Synästhetische Soziologie

Versuche und Unterweisungen, die Gesellschaft mit Sinn und Verstand zu begreifen

Kategorie: Uncategorized

Zur Bewerbungslage

Nachdem ich zwei Stellen in meinem kommenden DFG-Projekt zu Mediennutzungsstrategien ausgeschrieben hatte, möchte ich einige Daten und Deutungen zu den eingegangenen Bewerbungen nennen, in der Hoffnung, den (sozialwissenschaft-)akademischen Arbeitsmarkt in der Promotionsphase etwas transparenter zu gestalten – vor allem wenn andere es mir nachtun.

Sofern man nach dem Namen binär klassifiziert, haben sich von 21 Kandidat*innen zwölf Frauen beworben. Das ist mehr als die Hälfte. Jedoch ist in den einschlägigsten Fächern (Kommunikationswissenschaft, Soziologie usw.) der Frauenanteil unter den Studierenden oft noch höher. Gerade aus diesen Fächern kamen aber besonders viele Bewerbungen von Männern. Wenn man die männlichen Absolventen der Sozialwissenschaften nicht generell für qualifizierter hält, wird man sich die Geschlechterverteilung wohl so erklären müssen, dass Männer öfter eine wissenschaftliche Karriere in Betracht ziehen und/oder sich eher für qualifiziert halten, was die Anforderungen der konkreten Stelle betrifft, während Frauen offenbar selbstkritischer oder vom Wissenschaftssystem abgeschreckt sind.

Vier der 21 Personen haben ihre Bildungs- bzw. Wissenschaftskarrieren im Ausland begonnen – ansonsten hat nur eine Person (wieder fehleranfällig nach dem Namen klassifiziert) einen Migrationshintergrund, aber ihren Bildungsweg in Deutschland absolviert. Die Stellen eignen sich nun nicht besonders gut für internationale Bewerber*innen mit geringen oder ohne Deutschkenntnisse, da fast alle Teilstudien des Projekts Befragungen einschließen, so dass Erhebungsinstrumente und Daten nicht oder nur mit aufwändigen Übersetzungen zu verstehen wären, wenn die Deutschkenntnisse nicht von Anfang an ausreichen (die Ausschreibung verlangte deshalb auch Deutschkenntnisse und wurde vor allem im deutschsprachigen Raum verbreitet). Das mag in anderen Projekten anders sein, ist aber ein Grundproblem für empirische Sozialforschung, die sich in einem nationalen Kontext bewegt und nicht explizit Strategien und Ressourcen der Internationalisierung vorsehen kann.

Es ist jedoch auch ein Problem, wenn die Forschenden nicht die Breite der jeweiligen Landesbevölkerung widerspiegeln, etwa im Hinblick auf Migrationserfahrung. Oft bauen sich die Hürden auf dem Weg zu einer potenziellen Promotionsstelle jedoch wohl auch schon früher auf, nämlich bei der Aufnahme und Beendigung eines Studiums. Im konkreten Bewerbungsverfahren hat man dann nur noch vergleichsweise wenig Einfluss, da man hier ja nur diejenigen besonders wohlwollend in Betracht ziehen kann, die sich tatsächlich beworben haben.

Sechs Personen haben ein im mehr oder weniger engen Sinne kommunikationswissenschaftliches Studium absolviert, drei weitere ein sozialwissenschaftliches (Studiengänge Sozialwissenschaft, Soziologie u.Ä.). Auffällig sind auch gleich fünf Bewerber*innen mit einem im weitesten Sinne pädagogischen Hintergrund. Manche bringen eine gewisse Erfahrung mit sozialwissenschaftlichen Methoden mit, andere scheinen eher von der sehr allgemeinen Assoziation geleitet, dass Medien ja in der pädagogischen Arbeit relevanter denn je sind und deshalb die Mitarbeit in einem Projekt mit Medienbezug naheliege.

Einerseits wird heute interdisziplinäres Arbeiten immer mehr gefordert, andererseits existieren gewisse Hürden, sich fachübergreifend zu bewerben. Jedes Fach bzw. jede Fächergruppe hat ihre Methoden, theoretischen Ansätze, ihr Wissenschaftsverständnis und ihre eigenen Gegenstände bzw. ihre eigene Perspektive auf dieselben. Ich würde nicht generell von fachübergreifenden Bewerbungen abraten, aber in der Bewerbung besonders deutlich machen, dass ich weiß, in welches Fach hinein ich mich bewerbe. Gewisse Formulierungen und Beschreibungen verraten, ob jemand weiß, in welchen Kategorien ein Fach denkt, was seine grundsätzliche Perspektive ist. Außerdem ist es noch wichtiger als bei anderen Bewerbungen, die spezifischen Kompetenzen aufzuzeigen, die man mitbringt, und die Anknüpfungspunkte zum Zielfach bzw. zum Kontext des Projekts, Lehrstuhls/Teams und/oder Instituts aufzuzeigen.

Um der Präkarität in der Wissenschaft entgegenzuwirken, hätte ich durchaus gerne fortgeschrittene Promovierende für die Stellen in Betracht gezogen, deren bisheriger Vertrag kürzer als sechs Jahre lief – vorzugsweise sogar an Ort und Stelle in München. Allerdings bewarb sich niemand aus dieser Kategorie, lediglich einige Personen, die nach einem Studium seit einer Weile auf wissenschaftsnahen Stellen promovieren bzw. nun eine Promotion anstreben.

Ein Teil der Kandidat*innen wirbt im Motivationsschreiben mit seinen Soft Skills, während andere dies ganz auslassen und sich rein auf die akademischen Kompetenzen und Leistungen konzentrieren. Vielleicht sehen das nicht alle im der Wissenschaft so, aber meine Erfahrung ist, dass in (sozial-)wissenschaftlichen Bewerbungen für höhere Karrierestufen in der Regel nicht darauf eingegangen wird. Das heißt natürlich nicht, dass man nicht gerne teamfähige, gewissenhafte, kreative usw. Menschen hätte. Man hält das nur nicht für prüfbar oder für selbstverständlich und deshalb nicht für erwähnenswert. Bzw. man ahnt, dass eine entsprechende Selbstdarstellung kaum den Ausschlag geben wird, wenn die akademischen Meriten verglichen werden. Man mag sich beim Karriereeinsteig noch mehr an das Schema einer Bewerbung in der Wirtschaft halten, das man irgendwo gelernt hat, nur gelegentlich erfährt man dann sogar zu wenig über die Passung der wissenschaftlichen Kompetenzen, wenn das Anschreiben vor allem aus Beschwörungen der Teamfähigkeit, Flexibilität, Kreativität usw. besteht.

Bewährt hat sich aus meiner Sicht übrigens, dass die Bewerber*innen nicht nur ihre Kompetenzen im Anschreiben nennen oder sie sich aus den Zeugnissen (insbesondere einer Liste an besuchten Lehrveranstaltungen) ergeben, sondern dass ich eine Arbeitsprobe eingefordert habe. Kein einzelner Bestandteil einer Bewerbung vermittelt ein unverzerrtes Bild der Fähigkeiten, aber eine Haus- oder Abschlussarbeit oder ein Aufsatz zeigen doch noch einmal im Detail, wie jemand mit Fragestellungen, Theorien, Methoden, Argumenten, wissenschaftlicher Sprache usw. umgeht.

Über Kommentare über die SPD

Ich bin, ehrlich gesagt, überhaupt nicht überrascht über das Ergebnis der SPD-Vorsitzendenwahl (einer Partei, der ich ja nicht angehöre, aber deren Schicksal ich interessiert aus etwas anderer Perspektive verfolge – mich erscheint hier aber vor allem die Deutung in den Medien bemerkenswert). Mir leuchtet die Entscheidung ein, denn sie ist ganz einfach gedacht: Dass es so nicht weitergehen kann.

Was Menschen, bei denen es erst mal immer so weitergeht, etwa beim routinierten Kommentieren der Politik, nicht so einleuchten mag. Erstaunlich, wie vielen in den Medien, denen ja nachgesagt wird, sooo links zu sein, die Vorstellungskraft oder die Entschlossenheit fehlt, um das Ergebnis in anderen Kategorien zu interpretieren als den unpolitischsten und alt-bundesrepublikanischsten, und aus der Perspektive einer einzigen männlichen, historisch und intellektuell vielleicht eher mittelwichtigen Führungsperson, obwohl die Partei vor einer existenziellen Herausforderung steht. Der Journalismus hängt an einem Politikverständnis, das Politik damit gleichsetzt, den verbleibenden Wohlstand und das verbleibende Gemeinschaftsgefühl zu verwalten und hier und da mal etwas zu reparieren, wenn auch durchaus mit dramatischen Nachtsitzungen, und sich ansonsten für die nächste Personalentscheidung in Stellung zu bringen – statt dass man in seinen Kommentaren einmal auf innerparteilicher Demokratie und inhaltlichen Strategien beharrt. Man denkt immer noch wie ehedem: „Vorstandswahl unter 97% ein harter Denkzettel…, immer mittig bleiben und nicht anecken…, immer die erprobten Favoriten wählen…, können die das überhaupt? Usw.“ – in einer Zeit, in der Sozialdemokratie durch die Zeitumstände demontiert wird und dringend eine Kraftanstrengung bräuchte, um Diskurshoheit und Anschluss an aktuelle Herausforderungen zu finden und sich wirklich unter Einbeziehung der Basis neu zu definieren.

Warum sollte die Bevölkerung etwas anderes wählen als eine konservative Partei, wenn sie es eigentlich ganz in Ordnung findet, dass man seit den Neunzigern bisschen den Müll trennt und auch einige Windräder aufgestellt hat, dass ein paar Leute etwas mehr Rente kriegen, sofern sie nicht zu lange arbeitslos waren, und dass der Staat nicht so viel Geld ausgibt, obwohl er keine Zinsen dafür zahlen muss, weil Schulden unanständig sind. Ich bin durchaus nicht der Meinung einiger, dass eine Partei nur offensiv mit linker Politik auftreten müsse und dann einfach alle „einfachen Leute“ und überhaupt alle ihr entfernt Wohlgesonnenen auf ihre Seite ziehen werde. Eine solche Partei müsste Menschen politisieren, Ideen mit der Zeit verankern, Gegendiskurse entkräften, gegen die genannten Trägheiten und Selbstzufriedenheiten oder gegen Resignation und Zynismus ankämpfen. Es gilt zu überlegen, wen man zu vertreten beansprucht und wie sich ein Weltbild und ein Programm aushandeln und verankern lassen, die eine Allianz all dieser Gruppen schmieden und sie zum Wahlerfolg führen. Im hiesigen Journalismus scheint mir ein solches Denken kaum verankert, während man in den USA zumindest analysiert, wer welche Bevölkerungsgruppen womit ins Boot holen muss, um zu gewinnen (bei aller Fixierung auf Centrism und Party Establishment). Hierzulande scheint es noch mehr nur um einen diffusen Eindruck von Geschlossenheit zu gehen, den Parteien auf eine vage Bevölkerungsmasse machen.

Die gegenwärtige politische Berichterstattung in Deutschland ist auch Zeichen einer bemerkenswerten Ungleichzeitigkeit. Während politisch Interessierte mit einer gewissen linken bis mittigen Affinität sich Videos von Bernie Sanders oder Alexandria Ocasio-Cortez anschauen, die dazu beitragen, in den USA neue politische Räume zu eröffnen (allerdings z.T. mit Vorschlägen, die in Europa ohnehin Commonsense sind) oder vielleicht sogar mal vom neuen Programm von Labour gehört haben, scheinen viele hiesige Zeitungskommentare aus einer Welt zu uns zu kommen, die irgendwie an die Ära Schröder versus Lafontaine erinnert (als es darum ging, wie regierungsfähig und staatstragend die 40-Prozent-Partei SPD sei). So scheint der Orientierungspunkt nicht die aktuelle Sozialdemokratie in vielen anderen Ländern zu sein oder die neueren programmatischen Überlegungen vieler in der SPD, sondern der progressive Neoliberalismus Macrons, der an die Neunziger erinnert, nur noch eher elitär-aristokratisch als technokratisch. Es ist nicht gesagt, dass die Sozialdemokratisierung der sozialdemokratischen Parteien und ihre Öffnung gegenüber neuen linken Ideen erfolgreich sein wird. Aber sie gar nicht als Option in Betracht zu ziehen und die entsprechende Programmatik irgendwie für unvorstellbar zu halten, das erscheint doch seltsam provinziell und unaktuell gedacht. Unabhängig von der jeweiligen eigenen Meinung müsste der deutsche Politikjournalismus doch zumindest die Denkmöglichkeit und den Neuigkeits- und Diskussionswert anerkennen.

Ich teile vor allem auch nicht die Haltung vieler in den Medien, welche über die SPD grundsätzlich mit einem Loser-Frame berichten, also irgendwie immer zu dem Schluss kommen, dass die SPD alles falsch macht und nur verlieren kann, ob sie nun zu unscheinbar oder zu eigensinnig ist (und manche scheinen fast arrogant und mitleidig auf die einfachen Parteimitglieder zu blicken, weil sie naiv von einer sozialdemokratischen SPD träumen), und höchstens gelegentlich beiläufig zu würdigen, wenn sie de facto unsozialdemokratische Politik macht. Den genauen Grund dafür kenne ich nicht – vielleicht die Sorge, gegenüber einem eher nahestehenden Lager besonders kritisch sein zu müssen, vielleicht ein Fortwirken der fast kaiserzeitlichen Denkweise, ob die SPD denn regierungsfähig und staatstragend genug sei, oder die gefühlte Distanz zum klassischen Habitus der Sozen.

Diskurstheoretisch, sozialstrukturell oder einfach als Pascalsche Wette – mir erscheint jedenfalls ein Weiter-So aus Sicht der SPD recht abwegig. Es ist kurios, dass viele in der Presse da stärker auf althergebrachten Denkweisen beharren als die ehrlich gesagt nicht immer sehr progressive und wagemutige SPD-Basis.

Und es ist zwar sehr verständlich, aber von außen betrachtet kurios, dass der Journalismus seinen Beitrag zur Herstellung der politischen Realität kaum je anerkennt. Dabei definiert man ja mit, was radikal ist und was nicht, was die aktuellen Themen sind, was eine Klatsche für die Parteiführung und was ein normaler demokratischer Vorgang, was die Kriterien für politische Kompetenz und Führungsfähigkeit sind. Der Journalismus bestimmt mit, ob politische Maßnahmen nachvollziehbar werden oder man zunehmend zynisch wird angesichts von Personal- und Parteitaktik. Das Ergebnis, der Erfolg oder Misserfolg, wird jedoch immer auf die Parteien projiziert und damit externalisiert: Sie sind es, die nicht mit ihren Themen durchdringen konnten, alles zu einer Machtfrage gemacht und ihre Politik nicht richtig erklärt haben, und mit dem Journalismus als neutralem Vermitteln und distanziertem Kommentieren hat das nichts zu tun.

Wetterstein

Ich war vor Jahren einmal auf der Zugspitze, über den technisch leichtesten Weg, durch das Reintal. Das heißt nicht, dass es nicht anstrengend war: Es herrschten brütende Hitze und eine Mückenplage in diesem nicht endenden Tal und oben fror man dann und es ist eine recht deprimierende Sache: alles zugebaut, der Gipfel ein einziger Betonkomplex. Mittendrin das Münchner Haus, eine Alpenvereinshütte, als Denkmal des Sündenfalls, denn damit fing es da oben an und spätestens ab ihrer Errichtung herrschte Zwist im Alpenverein über das richtige Maß an Bautätigkeit in den Bergen. Nun bin ich ja prinzipiell ein Freund von Hütten, nur sollte man keine neuen bauen, wodurch allerdings das Problem entsteht, dass man in vielen kaum noch Plätze bekommt, so viele Menschen streben in die Berge. Das Münchner Haus wirkt jedenfalls wie ein Fossil, ein historisches Ausstellungsstück oder eine Kulisse in dem gesamten Komplex, der es umgibt.

Meine Wandergruppe schwor sich damals, nun sei es auch gut mit der Zugspitze, das sei ein enttäuschender Berg, ein fast traumatisches alpines Erlebnis, so idyllisch es unterhalb ist (so dösten wir friedlich eine halbe Stunde im Gras gegenüber der Reintalangerhütte, bevor wir den Weg fortsetzten). Natürlich war das auch ein wenig Standesdünkel der „Bergsteiger“ gegenüber den „Seilbahntouristen“, aber es war einfach ein trostloser und unwirtlicher Unort.

Nun gibt es aber noch je nach Zählung drei bis fünf andere Aufstiegswege. Berge und Routen werden begangen, weil es sie gibt, so lautet das postmetaphysische Dogma des Alpinismus.

Und man kann sich die Zugspitze noch mal antun, wenn man sie nicht als Berg versteht, sondern als Cyborg aus Fels, Eis, Beton und Stahl, worinnen und worauf Menschen, Fahrzeuge, Gemsen und Insekten wimmeln, Bratwürste gebraten und Biere gezapft werden, wo Selfies und politische Photo-Ops passieren, eine Mischung aus Sinai und babylonischem Turm. Alles miteinander verankert, verkabelt, verschweißt, von Tunneln und Kavernen durchlöchert und vom Permafrost zusammengeklebt. Dann fasziniert das Gebilde, wenn man es als selbst künstlich verstärkter Mensch (mit Bergschuhen, Klettersteigset, Sonnencreme, Helm, Sonnenbrille usw.) bewältigt und oben die fremden Menschen trifft, die auf ebenfalls wundersame Weise, nämlich an einem metallenen Gespinst, aufgefahren sind. Die Aufstiege sind ebenfalls ein Hybrid aus gebahnten Wegen, Stahleinbauten und Fels und Geröll, die einfach so anstehen.

Man muss ja ohnehin immer wieder in den Wetterstein zurückkehren. Denn auch die Natur selbst hat hier eine Kombination alpiner Attraktionen in solch verkehrsgünstiger Lage auf engem Raum zusammengestellt, dass es schon fast künstlich wirkt. Man führt die weniger bergaffinen Verwandten und Bekannten in die Partnach- oder Höllentalklamm, es gibt Wald, Geröll, Wände, Grate, Minigletscher, Bäche, Almen, Klettersteige – nur Murmeltiere und Edelweiß habe ich seltsamerweise noch nie gesehen. Das zeigt vielleicht, dass es doch kein kitschiges Diorama ist. Es war unumgänglich, dass Ludwig II. sich dort ein Bergschlösschen bauen ließ. Und man blickt auf den Eibsee, ein übertrieben karibisch blaugrün leuchtendes Gewässer, das Klischee eines Bergsees, aber praktischerweise im Tal.

Am höchsten Punkt des Wettersteins, eben auf der Zugspitze, gibt es sogar einen Gipfel, der gar nicht der echte Gipfel ist, sondern ein Fels, der unverbaut stehengelassen wurde, mit einem Gipfelkreuz, und man muss sogar ein wenig klettern, um draufzukommen von der gigantischen Plattform, die da ist, wo einmal der Gipfel war (wer hat den eigentlichen Gipfel gesprengt? Es kann gar nicht anders sein: die Nazis).

Zeitungen und Ziegen

Das neurechte Denken pflegt ja eine Vision einer in homogene Völker segmentierten Welt. Zu Ende gedacht läuft das aber vor allem auf Gewalt gegen all jene hinaus, die sich dieser Einteilung nicht fügen, sei es, dass sie aus Sicht der Neurechten im falschen Land leben und deshalb entfernt werden müssen, sei es, dass sie nicht eindeutig genug in eine ethnische und kuturelle Kategorie fallen und deshalb vor unmögliche Entscheidungen gestellt, umerzogen oder eben doch zwangsweise entwurzelt werden. Die Vision läuft auf staatlich verordnete oder von einem „gesunden“ Volksempfinden diktierte Nationalkultur und auf eine Erziehung zur Missachtung von Minderheiten hinaus, ferner darauf, in vermeintlich traditionelle Geschlechterbilder und andere vermeintlich natürliche Rollen gepresst zu werden, und auf eine Wirtschaftsweise, welche Volksgemeinschaft beschwört und die Spekulation verteufelt, in der aber Ausbeutung mit Verweis auf den „natürlichem“ Platz der Einzelnen im organischen Ganzen gerechtfertigt werden kann. Mit Verweis auf das Wesen des Volkes und seinen wahren Willen kann ohne besondere Abwehrrechte auf das Leben der Volksgenossen und mehr noch der „Fremden“ durchgegriffen werden.

Im Gegensatz zum Antiintellektualismus in Teilen des Rechtspopulismus will man in diesem Segment der Rechten auch geistig satisfaktionsfähig werden, gibt schön gemachte Bücher heraus, organisiert Vorträge und Tagungen und pflegt einen altmodischen Gelehrten-Sprachstil mit gestelzt germanisierten Fremdwörtern, mit deutschtümelnden Neologismen und Anachronismen.

In verschiedenen Bereichen der Medien erfüllt man nicht nur seine wahrgenommene Pflicht, dem sicher auch aufgrund einer selbsterfüllenden journalistischen Prophezeiung in die Parlamente eingezogenen Rechtspopulismus genügend Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Man ist auch sehr bemüht, alles zu unterlassen, was einem als Unfairness gegenüber den rechtspopulistischen Parteien und Personen auslegen könnte, um sich nicht Lügenpresse-Vorwürfe einzuhandeln (diese etwas bittere Beschreibung ist natürlich unfair gegenüber jenen im Journalismus, die sich nicht auf die semantischen Spielchen einlassen, mit denen die Verharmlosungen des Nationalsozialismus und andere Tabubrüche hinterher umgedeutet werden, unfair gegenüber jenen, die Menschenfeindlichkeit klar benennen, die kommunikativen Strategien und organisatorischen Verstrickungen offenlegen, die nicht schon in ihren Fragen und Diskussionsthemen die Deutungen der Rechten übernehmen und die nicht Autoritarismus und Rassismus als die natürliche andere Seite jeder Debatte ansehen, die man ausgewogen berücksichtigen müsse). Und dann gibt es noch jene Bereiche des Journalismus, im Feuilleton und ähnlichen Ressorts, wo man die rechtspopulistische und neurechte Ideologie zum anregenden Debattenbeitrag adelt und sich belebt fühlt vom „Endlich-sagt’s-mal-einer“, sofern das Gesagte nicht pöbelnd und polternd, sondern mit Sarrazinschem Fußnotenapparat, mit (bezirks-)bürgermeisterhaften „Klartext“-Floskeln oder noch besser mit jenem oben beschriebenen altertümlichen Jargon einhergeht. Vielleicht genießt man die Aufmerksamkeit, die einem die rechtspopulistische Provokation einbringt, vielleicht verachtet man auch insgeheim – wie die Neue Rechte – ein wenig den weichgespülten Linksliberalismus, der den gestandenen Chefredakteur oder Großkolumnisten wie einen Waschlappen dastehen lässt, der laviert und klagt und vor frechen Minderheiten kuscht. Und vielleicht geht die Faszination noch weiter, gerade bei jenen, die dem neurechten Gedankengut überhaupt nicht anhängen. Es erscheint irgendwie aufregend, gefährlich (nicht zuerst im Sinne von Brutalität, die ja verschleiert bleibt und die man nur ahnt, sondern intellektuell). Die ganze Inszenierung mancher neurechter Denker und Aktivisten weckt Nostalgie, scheint Authentizität auszustrahlen (oder müsste man deutsch und heideggerisch sagen: „Eigentlichkeit“?). Dann pilgert man nach Schnellroda und beschreibt mit wohlig-grausendem Erschaudern, aber auch irgendwie bewundernd ein Ehepaar, das sich siezt, die Ziegen, die Schlachtplatte und alles. Dann überlegt man, ob man es sich in den heimeligen, heimatlichen Begriffen der Rechten nicht doch bequem machen könnte, „statt sie ihnen zu überlassen“.

Nun etwas ganz anderes. Ich habe vor einer Weile mit Freude eine Studie mitpubliziert (die Idee dazu kann ich nicht selbst in Anspruch nehmen, sondern ich habe nur ein wenig mitgeholfen): ein Experiment, das zeigt, dass eine Zeitung bereits als dadurch politisch weiter rechts oder links wahrgenommen wird, dass sie in einem traditionelleren oder moderneren Layout präsentiert. Das erschien mir einerseits hochplausibel, faszinierend und bedeutsam, andererseits aber doch, bei aller Begeisterung für die Studie, ein kleiner Effekt unter vielen, die in der alltäglichen Mediennutzung unsere Wahrnehmung bestimmen. Es handelt sich eben um Grundlagenforschung, die daran erinnert, dass unsere Wahrnehmungsschemata des Politischen nicht nur auf Sprachverstehen zu reduzieren sind, dass Bilder, Schriftarten, Farben, Seitenaufbau, Initialen etc. eigene Botschaften vermitteln.

Zurück zu den Neuen Rechten. Mir kommt es hier nicht auf eine detaillierte Rekonstruktion und Kritik des entsprechenden Weltbildes an. Das ist ja an verschiedener Stelle bereits geschehen und der Gegenstand dieses Blogs ist ja eigentlich das Synästhetische, also die Entsprechungen zwischen den verschiedenen Modi des Wahrnehmens und auch des Denkens. Mir fiel eine interessante Anekdote auf, die vielleicht gerade jene ansprechen müsste, die vom neurechten Denken fasziniert sind, gerade auch ohne ihm anzuhängen. Sie deutet ästhetisch an, was ansonsten natürlich auch durch detaillierte Analyse nachgewiesen werden könnte: dass jenes Denken überhaupt nicht so intellektuell abenteuerlich ist, dass sich hinter der romantischen Rhetorik, an deren Lippen – so stellt man es sich vor – drahtige rotbäckige Jünglinge mit Seitenscheiteln (und Instagram-Account) in Rittersälen hängen, etwas ungemein Spießiges, Borniertes verbirgt. Die Anekdote ist schnell erzählt: Björn Höcke erwähnte bei einem Auftritt, er habe vor 15 Jahren sein Abonnement der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gekündigt, weil diese anfing, Farbfotos auf die Titelseite zu drucken und die neue Rechtschreibung zu nutzen. Damit war sie für ihn keine konservative Zeitung mehr. Hinter dem ganzen Pseudo-Tiefsinn und Pathos seiner Reden und Schriften erscheint der spießige Studienrat, der am Frühstückstisch über die Zeitung gebeugt über den Kulturverfall zetert.

(Nun werdet ihr sagen: Ist das nicht ein arger Nebenkriegsschauplatz? Stilkritik statt Widerstand? In der Tat, diese Anekdote sollte lediglich einer vielleicht recht kleinen Zielgruppe zu denken geben, die gerne ironischen oder bierernsten rechtspopulistischen „Klartext“ druckt und gerne vor den neurechten Denkern erschaudert – wo doch beides so wenig Klarheit hat und seine letzten Konsequenzen im Unklaren lässt. Reißt euch los und blickt auf die geschehende und heraufbeschworene Gewalt, diskutiert die Ursachen und Hintergründe des Rechtsrucks, seine Verbindungen zum Mainstream, bringt Gegenentwürfe zum völkischen Denken, statt euch von Ziegen, Wortspielchen und Pathos ablenken zu lassen!)

Bayern und die Moderne

Wer unter diesem Titel billige Späße oder Polemik über das rückständige Bayern erwartet oder Hurra-Lokalpatriotismus, kennt mich schlecht (ähem, naja…). Stattdessen gibt es aus aktuellem Anlass eine kurze Bemerkung über die Theorie der modernen Gesellschaft. Vielleicht mit ein bisschen Polemik.

Die bayerische Politik wird von Zeit zu Zeit von Absonderungs-Fantasien heimgesucht. Irgend eine Gruppe soll von der Normalbevölkerung getrennt verwahrt werden. Einst waren es die HIV-Infizierten, in jüngerer Zeit die Asylsuchenden und Geflüchteten, und nun sollen auch die psychisch Kranken mit besonderer Gründlichkeit untergebracht und gesichert werden. Die Begründung lautet immer, dass man nur so den besonderen Problemlagen der Betroffenen gerecht werden, die staatlichen Abläufe vereinfachen und den Rest der Gesellschaft schützen oder besondere Belastungen oder Gefahren von ihm fernhalten könne.

Damit hat man die gesellschaftliche Moderne maximal genau zur Hälfte verstanden. Denn sie beruht in der Tat auf Differenzierung, oder wenn man will: Spezialisierung. Insbesondere gibt es auch eine Fülle staatlicher und gemeinnütziger Einreichtungen (oder Abteilungen derselben), die jeweils auf spezifische Problemlagen von Personengruppen reagieren – auch wenn diese Probleme natürlich immer noch schematisch in Kategorien eingeteilt werden müssen, also z.B. Arbeitslosigkeit, Todesfälle bei Haustieren, Unternehmensgründung, Unfälle in den Bergen, Drogenabhängigkeit usw. Aber Moderne besteht genau darin, dass eine Person nicht von genau einer einzelnen Institution zur Gänze erfasst werden kann. Totale Institutionen wie das Kloster, das Gefängnis, die geschlossene Abteilung psychiatrische Kliniken usw. neigen heutzutage auch zu einer Abschwächung ihres ganzheitlichen Anspruchs: Auch sie wollen und können nicht wirklich das gesamte Leben ihrer Klientel bzw. Mitglieder regeln (sie konnten es sicher nie vollständig, da es immer noch andere soziale Bezüge gab, aber heute wird das schwieriger und vielleicht illegitimer denn je). Und vor allem sind sie eine Ausnahme, nicht der Normalfall der modernen Gesellschaft, in der praktisch alle an den verschiedensten sozialen Aktivitäten, also Familienleben Bildung Wirtschaft usw., teilnehmen und das teilweise auch als Recht aufgefasst wird. Niemand ist nur und als einzige Eigenschaft geflüchtet, nur von Zwangsgedanken betroffen, nur gehörlos, sondern will sich z.B. ein Eis kaufen, die Zeitung lesen, seine Tante anrufen, anderen seine Meinung über den Ministerpräsidenten sagen, an einem Gottesdienst teilnehmen usw. Eine Politik, die Personen nur unter einem Aspekt erfasst, z.B. als krank, mit einer „Lernbehinderung“, mit geduldetem Aufenthaltsstatus usw., und daraus alle oder die meisten weiteren Entscheidungen bezüglich dieser Personen ableiten will, andere Bedürfnisse und Ansprüche nur als notgedrungen zu erfüllende oder gar rechtlich nicht bindend betrachtet, so eine Politik wird also der Komplexität der Moderne nur halb bzw. zu einem winzigen Bruchteil gerecht – nämlich zu genau zu dem Bruchteil, den diese einzelne Eigenschaft an den gesamten Eigenschaften der jeweiligen Menschen ausmacht, so bestimmend sie im Einzelfall für das Leben einer Person sein mag. Und diese Fokussierung auf einzelne Eigenschaften ist eine selbsterfüllende Prophezeihung, wenn alle Lebensäußerungen mit Blick auf diese beschränkt oder auf diese hin gedeutet werden: Man droht immer mehr nur noch die typische Person mit dieser Eigenschaft zu werden und sogar Widerstand wird als Zeichen dafür genommen, dass man eben so ist.

Natürlich ergibt sich aus dieser Beschreibung der Gesellschaft nocht nicht direkt, welche Politik gemacht werden soll. Das ist nicht nur eine Frage der Gesellschaftsdiagnose, sondern eine der Wertsetzungen. Aber die Neigung zur Absonderung abweichender Gruppen deutet auf ein bestimmtes Gesellschaftsbild, das die soziale Welt immer nur so begeift, dass die Bevölkerung nach jeweils nur einem Gesichtspunkt eingeteilt wird, statt als Geschehen, in das alle auf je verschiedene Weise eingebunden sind, so dass Einzelne jeweils an den unterschiedlichsten Aktivitäten, Kulturen, Sprachen, Themen, Problemen usw. teilhaben können. Und jenes Gesellschaftsbild ist asymmetrisch: Alles wird aus Sicht derer betrachtet, die dazugehören, nicht der „anderen“. Die drinnen sind Subjekte der Politik, die anderen Objekte; die drinnen sind der Maßstab, dem sich die anderen anpassen müssen, wenn sie nicht abgesondert werden wollen; die drinnen haben die Tradition, die herrschende oder „Leitkultur“, die konventionellen Sitten, die medizinische Norm usw. auf ihrer Seite, die anderen weichen ab, lösen gar die Maßstäbe auf und bringen alles in Unordnung.

„Bayern“ ist hier natürlich nur ein Symbol für ein allgemeineres Phänomen, für jegliche Gesellschaftsvorstellung und Politik, welche die Welt aus der Innensicht einer angestammten, normgemäßen Gruppe betrachtet und alle anderen Menschen nach ihrer jeweils vermeintlich hervorstechendsten Eigenschaft als Problem behandelt. Umgekehrt könnte „Bayern“ – allerdings nicht das reale oder gar vergangene, sondern ein utopisches – für jene Gemütlichkeit und regelrechte Idylle stehen, an der man alle gerne teilhaben lässt.

Bei Herrn Grassi zu Hause

Ich bin in letzter Zeit öfter bei Herrn Grassi zu Hause und werde auch in nächster Zeit öfter da sein. Ich habe sogar einen Schlüssel zu seinem Haus. Allerdings ist er nie da. Er lebt auch gar nicht mehr. In diesem Sommersemester habe ich vorübergehend ein Büro in dem Haus, in dem früher der Philosoph Ernesto Grassi wohnte. Es handelt sich also heute um ein Gebäude der Universität, war aber einmal ein privates Wohnhaus. Einiges deutet auf ein öffentliches Gebäude hin: eine sehr nüchterne Garderobe am Eingang, Hinweise auf die Toiletten, ein bestuhlter Vortragraum mit Projektor und natürlich der Blick in manche Räume, die als Büros eingerichtet sind.

Aber wenn ich das Haus betrete, bemerke ich immer den Drang, meine Schuhe auszuziehen. Es widerstrebt mir auch ein wenig, mir einfach so in der Küche einen Kaffee zu nehmen, auf Herrn Grassis Kaffeeautomaten zu drücken (den Siegeszug der modernen Vollautomaten hat er in Wirklichkeit wohl nicht mehr erlebt).

Diese Reaktionen beruhen natürlich einerseits auf sozialen Konventionen, etwa der sehr deutschen, aber natürlich auch z.B. japanischen Norm, die Schuhe beim Betreten von Privatwohnungen auszuziehen. Aber mich interessieren die Hinweise, die mir überhaupt erst suggerieren, dass es sich um ein Privathaus handele – worin sich ein solches von einem öffentlichen Gebäude unterscheidet, wie Öffentliches bzw. Arbeit, und Privates, Zuhause eigentlich kodiert sind. Ganz genau weiß ich es nicht, aber es könnten, außer der äußeren Form des Hauses mit seinem Garten das Parkett und der stellenweise Teppichboden sein, die Küche, die einer privaten ähnelt, wohnzimmerartige Räume mit Sofas, niedrigen Sideboards, Stehlampen und Gemälden. Wer möchte, kann mich mal besuchen kommen und mit mir zusammen weitere Hinweise suchen.

Ich forsche also, wo andere gewohnt haben. Das bringt mich auf die Frage, ob eine Universität eigentliche eine öffentliche Einrichtung sein muss. Natürlich ist sie das in gewissem Sinne unvermeidlich, sofern sie dem heutigen Forschungs- und Bildungsverständnis folgt. Freilich hat sich andernorts noch viel stärker die alte Vorstellung gehalten, dass sie auch eine Lebensgemeinschaft sei, ein Ort des wirklichen Zusammenwohnens und eine Einrichtung, welche die Lebensführung ihrer Mitglieder regelt (oder worin diese sie gemeinsam regeln). Zwar ist sie nicht mehr eine Art Staat im (gar noch nicht im modernen Sinne vorhandenen) Staate mit eigener Gerichtsbarkeit und umfassender Lebens- und Wohngemeinschaft wie im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Doch lebt diese Idee andernorts noch stärker in den Colleges fort. Wissenschaft ist eine Lebensform, manches Institut eine Familie (andere sind ein Königreich, und das hat ja auch etwas mit Familienverbänden zu tun), aber ein bisschen muss die Wissenschaft auch ein Job sein, den man mit distanzierter Mentalität versieht, denn sonst vereinnahmt einen das nicht immer mütterliche, väterliche oder geschwisterliche Wissenschaftssystem oder die paternalistische und patriarchalische Fürsorge der Lehrstuhlkönige.

Mal was ganz anderes: Mein Blog ist gerade fünf Jahre alt geworden. Das vergangene Jahr war nicht ganz so produktiv wie die vorherigen. Ich habe aber noch ein wenig mehr über Rechtspopulismus und verwandten Themen geschrieben (beim letzten Jubiläum gab es bereits einen Überblick). Unter anderem ja direkt zur Frage, was das eigentlich sei (nachdem ich mich zuvor nur vom Gegenteil her genähert hatte – übrigens derjenige Beiträge in meinem Blog, der insgesamt die meisten Zugriffe aufweist und vor allem über Suchanfragen gefunden wird, bei denen Leute direkt das Gegenteil von Populismus erfahren wollten). Ferner zwei Teile zu Reichsbürgern, ein Text zum Verhältnis des Rechtspopulismus zur (direkten) Demokratie sowie umgekehrt eine Antwort auf die Kritik an der direkten Demokratie im Lichte des Erfolgs populistischer Parteien und Personen. Ferner an anderer Stelle über Populismus und Journalismus. Das Thema Rechtspopulismus und Medien wird mich übrigens auch in Herrn Grassis Haus beschäftigen, denn das ist das Thema meines Aufenthalt. Derzeit schreibe ich z.B. dort im Souterrain an einem Aufsatz, ob es den Medien gelingt, angemessen auf den „Lügenpresse“-Vorwurf zu antworten. Meine Gedanken schweifen also nicht nur in den Garten von Herrn Grassis Domizil oder (wie üblich) in alpine Gefilde, sondern das Thema trägt hoffentlich dazu bei, dass die Idylle und das Privileg, so herrschaftlich zu residieren, die Distanz zur restlichen Gesellschaft nicht allzu sehr vergrößern.

Ein Jahresbericht

Ich musste in diesem Jahr doch einige Male über Rechtspopulismus schreiben, das blieb nicht aus. Vielleicht wollen das noch mal einige nachlesen.

Angefangen hat es mit einer Reihe aus Anlass von PEGIDA: An das vermeintliche Volk (in sechs Teilen).

Zur Begriffserklärung dann: So ziemlich das Gegenteil von Populismus.

Über rechtspopulistische oder rechtsextreme Tierliebe: Herrchen und Hundeleben.

Und eine eher abstrakte Erörterung über natürliche und soziale Zustände, aber nicht unpassend: Kann man als Deutsche geboren werden?

Weil Rechtspopulismus nicht selten mit Verschwörungstheorien einhergeht, noch eine Klärung: Fletchers (unwahre oder wahre, oder egal?) Visionen.

Ich darf aus aktuellem Anlass vielleicht noch an Beiträge aus dem letzten und vorletzten Jahr erinnern: Das Recht der Trolle auf Futter und Auslauf und eine Kurzserie über den NSU (Teil 2, 3).

Das war ungefähr das Jahr in meinem Blog, natürlich darüber hinaus noch einige Beiträge, durch die ihr euch durchscrollen könnt (mit diesem hier sind es seit Beginn nun offenbar 143, wann auch immer ich die geschrieben habe…). Bis im nächsten Jahr!

Über Bayern

Bayern ist ein Land im Süden Deutschlands. Es grenzt an Österreich und Preußen und besteht aus mehreren Landesteilen: Bayern und dem Rest. In Bayern gibt es richtige Berge und es scheint die Sonne. Die bäuerlichen Landwirte und die Großkonzerne pflegen je auf ihre Art die Landschaft.

Das Staatsoberhaupt von Bayern ist Ludwig II. Die Regierungsgeschäfte führt der Ministerpräsident, der laut Verfassung von der CSU bestimmt wird. Er vertritt in Personalunion alle politischen Richtungen. Das Wappentier des Landes ist der Leberkäs. Die Landesflagge ist großkariert. Die Hymne des Staates ändert sich jährlich und wird von dem textsicheren Publikum auf dem Oktoberfest per Akklamation bestimmt.

Bedeutende Persönlichkeiten lebten und wirkten im Freistaat: Albrecht Dürer, Richard Wagner, Adolf Hitler, Pumuckl und Uli Hoeneß. Bayern ist außerdem ein wichtiger und innovativer Wirtschaftsstandort. BMW, Audi, Krauss-Maffei Wegmann und mehrere Atomkraftwerke haben hier ihren Sitz. Auch erfolgreiche Fußballvereine wie Wacker Burghausen, Greuther Fürth, FC Augsburg und den 1. FC Nürnberg hat Bayern hervorgebracht. Wenn man nur wollte, könnte man jedes Jahr in München und Umgebung die Olympischen Spiele ausrichten. Wichtige Sehenswürdigkeiten in Bayern sind das Schloss Neuschwanstein, das Hofbräuhaus, der Nürnberger Christkindlesmarkt und der Gardasee.

Traditionelle Gerichte in Bayern sind der Schweinsbraten, die Nürnberger Rostbratwurst und die Weißwurst. Unter den vegetarischen Gerichten sind das Starkbier und der Latte Macchiato hervorzuheben. Das Bier wird traditionell in Maßkrügen ausgeschenkt (ca. 0,6 Liter). Die bayerische Volksmusik handelt von Heimatverbundenheit, Liebe und Fußball.

Mancherorts sind die Lebenshaltungskosten recht hoch. Das Oktoberfestbier wird jährlich teurer, die Grundstückspreise am Tegernsee sind horrend und die Louis-Vuitton-Handtaschen werden auch nicht billiger. In Gemeinden, die zum Teil nur einige wenige Autostunden von München entfernt sind, kann man dagegen nach wie vor sehr günstig wohnen.

Die Theater, Opernhäuser, Museen und Festspielorte genießen Weltruhm. Es besteht allerdings ein eklatanter Mangel an Konzertsälen. Angehörige der Münchner Philharmoniker verdrängen z.B. zunehmend rumänische Akkordeonspieler aus der Fußgängerzone. Das Bildungs- und Justizsystem gehören zu den strengsten in Deutschland. Es gibt hier Exzellenz- und katholische Universitäten. Auch ein bayerischer Theologieprofessor wurde einst auf einen renommierten Lehrstuhl in Rom berufen, kam vor seiner Emeritierung wegen der zahlreichen Verwaltungsaufgaben und Dienstreisen allerdings nicht sonderlich zur Forschung.

Ehescheidung, Homosexualität, Ausländer und Sozialdemokratie sind mancherorts außerhalb der Großstädte nur ausnahmsweise erlaubt. Kritik an solchen Missständen darf allerdings nur von Offiziellen aus der CSU geäußert werden, und zwar höflich verklausuliert oder an Aschermittwoch. Bayern ist ein freies Land (mit Ausnahme des Rauchverbots). Es gilt allerdings meist die deutsche Straßenverkehrsordnung. Der Bund und die EU wollen aber zahlreiche bayerischen Traditionen verbieten. Beispiele fallen mir jetzt keine ein. Man leidet auch sehr unter dem Länderfinanzausgleich. Dabei wollte man einmal ganz Griechenland übernehmen.

Man sagt, es gebe recht viele Hinterwäldler in Bayern. Das liegt daran, dass sie aus ganz Deutschland herkommen, wegen der Arbeitsplätze und zwecks Ferien.

Zum Einjährigen

Manchmal findet man überraschende Dinge über sich heraus. M. Jourdain in Molières „Le Bourgeois gentilhomme“ etwa erfuhr bekanntlich, dass er sein Leben lang Prosa redete, ohne es zu wissen. Und ich kam zur Einsicht, dass ich so etwas wie ein Wissenschaftsblogger sein könnte, seit nunmehr etwa einem Jahr.

Wissenschaftsbloggen solle der Öffentlichkeit in eingängiger Weise die Ergebnisse der eigenen Forschung näherbringen, könnte man meinen. Vor allem entgegen den manchmal zweifelhaften Meldungen in den Publikumsmedien („amerikanische Wissenschaftler haben herausgefunden…“) könnte man Wert auf gut methodisch einwandfreie Studien, wohlbestätigte Befunde und durchs Peer Review gegangene Quellen legen. Diese Notwendigkeit sehe ich. Aber es ist nicht die einzige Form und bei mir wird man das eher nicht finden. Zunächst haben die Beiträge nur in einem recht weiten Sinne mit meiner eigenen Forschung zu tun. Es handelt sich, wie man leicht erkennen kann, nicht um populäre Übersetzungen meiner Fachpublikationen. Es geht auch nicht um systematisch gewonnene „Befunde“ im engeren Sinne, sondern eher um Gedanken und vor allem um Denkweisen, Denkstile. Hier liegt dann die Verbindung zu meiner Arbeit: Es handelt sich einfach um sozialwissenschaftliches Denken im weitesten Sinne. Die Ergebnisse sind vielleicht nicht einmal das Wichtigste, in ihrer Vorläufigkeit. Sie präsentieren sich (hoffentlich) auch nicht als grundsolide Befunde wohlorganisierter und kontrollierter Forschung, sondern als Deutungen, die aus einer bestimmten Perspektive, mittels bestimmter gedanklicher Operationen, mittels gewisser Begriffe und Theorien gewonnen sind.

Ich gebe zu, dass das auch eine Frage des persönlichen Wohlbefindens und der Faulheit ist. Es wäre mir lästig, für einen Blog noch einmal dieselben Mühen auf mich zu nehmen wie in der (so geschätzten) alltäglichen Arbeit: Literaturrecherche, systematische Aufarbeitung des Forschungsstandes, Diskussion von Methoden und Befunden usw., selbst wenn das Ergebnis nachher leicht verständlich und wie dahingeplaudert erscheinen sollte (bei mir aber sicher nicht). Gerade eine populäre Wissenschaftsvermittlung kann auf eine sorgfältige Aufarbeitung der Forschungslage nicht verzichten, ja ist fast noch mehr darauf angewiesen als eine fachliche Publikation, die sich an Leute richtet, die bereits mit einem Gebiet vertraut sind. Und gerade die nötige Vereinfachung und umgangssprachliche Formulierung machen es nötig, genau abzuwägen, inwieweit man sie noch als durch den Forschungsstand gedeckt ansehen kann. Aus persönlichen Vorlieben und egoistischen Motiven mache ich es anders: Forschungsstand nur soweit ich ihn im Kopf habe, bzw. einfach nicht denjenigen Forschungsstand berücksichtigen, der eigentlich auf das jeweilige Thema bezogen ist, sondern nur die allgemeine herumschwirrenden Ansätze, Thesen, Begriffe usw., und diese dann am Gegenstand illustrieren. Ist ein wenig heikel, weil man sich damit als Ignorant blamieren kann und dem Publikum die eigentliche Forschung zum Thema vorenthält.

Eine andere Frage der Bequemlichkeit: die fehlende Ordnung. Blogs ähneln den frühesten Zeitungen insoweit, als vielfach im Einmann- oder Einfraubetrieb Beiträge nach Eingang bzw. Fertigstellung ohne nähere Systematisierung untereinander gesetzt werden. Das ist ökonomisch für den Produzenten, aber ineffektiv für Lesende, die sich im Material orientieren wollen (bei den frühen Zeitungen fiel das für viele womöglich nicht so sehr ins Gewicht, da Lesematerial und Nachrichten einigermaßen knapp waren und man nicht so sehr das Bedürfnis hatte, effizient auszuwählen, sondern für sein teures Geld viel Lesestoff bzw. viele Neuigkeiten zu erhalten). Es ist eine tägliche Mühe des Wissenschaftlers, sein Material zu bändigen und Gliederungen zu erarbeiten, welche mal für zwanzig und mal für zweihundert Seiten Ordnung schaffen. Die willkürlich gereihte Kurzform ist da eine willkommene Entlastung. Es gibt ja immerhin Tags und Kategorien, wird man einwenden. Für den empirischen Forscher ist das aber keine triviale Angelegenheit und riecht nach Arbeit: Man will ja nicht unüberlegt irgendwelche Schlagworte vergeben, sondern systematisch vorgehen. Damit wäre die Bequemlichkeit dahin. Außerdem kann man vernünftigerweise erst kategorisieren und verschlagworten, nachdem man für eine Weile gebloggt und so wiederkehrende Aspekte identifiziert hat. Wenn sich aber über die Zeit weitere Kategorien aufdrängen, so müsste man eventuell auch rückwirkend nacharbeiten. Irgendwann habe ich meinem Blog also mal Kategorien spendiert.

(Zu meinem Bedauern muss ich annehmen, dass an anderer Stelle meine Texte sehr wohl sehr gut geordnet sind. In den Datenbanken der so genannten „Social-Web“-Unternehmen, welche sie sicher in Schlagworte zerlegt, untereinander abgeglichen, mit ihresgleichen typisiert, korreliert und sonstwie analysiert haben. Leider ist man da nicht so sozial, mir die Ergebnisse auch gut aufbereitet zur Verfügung zu stellen, es sei denn vielleicht, man führe juristische Geschütze auf, aber selbst dann erhielte man wohl nur Datensalat.)

Wie also dem Nutzer die Fülle der vergangenen Beiträge vermitteln (außer zähneknirschend eine nicht perfekte Verschlagwortung vorzunehmen)? Einerseits ein wenig durch die Aufforderung, mal ein wenig im Archiv zu blättern. Andererseits durch einen kleinen Rückblick, siehe unten.

Man sagt schließlich, so ein Blog müsse auch recht interaktiv und „vernetzt“ sein. Aber es ist ja weder technisch noch durch eine wirklich zwingende Norm ausgeschlossen, die Bloggerei als Solist vor Publikum zu betreiben (und selbst das Publikum ist bekanntlich optional). Noch ist es zwingend, auf andere Blogs zu verweisen und deren Inhalten zu kommentieren oder durch Verlinkung bzw. faktische Verdoppelung zu einer kaskadenhaften Verbreitung zu verhelfen, welche dann ein Indikator für ihre Richtigkeit, Unterhaltsamkeit, Relevanz oder was immer sein soll. Das mag alles seinen Nutzen haben und dem eigenen Blog womöglich auch Leser zuführen. Zwingend ist es nicht, auch wenn andere davon ausgehen, dass fehlende Verlinkung (wie auch Twitterung), speziell unter Soziologen, mangelnde Offenheit bezeuge. So wie Gutachter bei der Lektüre einiger meiner Manuskripte aufschrien: Aber das Internet! Das kommt gar nicht vor! Kann man doch heute nicht mehr machen! – Man kann. Ich führe ein: der Oma-Test. Wann immer vom „heutigen Individuum“, der „heutigen Gesellschaft“ etc. die Rede ist, die sich so arg verändert hatten, setze man ein: „meine Oma“. Also: „Meine Oma vernetzt sich heute über Facebook, bastelt sich aus der Vielfalt der Lebensstile ihren eigenen Entwurf, hat keine Bindung mehr an einzelne politische Parteien, wendet sich vom klassischen Journalismus ab, fühlt sich nicht mehr in den großen Kirchen aufgehoben…“ (das Gegenteil ist, mit einigen Ausnahmen, der Fall). Man sieht sofort, dass was nicht stimmt. Man muss, statt von irgendwelchen Tendenzen in Teilen der Gesellschaft, ob sie dereinst vielleicht mal verallgemeinert werden oder auch nicht, von Differenzierung ausgehen und von der Möglichkeit, dass Trends abbrechen und man sie kurz darauf als lächerlich betrachtet. Verlinkung vielleicht nicht gerade, twittern vielleicht schon, aber die Denkweise, bestimmte formale Merkmale für „das Internet“ an sich und für ein unbedingtes Zeichen von Wohlverhalten in demselben zu halten, wohl hoffentlich auch.

Es muss auch nicht unbedingt wild kommentiert werden. Die Möglichkeit steht allen offen, aber man kann sich auch einfach seinen Teil denken. Zum ersten Geburtstag darf ich mir vielleicht trotzdem wünschen, man möge seine bisherige Leseerfahrung kurz mitteilen und vielleicht auf Beiträge verweisen, die einem besonders gut gefallen haben oder die einen kritisch und skeptisch stimmten. Habe ich auch oft nur das kleine Publikum eines Fragenstellers und in Gleichnissen sprechenden Lehrers, der mit ein paar Leuten durch einen Säulengang wandelt oder unter einem Ölbaum sitzt, so wäre es schön, auch Einwürfe anderer in den Monolog zu hören, sie ihre eigenen Gedanken entwickeln zu sehen. Aber hier verweise ich dann doch auf das Internet: Es muss nicht alles an einem einzigen Ort geschehen, eben noch nicht einmal im Internet, und nicht mir gegenüber, zumal man mir ja auch nicht gegenüber steht oder sitzt und ich niemanden direkt anspreche.

Aber nun auf zu einem kleinen Rückblick, den ich mit dem herzlichen Dank verbinde an alle, die mir regelmäßig, gewollt oder ungewollt, die Themen zuspielen, ja manchmal regelrecht Aufträge erteilen. Da gab es zum Beispiel einige schwere Brocken, kaum handhabbare Mehrteiler zu Grundsatzfragen: Was hält die Gesellschaft zusammen?, wie sollen die Früchte aus der menschlichen Arbeit verteilt werden?, welche Ansprüche kann man an das gute Leben haben? Diese Dinger haben erstaunlicherweise auch ihr Publikum gefunden, so unzulänglich sie sein mögen (mehr Vorahnungen und zusammengeklaubte Gedankenfetzen als wirkliche Entwürfe). Dann gibt es natürlich diejenigen Stücke, die dem Titel des Ganzen am ehesten entsprechen, da sie vom Sinnlichen ausgehen: Können wir uns das Zusammenspiel von Aromen als Sprache vorstellen?, die Ästhetisierung von allem am Beispiel Berlins, über den euphemisierenden und sublimierenden Effekt der Fremdsprache (das angeblich so wohlklingende Französisch und das Schimpfen auf Ausländisch), und über die Grenzen zwischen Ekel und Lust (das soziale Spiel mit Differenzen ist ohnehin interessant: wie kleine Unterschiede plötzlich die willkürlichen, aber notwendigen sozialen Grenzen überspringen, wie man Differenzen aufstapeln kann, um Dinge immer näher zu kategorisieren). Diese Betrachtungen über das Sinnliche können sich in zwei Richtungen ausweiten: zu einer bescheidenen Phänomenologie sozialer Sachverhalte (am Beispiel des Teetrinkens: Was heißt Mein und Dein, was Eigentum, was meine und deine Gefühle? Dazu höre man das titelgebende Jazz-Stück, wie es überhaupt sinnvoll wäre, einen Soundtrack zu diesem Blog zusammenzustellen – ich belasse es zum Thema Musik aber bei einem Verweis auf den Text zum amateurhaften Klavierspielen und auf eine Erörterung, ob Musik die Sprache der Gefühle ist und welche mehr als tausend Worte denn nun Bilder sagen). Die andere Richtung besteht darin, dass die Konzentration auf die Sinnlichkeit, zusammen mit einigen sprachanalytischen Betrachtungen, uns zur Einsicht führt, dass der obwaltende Biologismus irreführend ist, der Versuch, unser Empfinden und Erleben unvermittelt gleichzusetzen mit physiologischen Vorgängen. Adrenalin ist aber keine Aufregung, Mangelsituationen im Körper sind noch kein Wissen, was einem fehlt.

Überhaupt die sprachanalytische Denkrichtung. Wenn ich es nur schaffe, ein wenig von diesem Witz, der sich durch die Schriften etwa Wittgensteins und Austins zieht, etwas von der grobschlächtigen Unbotmäßigkeit und zugleich der Strenge und Aufmerksamkeit für die Details, der Feinsinnigkeit der Argumente nachzuahmen… So habe ich jedenfalls versucht aufzuzeigen, was eine Breze ist, wenn man sie isst, und was es bedeutet, sich nicht zu melden (was immer eine Frage der Normen ist und auch zur Frage führt, wie man Verpflichtungen des Sicht-Meldens wieder los wird, etwa bei nur einseitigem amourösem Interesse), und im Buch findet sich das Gegenstück zu diesem Text, nämlich dazu, was es heißt, zusammen zu sein. Es sollen noch einige Stücke in diesem Geiste folgen, und es gibt weitere, die sich mit der Sprache befassen, aber nicht ganz dieser Denkrichtung zuzuordnen sind, etwa jenes über die Metaphern, die wir verwenden, wenn wir über Wirtschaft und Märkte reden. Ökonomie nicht nur nach Art der Ökonomen, sondern eben mal metaphorisch, mal existenziell (der tragische und nichttragische Aufstieg und Niedergang von Kneipen) oder als Kritik mythischer Vorstellungen, etwa des Glaubens an den wahren Wert der Dinge (prototypisch: Gold und Immobilien). Auch ein wenig eine Glaubensfrage: Wie der Basar nur funktioniert, weil er seine Funktionsweise verschleiert (das Stück insgesamt ein Sammelsurium von meiner Istanbul-Reise: Wie Geschlecht und Schleier andere Ungleichheiten verschleiern. Überhaupt das Thema Geschlecht. Ich habe es einmal auch einfach an Zahlenverhältnissen festgemacht: 50:50).

Im Reigen der Disziplinen fehlt vielleicht noch die historische (aber man kann ja streiten, ob wir solche Fächer wie Geschichtswissenschaft, Wirtschaftswissenschaft, Politikwissenschaft, Kommunikationswissenschaft brauchen, oder einfach nur Sozialwissenschaft). Jeweils aus dem Eindruck einer gewissen Lektüre heraus kam ich etwa auf die Idee, eine Art Weltraumsoziologie zu betreiben (was verrät uns die Art, wie wir über außerirdisches Leben denken und wie wir Raumfahrt rechtfertigen? – beides sind, trotz des vermeintlichen Zukunftsthemas, historische Fragen) oder die Selbstverständlichkeit und doch den Widerwillen zu befragen, mit denen wir heute Steuern zahlen: Sind wir alle Robin Hood, oder: Steuern als legitime Erpressung. Außerdem habe ich mal erkundet, warum wir das Neue besser finden, obwohl wir überzeugt sind, dass etwas nicht besser ist, nur weil es neu ist, und was man überhaupt beim historischen Denken im Alltag beachten muss. Ferner ein Stück zu Tracht (oder Verkleidung) und Tradition und zum maßvollen Trinken (oder eben nicht). Das sind sozusagen die Bavarica in meinem Sortiment, aber sie verweisen auch auf ein andere Interesse: das vorherrschende Ethos, die rechte Lebensweise. Zunächst wieder inspiriert durch den Biergarten: Individualität und Masse, und dann zu den Paradoxien des vorherrschenden Individualismus: Ist Anderssein ein Selbstzweck (dazu eine Zwillingsstudie)? Wie sinnvoll sind Thesen über die Individualisierung und Entstrukturierung in unserer Gesellschaft? Und zum heutigen Ethos gehört auch eine gewisse zwiespältige Liberalität, die doch immer die Tendenz hat, das gute Leben standardisieren zu wollen und diejenigen schräg anzuschauen, ja für pathologische Fälle zu halten, welche nicht nach demselben Glück streben, wie es allgemein anerkannt ist: Man muss zwar nicht viel besitzen, aber viel gesehen haben, die Welt bereisen, und: frische Luft ist verpflichtend, bei schönem Wetter draußen sein die einzig vernünftige Bürgerpflicht.

So sind wir bei einer existenziellen, gelegentlich auch religiösen Dimension, der Frage des guten Lebens oder des Sinns des Lebens. Wie kann man darüber nachdenken, ohne die sozialwissenschaftliche Distanz zu verlieren? Entweder heiter (Fußball als Religion? Umgekehrt!), oder musikalisch über das ja doch etwas ernste Thema des Suizids, schließlich indem man einfach zu vermeintlich falschen Zeit ein Thema aufgreift (die Adventszeit als Fastenzeit?!). All das sind Übungen (Fastenübungen, gedankliche Dehnübungen) im soziologischen Denken. Und dann kann schließlich das Denken selbst Thema werden: Was ist die rechte Zeit zum Denken, die ja nie zu sein scheint, und was ist die rechte Art? (Natürlich muss dabei eine Art Publikumsbeschimpfung rauskommen, weil ein Publikum, das sich von mir oder überhaupt irgendjemandem vorschreiben lässt, wie es zu denken hat…) Und bei diesem Thema dürfen auch die Berge nicht fehlen.

Neben den Aktualitäten (wie Wahlen oder Waffenverboten), bei denen die Sozialwissenschaft immer zu spät kommt (und darum ganz andere Stärken zeigen muss), kommt man auch ins Moralisieren. Das finde ich auch überhaupt nicht schlimm. Das ist auch eine Art, Wissenschaft zu betreiben, neben der möglichst wertfreien Analyse (differenziert Auseinandersetzungen mit dieser problematischen Unterscheidung spare ich mir hier). Vielleicht ist es sogar ein Endzweck der Wissenschaft: Wenn der Mensch ein wertendes, entscheidendes Wesen ist (je nach Fall bewusst, überlegt, intuitiv, unbemerkt usw.), dann schafft die Erkenntnis erst das Angebot des zu Bewertenden, ist Erkenntnis selbst ein Gut oder Ungut, und verschafft uns das Nachdenken über das Werten höchst wichtige Erkenntnisse. Das Moralisierende steckt in vielen bereits genannten Beiträgen drin, aber als Beispiel sei noch die Erörterung genannt, ob es ein moralisches Argument sein kann, dass etwas ein schlechtes Beispiel abgibt. Oder aus dem Alltag eines Dozenten gegriffen: Wie verteilt man Referate gerecht?

Denn ich verliere natürlich auch ein paar Worte über Wissenschaft selbst: Wissenschaft als Beruf wäre nicht derselbe, wenn sich Wissenschaft nicht beständig selbst reflektieren würde. Also neben einigem Genanntem: die gute alte Wissenschaftssprache, Plagiate in dieser und anderen möglichen Welten, Tiefschläge in Begutachtungsverfahren, die Aufforderung zur energischen Interessenvertretung auch gegen unseren Idealismus, eine Verteidigung der Sozialwissenschaft gegen ihre Kritik als Ausforschung und Manipulationstechnik, was zu Wissenschaft im Dialekt und zu Studiengebühren.

Zusammen ist das praktisch schon wieder ein Buch voll. Aber viele werden das erste noch nicht gelesen haben…

Was ich lese und zu lesen empfehle

Ein Portrait des Autors in Links: Seiten, die ich lese bzw. nutze, und empfehlen kann.

Erstmal sozialwissenschaftliche Blogger-Kollegen (keine Vollständigkeit beabsichtigt, nur einige Schlaglichter auf die Vielfalt).

http://soziologie.de/blog/
Offiziöses Organ der deutschen Soziologenzunft. Die Prominenz bloggt.

http://sozialtheoristen.de/
Sehr bielefelderisch, nicht nur im Theorieapparat, sondern auch in der Geste: abklärende Aufklärung („Entzauberung der Welt durch ihre kontra-intuitive Beschreibung“, heißt es im „Mission statement“, was bedeutet: Ihr glaubt wohl, dass man nur so denken kann, wie ihr alle denkt! Geht aber auch anders! Hintergehung des Commonsense also. Mache ich ja auch manchmal). Luhmann und seine Anhänger sind einerseits ein Meister jener Operation, die auch Philosophen, Theologen und Literaten gerne nutzten: die Erledigung, die Verkündung des Endes der Geschichte, respektive der Philosophie, der Offenbarung oder der Literatur. Alles gesagt, alles zu Ende gedacht, hinter diesen Zustand kann niemand zurück, das Alte ist ein- für allemal tot. Andererseits ist allen klar, dass noch viel gesagt werden kann und auf viele Arten, und das wird zumindest erlaubt, wenn es denn demselben Geist entspringt wie demjenigen der Erlediger. Für den Leser heißt das: Man weiß, was man bekommt, kann sich trotzdem noch ein wenig überraschen lassen (wie es Klaus Schönbach auch als Funktion für die etablierten Medien benannte: zuverlässige Überraschung). Darum auch ein empfehlenswertes Blog für die zuverlässige Überraschung.

http://www.statistiker-blog.de/
Da ich ja im Hauptberuf durchaus der quantitativen Sozialforschung huldige und überzeugt bin, dass manche sozialen Sachverhalte nur zu erfassen sind, wenn man die statistische Verteilung bestimmter Merkmale in der Gesellschaft untersucht, kann ich mich auch an interessanten Statistiken ergötzen.

Eine Linkliste weiterer Blogs unter http://soziologieblog.hypotheses.org/links#3 (darunter einige Prominente wie http://blogs.the-american-interest.com/berger/, v.a. religionssoziologisch).

Ferner eine Gruppe von Blogs zu Infografiken. Schöne Bilder aus Daten:
http://infosthetics.com/
http://www.visualcomplexity.com/vc/
http://www.informationisbeautiful.net/

Noch mehr hier: http://flowingdata.com/2012/04/27/data-and-visualization-blogs-worth-following/

Für meine akademischen Hobbies nutze ich u.a. folgende Seiten: http://books.google.com/ngrams für den Ideengeschichtler in mir (ab wann kommt ein Begriff vor und in welchen Konjunkturen schwankt seine Bedeutsamkeit?), http://hyperbourdieu.jku.at/hyperbourdieustart.html um einen Überblick über die verworrene Publikationsgeschichte der Werke von Pierre Bourdieu zu erhalten, oder z.B. http://www.r-project.org/ für statistische Spielereien. Auch als Wissenschaftler kann man jetzt auf Klickzahlen starren: http://realtime.springer.com/book/978-3-531-19568-1.

Aus anderen Fächern:
http://www.sprachlog.de/
Gegen selbsternannte Sprachschützer und für Ungleichheits-sensible und -überwindende Sprache (möge sich jeder und jede dazu eine eigene Meinung bilden – ein paar Gedanken ist das Thema immer wieder wert), aber auch öfter mal ein paar nüchterne linguistische Aufklärungen.

http://www.guardian.co.uk/science/series/badscience
Die Botschaft ist eigentlich simpel: Gute Wissenschaft sind doppelblinde und randomisierte experimentelle Studien, schlechte Wissenschaft ist, diese zu verheimlichen oder gar nicht erst durchzuführen, sondern pseudowissenschaftlichen Unfug abzusondern. Der Mann ist halt Mediziner, und sein heiliger Zorn echt, weil gute Wissenschaft in der Medizin eben Leben retten kann. Also schreibt er sehr unterhaltsame Polemiken (auch in Buchform) gegen Quacksalber und die Pharmaindustrie. Zweitblog auch hier: https://bengoldacre.posterous.com/

Einige Unvermeidliche, bei denen zwar nicht immer zustimmendes Nicken meinerseits garantiert ist, aber ein kurzes Nachdenken, ein für später eingeprägtes Argument oder Faktum und/oder gute Unterhaltung:
https://netzpolitik.org/, das Zentralorgan des deutschsprachigen Internet-Aktivismus,
https://blog.fefe.de/, die „Bildzeitung für Nerds“,
http://carta.info/ für Analysen und Gesinnungsaufsätze,
http://www.stefan-niggemeier.de/blog/ für manchmal detailversessene Journalismuskritik (Niggemeier, früher beim Bildblog [kleine Korrektur: Es erscheinen weiterhin noch Beiträge von ihm dort, nur ist er nicht mehr so aktiv involviert], ist inzwischen der bessere Bildblog).

Und fernab der eigentlichen Soziologisiererei, aber doch irgendwie von soziologischem Interesse, weil zwischen den Zeilen doch immer reflektierend, moralisierend, vor allem ästhetisierend: Mein persönlicher Einstieg in die Welt der Blogs über schöne Alltagsdinge, Handarbeit, Ausflüge und Reisen, und Stadtleben jenseits des Großkonsums: https://raupenblau.wordpress.com/

Weitere Hobbies: Fürs Wandern unabdingbar: http://hoehenrausch.de/, beim Musikhören nützlich, wenn ich mal in eine Partitur bzw. einen Notentext schauen will (oft mit der Frage, ob ich ein gehörtes Stück auch auf dem Klavier spielen könnte, obwohl das Ergebnis meist feststeht): http://imslp.org/wiki/Main_Page

Und übrigens: wesentliche Internetseiten über Katzen:

http://thecatscan.tumblr.com/

http://nyan.cat/

http://lolcats.icanhascheezburger.com/

http://omgcatsinspace.tumblr.com/

http://cat-bounce.com/