass für die kleine Minderheit an Gesellschaften mit außergewöhnlichen Strukturen (Polyandrie, Besuchsehe usw.) diese die natürlichste (oder übernatürlichste) Sache der Welt sind. Das ist genau ihre Art zu leben (eben ihre Welt), umso mehr als diese mit anderen Gegebenheiten meist gut zusammenpassen (in der Vorstellungswelt und funktional gesehen), insbesondere den Bedingungen des Wirtschaftens, vor allem unter den geografischen Bedingungen und abhängig von benachbarten Gruppen, mit denen man sich friedlich austauscht, im Konflikt liegt oder sich ignoriert. Aber die Lebensweise ist eben auch diejenige, die einem überliefert oder oktroyiert wurde oder die bei Migration in neue Umwelten erhalten blieb. Das heißt also: Verschiedene Aspekte einer Kultur müssen zwar einigermaßen zusammenpassen (Matrilokalität und Polgynie passen schwer zusammen) und das Überleben sichern, aber eine einmal erworbene Kultur hat ein Eigengewicht und kulturelle Überlieferung oder Überformung überbringen ganze „Pakete“ kultureller Elemente, von denen nicht alle Teile funktional sein müssen.

So zeigen einige Auswertungen des SCCS und anderer Daten, dass Monogamie in der Tat kulturell zwischen benachbarten und sprachlich verwandten Gesellschaften übermittelt sein könnte, aber auch häufiger ist bei komplexerer Arbeitsteilung, gleicherer Ressourcenverteilung und günstigen natürlichen Bedingungen (anderer Studien aber auch: bei weniger Ackerland, aber großen Beitrag der Frauen zur Versorgung), seltener dagegen bei hohen Krankheitsrisiken und hohem Gewaltpotenzial. Freilich muss man zugestehen, dass die Forschungslage schwierig ist, da viele Einflussfaktoren auf die Eheformen untereinander zusammenhängen und es kompliziert ist, ihren jeweiligen Einfluss klar von demjenigen anderer zu trennen. Außerdem verwenden die Studien unterschiedliche Datengrundlagen und Auswertungsverfahren. Jedenfalls darf man schlussfolgern, dass Monogamie oder Polygamie nicht einfach in allen Fällen biologisch vorteilhaft sind, sondern damit zusammenhängen dürften, wie man je nach Umgebung, abhängig von Krankheiten, Nahrungsangebot, Kriegsführung usw., überleben kann und wie verschiedene Regeln des Zusammenlebens untereinander verknüpft sind und überliefert wurden.

Vereinfachung der Beziehungsstrukturen führt dazu, dass wiederum komplexe soziale Strukturen aufgebaut werden können (Vereinfachung heißt aber nie vollständig schematische Betrachtungs- und Handlungsweisen, sondern auch eine nötige Flexibilität und Kreativität). Wenn alle mit allen können und dürfen, entsteht ein nicht offensichtlich strukturierter Heirats-„Markt“ (der natürlich bestimmte Verteilungen und damit Strukturen hervorbringen kann, also wer mit welcher Wahrscheinlichkeit was abbekommt; das ist aber nicht so offensichtlich wie klare Regeln, die allgemein bekannt sind). Wenn Beziehungen dagegen binär und exklusiv kodiert und auch ansonsten kodifiziert sind, also nach bestimmten Regeln geschlossen werden, kann man auf ihnen komplexe Strukturen aufbauen. Die Wahrnehmungs- und Verarbeitungskapazität geht nicht dafür drauf, komplizierte Einzelbeziehungen zu verstehen, sondern dafür, basierend auf einfachen Beziehungen komplizierte Strukturen zu praktizieren. Verwandtschaftsverhältnisse können dann weite Teile des gesellschaftlichen Lebens regeln, weil man sehr weit damit kommt, relativ klare Unterscheidungen und Regeln wenn nötig vielfach zu kombinieren und durchzudeklinieren. Sind Beziehungen dagegen vielgestaltig und offen, werden sie selbst problematisch und kann man damit auch keinen Staat, keine organisierte Wirtschaft usw. machen, sondern man hat wie heute überwiegend einen gesonderten Staat und eine eigentliche Wirtschaft mit Unternehmen, die nicht mit Verwandtschaftsstrukturen zusammenfallen. Diese neuen Systeme sind komplex, brauchen aber wiederum Vereinfachungen, damit Einzelne damit umgehen können, wie etwa eine Währung und die eindeutige Unterscheidung von Kaufen und nicht Kaufen bzw. Zahlen und nicht Zahlen, oder scharf abgegrenzte Abstimmungssysteme (Partei A oder Partei oder Partei C; für die Maßnahme oder gegen die Maßnahme usw.). Umgekehrt bedeutet deren Existenz gerade, dass die persönliche Beziehung sich darauf konzentrieren kann, Beziehung zu sein und damit kompliziert und vielgestaltig zu werden. So kann sie sich aber gerade auch wieder an die Erfordernisse anderer Bereiche der Gesellschaft anpassen (z.B. an die Erfordernisse der Wirtschaft, mit Fernbeziehungen statt Lokalitätsregeln), ohne darin aufzugehen. Diese Beziehung bzw. die Familie ist dann zunehmen davon befreit, sehr viele verschiedene Funktionen zu erfüllen, also zugleich ein wirtschaftliches Tauschgeschäft bzw. die wirtschaftliche Einheit überhaupt zu sein, ein „politischer“ Pakt zwischen Gruppen, Träger der verschiedensten rituellen Funktionen usw.

Zusammengefasst: Vormoderne, kleinteilig segmentierte Gesellschaft – die Familienstruktur übernimmt vielfältige Funktionen und ist deshalb detailliert geregelt, aber in recht schematischer Weise, selbst wenn das nicht im Detail befolgt wird. Moderne Gesellschaft – die Familienstruktur oder oft auch die reine Zweierbeziehung kann innerlich komplex werden, ist aber tendenziell (!) losgelöst von anderen Funktionen und weniger geregelt, nur sehr abstrakt kodiert (zusammen/nicht zusammen, meist ohne konkrete Vorgabe oder Mitspracherecht anderer bei der Wahl des Partners). Andere Funktionen werden von entsprechenden Gesellschaftsbereichen wie Staat und Wirtschaft übernommen, basierend nicht mehr auf Familienstrukturen, sondern oft anonymen Verhältnissen (Anbeiter und Nachfrager, Wählerinnen und Politikerinnen müssen nicht kennen), was mit der Flexibilität korrespondiert, mit der Personen Partner, Wohnorte usw. wählen und auch wieder verändern können. Personen können sich teils befreit von anderen Funktionen, teils in Anpassung an deren großmaßstäblichen Erfüllung in den genannten Gesellschaftsbereichen zusammentun und lösen.

Die Beziehung wird „privat“ (ihrem idealen Kern nach nicht-ökonomisch, nicht-politisch, selbst wenn sie weiterhin anderen Einflüssen unterliegt) und „romantisch“. Man könnte meinen, diese relative Eigenständigkeit spräche für eine Abkehr von starren Prinzip der Monogamie. Das hat sich aber nur zum Teil bewahrheitet.

Romantik ist Verschwendung ökonomischer Ressourcen, indem man gerade bekundet, dass es auf diese nicht ankommt und sie deshalb scheinbar ohne Sinne und Verstand (natürlich in Wirklichkeit trotzdem wohldosiert) herauswirft. Verschwendung nicht nur des Geldes (das nicht alle gleichermaßen haben), sondern auch der Zeit. Zeit fürs Reden, Zeit für das Lesen von Romanen (sowie Zeit und Mittel für das Lesenlernen), denn Romantik kommt aus den Romanen, wenn diese alte These gestattet ist, oder ihren heutigen Nachfolgern. Diese aufwändige Beschäftigung mit Romantik hat Folgen: Die Kompliziertheit der jeweils anderen Person und der Beziehung, der Glaube an die Vollendung des Menschen in der Liebe, die Widerspiegelung im anderen, die Unerschöpflichkeit des Wesens der anderen usw,, insgesamt die gesteigerte Intensität und Komplexität der Partnerschaft sowie die Forderung nach einer idealtypischen Einheit der Liebe („geistige“ Beziehung, Sexualität. Alltag etc.) machen sie jetzt zu einem seltenen Gut. So verbieten sich allzu viele vollgültige Beziehungen gleichzeitig. Ja viele hängen eben der Überzeugung an, man könne nur eine haben (gar nur die eine wahre im Leben), weil die beschriebene Intensität und Komplexität unteilbar seien. Sofern man sich natürlich dieser historisch erst gewachsenen, eben „romantischen“ Vorstellung nicht verweigert.

Auch diese Form der Beziehung und ihre Verweigerung (schon das ein Dualismus, in den die Gesellschaft das Verhalten tendenziell zwingt: Entweder es ist eine Beziehung oder ein Seitensprung, eine klassische geschlossene oder eine offene Beziehung) führen zu ökonomischen Problemen, die nach einigermaßen überschaubaren und handhabbaren Regelungen zu verlangen scheinen (so zumindest die sozial vorherrschende Auffassung).

Erstens will man auf die Regelung ökonomischer Angelegenheiten in Paarbeziehungen nicht verzichten, heute etwa durch den Staat und mittels Verträgen beim Notar. „Es ist kompliziert“, ließe sich als Beziehungsstatus schlecht steuerrechtlich fassen. Verträge unter mehr als zwei Personen zur gemeinsamen und getrennten Verfügung über Güter lassen sich durchaus denken, werden aber in eine andere Kategorie eingeordnet als der Ehevertrag. So viele andere Beziehungen man haben mag, es bleiben doch Schematisierungen, oft in komplexitätsreduzierender Weise auf das exklusive Verhältnis zweier Personen reduziert,

Man versucht die Probleme heutiger komplexerer Beziehungsgestaltung zweitens mit Rekurs auf biologische Fakten zu beheben. Nehmen wir etwa an, eine Frau A. ist promisk eingestellt oder teilt ihre ernsthafte Liebe zwischen zwei Männern auf, sagen wir dem finanz- und zeugungskräftigen B. und dem arbeits- und mittellosen aber ebenso fruchtbaren C. Wenn sie nun innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums mit beiden Geschlechtsverkehr hat und schwanger daraus hervorgeht, so ist es eine reine Lotterie, wer von den beiden Herren der biologische Vater ist. Wenn insbesondere keiner von beiden sich genötigt fühlt, die so genannte soziale Vaterschaft zu übernehmen, und weil man aus ihrer Sicht nicht unbedingt Geld verschenkt, stellt Frau A. die Vaterschaft fest und lässt den Erzeuger Unterhalt zahlen. So ergibt sich quasi per Zufall, wer von beiden hierzu verpflichtet wird und in welcher Höhe die Restfamilie mit einem Zusatzeinkommen rechnen kann. Man kann die Lotterie der Vaterschaft und Zahlungsverpflichtung für gerecht halten (während es kurios ist, dass die Höhe der Unterstützung von Kindern davon abhängt – aber sonst ist es ja auch so, dass man qua Geburt einer mehr oder weniger begüterten Familie zugelost wird): Zuteilung unteilbarer Verpflichtungen per Los ist ein altes Verfahren, das Gleichheit verbürgen soll. Man wird auch eingestehen, dass der Nachweis des unzureichend geschützten Geschlechtsverkehrs mit dem Mann, der nicht der biologische Vater ist, schwer zu führen sein wird. Trotzdem schwebt über diesem Fall die biologische Elternschaft wie ein Gottesurteil. Wenn sie in anderen Fällen der Eitelkeit schmeichelt und als eine Art Verdienst an der natürlichen Ordnung erworben wird, so ist sie hier Verpflichtung wider Willen aufgrund höherer Fügung. Sie ist ein unsichtbares Band zwischen Elternteil und Kind, welches als das allerrealste gilt (ganz im Gegensatz zu den „weichen“ Beziehungen, welche „nur“ sozial, freiwillig usw. sind). Man kann die biologische Elternschaft als Notbehelf rechtfertigen, um eine Versorgung von Kindern sicherzustellen, welche Alleinerziehende oder Patchwork-Familien nicht leisten können. Sie wäre ein Ausgleich für die Tendenz, die Fürsorge für Kinder überwiegend den Frauen zuzuschieben und möglicherweise zur Zeugung führenden Geschlechtsverkehr aus Männersicht zu banalisieren, so als sei es nicht ihr Problem, wenn dabei eine schwanger wird (man kann natürlich auch die umgekehrte Tendenz beobachten, dass manche Frauen eben die Aufzucht der Kinder für sich monopolisieren wollen und sich eine alleinige Kompetenz darin zubilligen – die Polemiken dazu füllen das Internet und die Leserbriefseiten). Aber dass biologische Elternschaft das unausweichliche, allerhärteste und aufgrund ihrer „Natürlichkeit“ einzig richtige Kriterium sei, die Verhältnisse in niemals entstandenen, bestehenden und aufgelösten Beziehungen und Familien zu regeln, kann als Ausweis eines Biologismus gelten, der statt nach unabhängigen Gerechtigkeitskriterien und Modellen des guten Lebens und Zusammenlebens zu suchen, zufällige Fakten der Natur zum selbstverständlichen Gesetz erheben will. Insbesondere da ja andere Zeiten und Kulturen eben dieses Kriterium nicht nutzen konnten, aber darüber nicht verdrießlich wurden, sondern andere entwickelten, die sie wiederum für die natürlichste Sache der Welt hielten.

Biologismus ist nicht die Rückkehr zur Natur, sie ist die Wiederkehr der Natur auf einer anderen Ebene: Eine Vorstellung von Natur wird zur sozialen Norm oder zur Erklärung von Verhalten, weil sie offensichtlich nicht so selbstverständlich ist, wie die Natur selbst eigentlich ist (die Natur braucht keine Normen, um das „Natürliche“ herzustellen, sie ist schon natürlich). Dass man sich den Kopf über Monogamie zerbrechen kann, zeigt also, dass uns weder von der Natur, noch von der Kultur klare Anweisungen und Begründungen mitgegeben sind, sondern sie eine vieldeutige Vereinfachung ist, die wie alle Vereinfachungen mehrere Seiten hat. Eine dieser Vereinfachungen lautet heute eben auch, dass man es „natürlich“ machen solle, was immer das heißt. Die Natur des Menschen ist ja nun einmal die Kultur.

(Nun mögen die Ethnologen und andere wirkliche Auskenner kommen und mir auf die Finger klopfen, weil ich Unsinn geschrieben habe. Aber ich wollte nur eine bestimmte Grundbotschaft vermitteln: Eine verbreitete, allzu vulgäre Soziobiologie denkt immer nur an Sex bzw. projiziert das immer in andere. Freilich muss der Mensch auch überleben, sich in der Welt zurechtfinden, in einigermaßen geordneten Verhältnissen mit anderen leben, wozu man nicht nur mit dem Schwanze und der Gebärmutter denken darf. Sofern nun die populäre Theorie des Paarverhaltens das anerkennt, dass man auch überleben muss, übersieht sie freilich oft weiter, dass das scheinbare Standardmodell der monogamen Kleinfamilie mit dem womöglich zum Seitensprung neigenden Ernährer hierzu nicht unbedingt die beste Lösung ist. Außerdem wollte ich mal gesagt haben, dass bevor man Polygamie und Monogamie diskutieren kann, sich erst einmal darüber wundern muss, dass Beziehungen überhaupt binär kodiert und dann weiter geordnet werden. Es ist also auf den ersten Blick erstaunlich, dass gerade in fragilen Gesellschaften Beziehungen so detailliert geregelt werden anstatt sie einer „natürlichen“ Auswahl zu überlassen. Das klärt sich aber auf, wenn man die Vorteile dieser Formen des Zusammenlebens und ihre Verbindung untereinander und zu anderen Eigenschaften einer Kultur berücksichtigt.)

Zum Weiterlesen:

Einige neuere Studien, auch wenn ich nicht allen Schlussfolgerungen zustimmen würde und die unterschiedlichen verwendeten Daten und Auswertungsverfahren einen Vergleich erschweren:
Ember, Ember & Low (2007). Comparing explanations of polygyny.
Barber (2008). Explaining cross-national differences in polygyny intensity. Resource-defense, sex ratio, and infectious diseases.

Ferner einige Klassiker:

Murdock, Social structure
Lévi-Strauss, Les structures élémentaires de la parenté (Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft)

Zur heutigen Romantik:

Luhmann, Liebe als Passion
Illouz, Der Konsum der Romantik

In meinem Buch gibt es auch ein Kapitel zu heutigen nichtehelichen „festen“ Beziehungen („Akte der Paarbildung“).