Zeit haben

von Benjamin

Zeit haben. Welch ein seltsamer Ausdruck! Die Sprache ist wieder einmal weise und sie ist verführerisch oder verwirrend vieldeutig. Man hat ja genau dieunddie Zeit, seine unbekannte Lebenszeit. In diesem Sinne kann man mehr oder weniger haben, aber das ist selten gemeint (höchstens wenn man selbst weise geworden ist und über ein genaues Vorhaben verfügt, für das die Lebenszeit nicht ausreichen wird: Ach hätte ich [oder oft: Ach bliebe mir] nur mehr Zeit, ich würde eine umfassende Geschichte der Zeit schreiben!). Sonst hat man zwar Zeit (man überspringt ja nicht etwa einen Zeitraum), kann aber etwas Bestimmtes nicht tun (hat „keine Zeit“). Die Rede vom Zeit-Haben changiert zwischen mehreren Sprachbildern. Zunächst Ausdrücke, die einen Besitz von mehr oder weniger Zeit nagelegen, einer „Zeitmenge“: Man kann sich die Zeit nehmen, sie verschwenden, seine Zeit für etwas einsetzen, jemandem seine Zeit schenken usw. „Sich Zeit lassen“, ist sehr interessant, denn das heißt einerseits: Etwas langsam tun, aber irgendwie auch: Man gibt sich, man überlässt sich selbst mehr Zeit für etwas, als man erwartungsgemäß tun würde. Nicht ganz eindeutig, aber auch irgendwie eine Vorstellung von Zeit als Substanz nahelegend: Die Zeit dehnt sich, man verplant Zeit (man kann neben Substanzen aber auch leeren Raum verplanen), man nutzt die Zeit (man kann Substanzen nutzen, aber auch Platz ausnutzen). Irgendwo zwischen aktivem Wesen und passiver Substanz liegen die Bilder der Zeit, wie sie eilt und verrinnt, gar heilt, aber auch einfach nur fließt, verbraucht wird, gar wie als löse sie sich ins Nichts auf: vergeht (das „Vergehen“ der Zeit erscheint uns als eine der neutralsten Wendungen, bei rechter Verbildlichung verweist sie aber auf ein Verschwinden, eine Selbstelimination).

Die Zeit als scheinbare Substanz erweist sich aber als etwas widerspenstig, denn obwohl es ganze Apparate und Logiken, eine ganze Ökonomie ihrer Verteilung gibt, widersetzt sie sich einer beliebigen Verfügung, der etwa das Geld unterliegt, jener ganz prototypischen sehr realen Fiktion, die eine Nicht-Substanz ist, aber oft wie eine behandelt wird (etwa nach dem Prinzip der Massenerhaltung), die man einfach per Anordnung verschieben, vermehren oder für nichtig erklären kann („kann“ heißt: Man könnte es jedenfalls grundsätzlich durchführen – ob sich jemand etwas Bestimmtes traut, z.B. die Währung zu entwerten, und ob andere das anerkennen, ist etwas anderes; anerkannt wird das auch nur, wenn dieses „Man“ bestimmte Akteure sind, z.B. Zentralbanken oder rechtmäßige Kontoinhaber, die aber auf jeden Fall per fiat Geld zuweisen, die anerkannte fikive Substanz und Nicht-Substanz beliebig hier- und dorthin verfügen). Zeit kann man nur in der Zukunft haben, bzw. genauer: ab sofort – im Gegensatz zu einem Gegenstand, von dem man sagt: Ich habe ihn (jetzt), was heißen kann, aber nicht muss: Ich werde ihn haben. Bei der Zeit kann man sagen: Ich habe Zeit, ich werde Zeit haben, und das ist ungefähr dasselbe (wenn man sagt: Ich habe noch viel Zeit für…, so kann die Zeit gestückelt in der Zukunft liegen), oder der Unterschied besteht darin, dass im ersten Fall diese Zeit jetzt anfangen kann („Ich habe jetzt Zeit“, heißt: ab jetzt), im zweiten Fall erst später („Ich werde Zeit haben“, kann heißen: später – aber man benutzt das Futur selten).

Zeitbudgets aus der Vergangenheit kann man aber kaufen. Von anderen durchgeführte Arbeit, die in ihrem Produkt „geronnen“ ist, erspart mir Arbeit und damit Zeit – Zeit also aus anderer Leute Vergangenheit, aber nur unter Ersparung meiner eigenen Zeit. Zeit ist Geld, sagt man. Hier in dem Sinne, dass der Wert der Arbeit mit demjenigen Wert der Zeit in Verbindung steht, den sie subjektiv für mich hat. Es ist der Wert, welchen die Ersparnis mir bringt, welchen die Aussicht für mich hat, die Arbeit nicht in meiner eigenen Zeit und mit meiner vielleicht lustlosen Einstellung oder Inkompetenz durchführen zu müssen. Zeit wird hier vollends vom „Raum“, von der Leere zu einer Art Geld, das man budgetiert. Man verschiebt sie zwischen Personen und Aktivitäten hin und her, tauscht sie gegen Geld und andere Dinge. Gelegentlich haushalten wir so auch mit der Lebenszeit: X Jahre verschenkt fürs Studium, Y verlorene Jahre in der trostlosen Ehe. Irgendwie kann Zeit zwischen Personen „überwiesen“ werden, aber letztlich doch nur innerhalb ihrer Lebenszeit (die dann wiederum als Leere den „Lebensinhalt“ aufnehmen muss).

Haben mehr Leute auch mehr Zeit? Z.B. auf eine Baustelle würde man vielleicht durchaus so rechnen – mehr Personen, mehr „Mann“stunden; aber eher nicht auf einer Party – jeder und jede Einzelne hat Zeit oder nicht, um zur Party zu kommen; und wenn sie auf die Party kommen, weil sie Zeit haben, dann haben Sie keine Zeit für anderes, sie haben dann keine Zeit! Die Zeit kann ja nicht mehr werden, oder doch? Die Zeit verschiedener Personen ist ja nach Perspektive aufaddierbar oder nicht. Wenn zehn Personen arbeiten, dann z.B. so viel wie eine Person in der zehnfachen Zeit, aber in einer kürzeren Zeit (die nur einmal abläuft). Wenn zehn Personen einer Darbietung beiwohnen, wird diese nicht länger und wird die Darbietung individuell erlebt – dabei wird aber womöglich auch die Arbeitszeit von zehn Personen vergeudet, wenn die Darbietung der Faulenzerei dient.

Es gibt aber auch Vorstellungen von Zeit, die sich von dieser verfügbaren Substanz oder zumindest substanzlosen, aber verfügbaren Quantität unterscheiden: in der Zeit liegen, zur rechten Zeit etwas tun, etwas auf einen Zeitpunkt oder Zeitraum legen, die Rede vom time slot usw. Gewiss, man kann viel Zeit haben, und muss sie dann füllen. Zeit ist also je nach Bild einerseits selbst eine Fülle, andererseits (oder zugleich) eine Leere, ein „Zeitraum“ (welch ein paradoxer und sogleich derart vielsagender Begriff!).

Unter heldenhafter oder gedankenloser Missachtung der begrenzten Lebenszeit oder eines „Zeitbudgets“, gar der Unverfügbarkeit der Zeit sehnen wir etwas herbei (möchten die dazwischen liegende Zeit überspringen oder wegnehmen) oder zögern etwas hinaus (legen mehr Geschehnisse zwischen den jetzigen und den Zeitpunkt des betreffenden Ereignisses) – je nach Betrachtung beides ungefähr dasselbe (Zeit unnötigerweise weggeben) oder fundamental Verschiedenes (der Wunsch nach Wegfall von weniger schöner Zeit oder ihrer Vermehrung als Verlängerung des Schönen, mehr von demselben).

Wir haben eine Zeitlupe, aber einen Zeitraffer.

Statt Zeit zu budgetieren, kann man gemäß anderer Vorstellungs- und Redeweise eben auch Dinge darin arrangieren, sie nacheinander oder parallel anlegen (mal ist Zeit ein Strahl, eine schmale Linie, mal ein breiter Strom, in dem so manches nebeneinander Platz findet). Zeit kann dabei auch eine Art Umgebung sein: Man legt Dinge dahin, wo eine Gelegenheit ist, was nicht nur heißt: eine freie Zeit, sondern auch dass bereits andere Dinge vorliegen und vorkommen, zu welchen die hinzukommende Sache passt.

Es gibt den geraden Zeitstrahl der Physik und die Prozessdiagramme der Unternehmensplanung. Diese gelten dann übrigens eher für das Management – auf der ausführenden Ebene fällt dann meist repetitive Arbeit, eine zirkuläre Zeiteinteilung an: regelmäßige Schichten und wiederholte Abläufe statt eines zielorientierten Prozesses oder gar eines vorwärts strebenden Spiels des strategischen Managements, in dem ständig die Regeln geändert werden.

Zeit kann auch als ein Standort, eine Perspektive aufgefasst und formuliert werden. Das Futur 2 („werde gewesen sein“) ist z.B. der etwas komplizierte Versuch, zwei Perspektiven zu verbinden: Die heutige, wonach etwas in der Zukunft liegt, und die eines anderen, zukünftigen Zeitpunkts, von welchem betrachtet etwas dann wiederum in der Vergangenheit liegt. Man kann aber auch ein halb standpunktloses Vorher und Nachher sprachlich verwirklichen: Zuerst werde ich das tun und dann das (es bleibt die standpunktbezogene Zukunft, die weitere Reihenfolge ist aber unabhängig von einem Standpunkt formuliert). Und wenn das dann gelungen ist, werde ich weiterhin sagen können: Zuerst tat ich dieses und dann jenes. Die Reihenfolge bleibt gleich aber ganz werde ich den Standpunkt aber nicht los: Der Satz über die Zukunft ist nicht in derselben Weise wahr, kann nicht auf dieselbe Weise scheitern wie einer über die Vergangenheit. Man kann sagen: Du hast das doch gestern gar nicht getan! Was aber nicht dasselbe ist wie: Du hast gestern gesagt, du würdest das heute tun, hast du aber nicht. Oder: Du hast das ja gar nicht ernsthaft vor. Oder: Das wird morgen sicher nicht gehen, bzw.: Wie kannst du so sicher sein, dass du das morgen tun wirst?! Prognosen und Absichten sind etwas anderes als Aussagen über die Vergangenheit oder Gegenwart (die im strengen Sinne wahr oder falsch sind). Prognosen können wohlbegründet sein, aber nicht eintreffen; Absichtserklärungen ernsthaft, aber unverwirklicht. Eine Prognose oder Absichtserklärung kann aber zum Zeitpunkt ihrer Äußerung nicht eigentlich eigentlich falsch sein.

Oder man sagt: Ich tat zuerst dieses, dann jenes. Das kann ich heute so sagen, und es ist womöglich wahr. Anders dagegen, mit „mehr“ Perspektiven: Ich tat zuerst dieses und würde/sollte dann jenes tun, bzw.: plante dann, hatte dann vor, jenes zu tun. Womit eine vergangene Perspektive wiedergegeben wird, die nicht falsch sein muss, selbst wenn ich „jenes“ dann nicht getan habe (es kann aber auch sein, dass es falsch ist, diese Absicht zu unterstellen, weil sie nicht wahrhaftig vorlag). Die Absicht oder Aussicht wurde nur womöglich nicht verwirklicht.

Zeit erscheint so als eine Art Standort, von dem man dieses oder jenes sehen kann, aber die Art der Sätze, die man über Beobachtungen in die eine Blickrichtung formulieren kann, weicht systematisch von Sätzen über die andere ab. Man kann Sätze über andere Standpunkte formulieren, ohne dies aufzuheben, sondern man verdoppelt, verschränkt nur die so strukturierten Perspektiven.

Verbunden mit dem Bild der Standpunkte erhebt man auch bestimmte Forderungen. Wenn man schon daunddort in der Zeit ist, soll man auch… zeitgemäß sein etwa – „die Zeit“ ist hier keine Größe, sondern ein Inhalt. Spricht man von „unserer Zeit“, so handelt es sich um diejenigen Denk- und Handlungsweisen, die Strukturen und Vorgänge, welche heute vorherrschen, im Gegensatz zu früherer. Dahinter steckt die Annahme, es gebe eine Geschichte in demjenigen Sinne, dass sich wirklich etwas ändert, und nicht nur Wiederholtes oder Beliebiges früher oder später stattfindet, gerade diese oder jene Zeit in Anspruch nimmt.

Man kann Zeit budgetieren, Dinge darin arrangieren oder einfach mal ohne Rücksicht auf das Ende mit etwas anfangen. Die falsche Strategie, die falsche Sichtweise und Beschreibung zu wählen kann aber je sozialem Bereich normwidrig oder zumindest befremdlich sein. Vorab die Dauer eines Rendezvous, einer Ehe, zum Teil auch eines Partybesuchs festzulegen, ein genaues Zeitbudget zuzuweisen, erscheint widersinnig, sich dagegen im Fernsehprogramm oder in einem Computerspiel zu verlieren als ein Mangel an Selbstbeherrschung (anders vielleicht schon bei einem Buch!). Ambivalent in dieser Hinsicht auch die Arbeitszeit: Mehr oder weniger arbeiten, einfach pünktlich aufzuhören oder aus eigenem Antrieb weiterzuarbeiten – wie man das beurteilt (als Faulheit und Einsatz, Selbstausbeutung und Idealismus), hängt von der Tätigkeit ab. Schon die Rede von „Überstunden“ hat in manchen Bereichen etwas Lächerliches (aber nicht deswegen, weil es sachlich völlig undenkbar wäre, Zeitbudgets so zu verwalten, sondern weil sich darin ein falsches Berufsethos zu offenbaren scheint).

Der Umgang mit zeitlichen Perspektiven kann auch sehr weitreichende moralische Implikationen haben: Konnte man wissen, vorhersehen, hatte man die ernsthafte Absicht, kann man das von heute aus noch genau nachvollziehen, darf man etwas in Aussicht stellen, gibt es ausreichende Gründe für Prognosen und ist man dafür verantwortlich, usw.?

Wir reden aber nicht nur über die Zeit, wir schauen auch auf die Uhr, zeigen sie mittels Uhren an. Die runde Uhr mit Ziffernblatt ist heute womöglich ein Anachronismus. Sie ist zumindest nicht mehr technisch notwendig in Zeiten der unterschiedlichsten Displays (war aber seinerzeit ja ein erheblicher Fortschritt). Aber noch die Digitaluhr und die als Ziffern aufgeschriebene, nicht angezeigte Zeit basiert ja auf einem Zyklus – anders als etwa die Zeitrechnung einiger Computersysteme, die immer nur die Sekunden seit einem bestimmten Zeitpunkt zählen, eine gerichtete Zeit ohne wiederkehrende größere Einheiten und Zyklen. Jedenfalls funktioniert eine geschriebene, nicht kreisförmig dargestellte Zeit auch analog, wie die Faltblattanzeige (vgl. den ikonischen Radiowecker) beweist. Trotzdem soll uns das runde Ziffernblatt, insbesondere einer Turmuhr, als das Symbol einer zyklischen Zeit mit ihren täglichen Verrichtungen und Pflichten gelten: Beten und Arbeiten. Es handelt sich um eine geregelte und regelnde Zeit, die nicht nur koordiniert ist (man kann sich auf Basis der Turmuhr zumindest innerhalb ihrer Sicht- und Hörweite verabreden), sondern auch regelmäßig und damit zu einem geregelten Tagesablauf verhilft und ermahnt.

Denken wir weiter an die allegorischen Darstellungen des Todes mit einer Sanduhr. Weniger als eine gerichtete Zeit, die das Leben auch ist (wo man es auf übergeordneter Ebene immer als zyklisch betrachten kann), verweist dieses Bild auf die Begrenztheit der Zeit, das Haben einer bestimmten, aber dem Menschen unbekannten Zeit, die abläuft.

Schließlich suchen wir die Zeit auch in den natürlichen Dingen: Gesteinsschichten, Baumringe, Eisschichten. Wir vergleichen z.B. das Gedächtnis mit diesen Ablagerungen, stellen es uns als ein Abfolge von Schichten vor, mit immer tiefer eingegrabenen, immer schwerer zugänglichen Erlebnissen – obwohl die Gedächtnisforschung meint, wir hätten es eher mit Überformungen, Färbungen, Verzerrungen, Verschmelzungen, fallweiser Zugänglichkeit je nach Gedächtnisfäden und ihrer Verwobenheit zu tun, und was der Bilder mehr sein könnten, weniger mit Schichten oder einem geordneten Archiv. Auch die Geschichte kann man sich (ohne dass das etymologisch oder theoretisch zwingend wäre) als Schichten vorstellen, ihre Erforschung als Archäologie. Umgekehrt kann aber zu einem gegebenen Zeitpunkt Altes und Neues nebeneinander vorliegen: Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Die Generationen lagern sich wie Schichten übereinander und behalten einen Teil ihrer früheren Prägungen bei. Soziale Transformationen, in Strukturen wie in der Haltung von Individuen, gehen nicht überall gleichzeitig von sich.

So ist die Zeit kulturell in Bildern (Sprachbildern und symbolischen Gegenständen) darstellbar und vorstellbar, die untereinander nicht recht vereinbar sind, aber fallweise die Erfassung dieses Unfassbaren erlauben: Die Zeit läuft im Kreis, ohne dass die meisten im strengen Sinne an die ewige Wiederkunft des Gleichen glauben; die Zeit ist ein nackter Zeitstrahl, der uns aber auf die natürlichste Weise in die kuriosesten Einheiten geteilt scheint (in den bekannten Schritten zu 60 und 24, 7, 28 bis 31, aber auch Jahrtausenden und Jahrhunderten), ohne dass diese wiederum die Weltgeschichte und den Gang der Welt überhaupt zu etwas verpflichten, etwa zur Neuerschaffung der Welt alle soundsoviele tausend Jahre oder dass präzise bestimmbar das jüngste Gericht eintritt; die Zeit ist ein ablaufendes Stundenglas, aber ständig tauchen neue und ungleich befüllte auf; die Zeit ist ein Schatz und ein schnödes Konto, lagert sich ab und kann verschoben werden, ein Ort und das Gegenstück zum Raum, usw.