Abschweifungen anlässlich des NSU-Prozesses (1): Opfer, Taten und Täter

von Benjamin

Man beklagt häufig, dass bei der Behandlung von Kriminalfällen die Opfer nicht im Mittelpunkt stünden. Abgesehen von Fällen, wo weder Opfer noch Täter sonderlich beachtet werden (wie im Zuge der Diskussion über Presseplätze beim NSU-Prozess) scheint mir, dass generelle Vorstellungen von Handeln und insbesondere von Verbrechen es mehr oder weniger ungewollt nahelegen, dass Opfer in spezifischer Weise missachtet werden. Handeln, so stellt man es sich vor, ist Verhalten eines Menschen, dem eine Absicht desselben zugrunde liegt, ein Sinn derart, dass das Verhalten das ist, was man tun will. Jemand begeht so zwar nicht so sehr Verbrechen, aber eine Tat (zum Verbrechen wird die Tat ja erst durch Gesetzeswidrigkeit, die in der Regel nicht bewusst gesucht wird, nicht der Endzweck darstellt). Der Sinn ergibt sich also offenbar durch die Bedeutung für die Ausführenden, indem man vergisst, dass Handeln auch für alle erdenklichen weiteren Personen Sinn haben kann. Aber gerade die Behandlung von Verbrechen legt noch weiter die Sinnperspektive der Täterinnen und Täter nahe, beruht doch die rechtliche Beurteilung wesentlich auf der Absicht bzw. den Motiven (so unterscheidet man zwischen Mord und Totschlag, Fahrlässigkeit und Vorsatz usw.). Ein Verbrechen ergibt sich, so die vorherrschende Betrachtungsweise, durch das Verhalten und seine beabsichtigten oder vorherzusehenden Konsequenzen. Um dies festzustellen, muss die Person der Durchführenden näher ausgeforscht werden. Auf Seiten der Opfer dagegen setzt das Rechtssystem darauf, dass der subjektive Schaden aus einer Straftat sich einigermaßen selbstverständlich ermessen lässt, so das man kaum eine nähere Untersuchung für notwendig hält (also wie „schlimm“ eine Körperverletzung, Todesdrohung oder – was nur auf den ersten Blick paradox erscheint – auch ein Mord war). Selbst wenn man jemandem vorwirft, dass man hätte wissen können, wie besonders schwerwiegend eine Tat für ein Opfer ist (also die Standardannahme der Schwere nicht recht greift), dann muss hauptsächlich erörtert werden, inwieweit der Täter das hätte wissen können oder in Erfahrung bringen müssen. Selbst der Verweis auf die Besonderheit der Leiden des Opfers führt wieder zurück zum Sinn der Tat durch die Täterin. So funktionieren eine Moral und ein Rechtssystem, ja funktioniert eine verbreitete Handlungstheorie, die Handeln als Verhalten begreifen, das für Handelnde sinnhaft ist. Man ist im Alltag und auch in der Wissenschaft geneigt, alles sinnhafte Geschehen als Handeln zu begreifen (oder andernfalls als natürliches Geschehen rund um intentionslose Dingen) und darüber das Erleben zu vergessen. (Früher war die Philosophie von der – sicher überzogenen – Vorstellung durchzogen, dass man so gut wie alles säuberlich in aktiv und passiv einteilen könnte, und dachte deshalb in Doppelbegriffen wie Wirken und Erleiden bzw. Handeln und Erleiden – „Erleiden“ dabei in einem neutraleren Sinn als heute; und heute denken eben nur noch wenige „Handeln“ als Gegenbegriff zu „Erleben“ oder eben „Erleiden“.)

Wie nehmen nun Menschen an Handeln teil? Komische Frage, wird man sagen: Jemand handelt, und die anderen sind betroffen, schauen zu oder haben gar nichts damit zu tun, und handeln dann womöglich ihrerseits! Aber Menschen sind sehr unterschiedlich im Handeln impliziert. Selbst Täter sind nicht mit der Fülle all ihrer Eigenschaften eingebunden, sondern nur im Hinblick auf bestimmte. Sie erscheinen als Person, die… Personen ermordet hat, ein Neonazi ist, sich versteckt hielt usw., nicht aber: die Schuhgröße 42 hat, Gallensteine, eine Vorliebe für Weißbier etc. Manches mag zum Verstehen der Tat beitragen, etwa die redensartliche „schlecht Kindheit“, aber will man Handeln als eine Einheit überhaupt noch begreifen (was natürlich immer Züge eines willkürlichen Zuschnitts hat), muss man dasjenige eingrenzen, was darin wesentlich eingeht und teilhat. Auf Seiten der Handelnden rechnet man üblicherweise dazu den beschriebenen Sinn und zahlreiche verkörperte Fähigkeiten (wozu jemand überhaupt in der Lage ist), Neigungen (welche Zustände man vorzieht), Vorstellungen (was man wissen konnte oder sich so dachte), und damit schon relativ viel. Täterinnen sind ziemliche Individuen, obwohl in ihrer Eigenschaft als Täterinnen keine ganzen Menschen, sondern indem man sie als Täterinnen beschreibt: eine Rolle.

Den Versuch, ganze Menschen zu berücksichtigen, machen nur bestimmte Bereiche der Gesellschaft, etwa Liebesbeziehungen oder bestimmte Therapien. Das Rechtssystem näher sich dem zwar im Zuge der „Psychiatrisierung“ der Beurteilung von Taten dem an, erreicht aufgrund der formalen Einteilungen des im System berücksichtigten Handlungstypen aber auch schnell Grenzen der Individualisierung (man muss sich „nur“ festlegen, ob es Mord oder Totschlag oder nichts davon war). Täter können sich dann immer noch beklagen, dass sie nicht in ihrer gesamten Personen oder ihren gesamten Beweggründen gewürdigt wurden.

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 Es scheint üblich zu sein, im Gedenken an, oder als Ausdruck des Mitgefühls für die Opfer schwerer Straftaten (rhetorisch) zu fragen: Warum? Ein wenig erinnert diese Frage an ein philosophisches Rätsel, das sich den Einzelnen stellt: Es gibt so viele verschiedene Menschen; sie leben in verschiedenen Zeitaltern, halten sich an verschiedenen Orten auf, haben so ihre Körper, Tätigkeiten, Beziehungen usw. Und als Einzelne und Einzelner kann man eine Person herausgreifen und in allen Details beschreiben, so dass man meinte, man wüsste nun annähernd das Wichtigste über diese Person. Aber in der Beschreibung fehlt, selbst wenn man alle Aufenthaltsorte zu allen Zeiten im bisherigen Leben, alle Körpermerkmale und Verhaltensweisen beschrieben hätte, dann womöglich eine entscheidende, für einen selbst höchst bedeutsame Information: Dass man diese Person selbst ist, dass das „ich“ bin. Da gibt es so viele verschiedene Leute, und alle haben ihre Eigenschaften, und irgendeine Person daraus hat die seltsame, rätselhafte Eigenschaft, „ich“ zu sein. Und das ist nicht einfach eine beliebige zusätzliche Information. Man redet zwar davon, wie es wäre, wenn ich diese oder jene Person wäre („wenn ich der Anwalt von Beate Zschäpe wäre, würde ich diesen Antrag nicht stellen“), aber wenn man das zu weit treibt, werden diese Aussagen sinnlos: „Wenn ich Beate Zschäpe wäre…“ – das kann heißen: Wenn ich (mit meinen sonstigen Eigenschaften) an dieser Stelle wäre (wie an der Stelle des Anwalts, aber mit meiner mir eigenen Urteilskraft)…; aber wenn ich sie nun in der Weise wäre, dass ich all ihre Eigenschaften hätte, welche Bedeutung hätte dann noch „ich“? Was wäre der gemeinsame Sinn zwischen Sätzen, in denen „ich“ in der Bedeutung der Person mit meinen Eigenschaften vorkommt, und Sätzen über das Gedankenspiel, dass „ich“ Beate Zschäpe mit all ihren Eigenschaften wäre? „Ich“ zu sein ist also keine beliebige Eigenschaft. Es ist die Kombination aller möglicher Eigenschaften mit dem seltsamen Zufall, dass man auf bestimmte Weise erlebt, wie diese Eigenschaften vorliegen und auch sonst bestimmte Dinge erlebt, die andere an einer Person (mir) mit bestimmten Eigenschaften nicht in derselben Weise erleben (andere können wissen, dass ich von einem Verbrechen betroffen bin, erleben das aber nicht in der Weise wie ich selbst). Dass ich diese Person bin, liegt nicht in meiner Hand, sondern ist das Ergebnis einer manchmal grausamen Lotterie des Lebens.

Wenn man ein sehr simples Modell von Verbrechen zugrunde legt, kann man sich durchaus vorstellen, es zu begehen: Man vollzieht die zugehörigen äußerlichen Verhaltensweisen und tut das mit Absicht (bei einem sehr einfachen Verständnis von „Absicht“: Man weiß, was man tut und hat genau das auch vor – gleich aus welchen Gründen oder Antrieben, denn sobald man bestimmte Gründe anerkennen und Antriebe aufweisen würde, wäre man womöglich nicht mehr so recht man selbst). Sobald ein Verbrechen umfassender betrachtet wird, aus der ganzen Person fließend, als Reaktion auf, oder unter dem Eindruck von verschiedensten anderen Situationen und Handlungen, mit verschiedenen Graden der Bewusstheit, mit wechselnden Sinnzuschreibungen – sobald man also ein Verbrechen derart umfassend betrachtet, gewinnt es eine Fülle an Bedeutungen, die man nicht mehr einfach isoliert von einer Person in einer andere verpflanzen kann. So kann man sich nicht mehr einfach vorstellen, dass man es selbst begeht. Das heißt nicht, dass man nicht bei einer Beschreibung handhabbare Abgrenzungen treffen und bei einer Deutung in mühevoller Rekonstruktion verschiedene Aspekte des Sinns eines Verbrechens erschließen könnte. Aber es ufert aus, hat eine Vorgeschichte, ist der Kreuzungspunkt vieler Linien in einer Person. Selbst wenn sich Verbrechen mangels Kreativität und durch ähnliche Einflüsse doch recht standardisiert darbieten, muss man zu ihrem Verständnis und zu ihrer Beurteilung auf einen nichtbeliebigen Knotenpunkt schauen, in den man sich nicht versetzen kann, ohne dass man nicht mehr man selbst ist.

Tendenziell anders auf Seiten der Opfer: Das Verbrechen schlägt in der Regel plötzlich zu, achtet oft nicht auf die Vorgeschichte, ja praktisch nicht auf die Identität der Opfer. Sie werden nur stellvertretend für eine Kategorie relevant (Personen mit Handtaschen, oder „Ausländer“). Das Verbrechen, sofern es nicht auf besonderen Beziehungen beruht, widerfährt den Opfern zufällig; es gibt keinen für sie nichtbeliebigen Grund, dass sie diese Person sein sollten, welche… Das Verbrechen ist so das schwere „Los“, das einen fragen lässt, warum man die Person ist, oder warum ein Angehöriger diese Person ist, welche…

Das alles, es sei erinnert, gilt für eine Definition des Verbrechens als eine Tat, nicht als ein Erleben, ein Erleiden, ein Widerfahrnis. Es hat sich angedeutet, dass ein Verbrechen sich von einem isolierten Akt in eine Fülle verwandeln lässt. Ebenso könnte auch die Fülle des Erlebens (darunter die Sinnleere des Betroffenseins) zum Thema werden, wenn man denn eine entsprechende Perspektive auf Handeln und Verbrechen einnehmen würde, nur dass das Betroffensein dadurch nicht seine Beliebigkeit verliert. Das Verbrechen als Akt wird also auch etwas, von dem man sich fragen kann, wie jemand die Person wurde, welche…, oder wie dieser Akt zustande kommen konnte – so wie man das eben für das Erleiden fragen kann. Die Symmetrie, welche diese bestimmte Betrachtungsweise herstellt, bedeutet aber gerade nicht, dass man Handeln und Erleiden einfach gegeneinander aufrechnen kann. Schon eine sehr einfache Betrachtung (Verbrechen als Akt mit Absicht) leistet dies schon nicht mehr: Nicht alles, was Betroffenen geschieht, liegt in der Absicht. Es bleiben Folgen, die durch das Handeln unabgegolten sind. In beide Richtungen: Man kann mehr gewollt haben (versuchter Mord), oder mehr bewirkt haben (kleine, nicht absichtsvolle, nicht einmal fahrlässige Handlungen mit schrecklichen Folgen). Das Rechtssystem trennt, zumindest heute und in der vorliegenden Kultur, zwischen beiden Seiten und erlaubt auch sonst keine „Abrechnung“: Täter müssen sich nicht alles zuschreiben lassen und schon gar nicht selbst wieder erleiden, was die Opfer erlitten, und schon gar nicht kann das „umgebucht“ werden auf andere. Weder muss z.B. die Familie der Täterin für ihre Taten stellvertretend büßen, noch muss sie selbst alleine alles auf sich nehmen, wenn Mittäter nicht mehr greifbar sind. Je feiner Handeln und Erleben aufgelöst werden, desto mehr treten beide auseinander und wird es offenbar, dass die Perspektiven nicht einfach miteinander zu vermitteln sind. Das Verbrechen hat für beide Seiten und für andere verschiedene Bedeutungen, und das Geschehen und Erleben auf beiden Seiten liegt am Kreuzungspunkt verschiedenster Einflüsse, so dass die Gleichung nicht mehr gilt, dass dem absichtsvollen Handeln ein Erleiden entspricht, dass irgendwie proportional zum Handeln ist.

Sofern nun das Rechtssystem sich mit der Seite des Handelns befasst und somit das Erleiden nur als schematische Annahme berücksichtigt oder nur das für Täter Erwartbare berücksichtigt, insoweit ist das System nicht automatisch der Bereich, in welchem das Erleben von Opfern detailliert gewürdigt wird. Opfer erbringen zwar den Nachweis, dass sie geschädigt wurden, aber letztlich läuft die Verhandlung darauf hinaus, ob das auf die Angeklagten zurückgeht, sie das hätten wissen müssen, beabsichtigten, in Kauf nahmen usw. und wie sie sonst auf die Tat kamen. Wird diese Seite des Verbrechens betrachtet, ist es unwahrscheinlich, dass die andere automatisch in sinnvoller Weise behandelt wird. Das heute Rechtssystem ist also nicht so konstruiert, dass es beides leisten kann. Die Seite des Erleidens voll zu würdigen, ist nicht eigentlich Teil des Rechts. Man könnte höchstens denken, dass die Organisationen, in denen Rechtsprechung geschieht, diese zweite Funktion ebenfalls (verstärkt) aufnehmen, aber hier stellt sich ja die Frage, ob dies eine geeignete Vorgehensweise ist. So bleibt aber umgekehrt diese Funktion in der Gesellschaft „ortlos“, es gibt kein Teilbereich, der dies systematisch und offiziell übernehmen würde, gleichsam mit Rechtsanspruch aus Sicht der Betroffenen und dem Universalitätsanspruch aus Sicht des entsprechenden Teilbereichs (also für alle Fälle zuständig zu sein, wie das Rechtssystem für alle verbrecherischen Taten in seinem Einzugsbereich). Es würde sich ja auch die Frage stellen, worin genau die Funktion liegen sollte: Dass man seine Erlebnisse berichtet, Entschädigung erhält (was zu einem Teil rechtlich geschieht, aber nur sofern es Adressaten für Ansprüche gibt), Therapien in Anspruch nimmt (was ja als Problem des Gesundheitssystems definiert wurde, mit welchen Unzulänglichkeiten auch immer) oder sonstwie in seiner gesamten Person gewürdigt wird (was ja quasi bereits der Funktion eines spezialisierten Systems zuwiderläuft). Ich bewerte damit nicht irgendwelche bestehenden Zustände, sondern betrachte einfach die nicht immer wünschenswerten Folgen von Vorstellungen über Handeln und Erleben und der Funktionsweise von Teilsystemen der Gesellschaft.

Und insgesamt wollte ich darauf verweisen, was es bedeutet, diese Person zu sein, welche es durch bösen Zufall erlitt, Opfer eines Verbrechens zu werden oder einem solchen Opfer nahezustehen, nur weil sie „Ausländer“ ist, eine Eigenschaft, die für sie und für viele auch noch in vielerlei Hinsicht völlig sinnlos ist.