Synästhetische Soziologie

Versuche und Unterweisungen, die Gesellschaft mit Sinn und Verstand zu begreifen

Kategorie: Großtheorie

Wie wird man ein Verbrecherpaar?

Ich beginne mit einem soziologischen Begriff, den ich noch erläutern werde: doppelte Kontingenz, und mit einen Dialog, den ich aus dem Gedächtnis wiedergebe (Ich so: „Wie würdest du reagieren, wenn deine Freundin dir vorschlagen würde, gemeinsam ein Verbrechen zu begehen.“ Ein Freund so: „Ich glaube, ich würde nicht unbedingt mitmachen, aber es tolerieren, wenn sie es tut. Wenn es denn ein Wirtschaftsverbrechen und kein Gewaltverbrechen ist. Aber trotzdem bin ich ja dann Mitwisser…“). Wie gelingt es, wenn man mit seinem Partner oder seiner Partnerin zusammen Verbrechen begehen möchte oder zumindest ihr oder ihm sagen will, dass man solche zu begehen vorhat oder sie bereits begangen hat und weiter begehen will? Wie stiehlt man denn in einer Beziehung zusammen Pferde? Was ist hier das Problem und was sind Lösungen?

Erst einmal zähle ich ähnliche Probleme auf wie das beschriebene, die Etablierung einer kriminellen Partnerschaft. Zum Beispiel diese Geschichte: Einige Richter wollten sich mit Studierenden ins Geschäft kommen (gelegentlich auch ins Bett), indem sie ihnen Aufgabenstellungen aus juristischen Staatsexamen gegen unglaublich hohe Geldbeträge anboten. Wie aber bietet man jemandem ein solches Geschäft an, ohne dass die Gefahr zu groß wird, verraten und angezeigt zu werden; wie geht man aber zugleich zielstrebig genug vor, um sich nicht zu viele Geschäfte entgehen zu lassen? Allgemein gesprochen: Wer andere kriminelle Handlungen vorschlägt oder anbietet, muss sich irgendwann dazu bekennen, sie wirklich durchführen zu wollen, und kann sich der Reaktion nicht sicher sein.

Oder Beispiele von außerhalb der Kriminalität: Ein Paar möchte herausfinden, ob man bestimmte außergewöhnliche, aber legale sexuelle Präferenzen teilt. Aber einige Präferenzen sind sozial stigmatisiert, so dass man nicht weiß, ob die Partnerin oder der Partner abgeschreckt sein wird, wenn man sie äußert.

Und warum sagt man nicht allen Menschen, die man liebt, dass man sie liebt? (Und ich meine damit nicht nur, aber auch das Problem, dass man womöglich mehrere liebt und es inopportun sein könnte, es allen zu sagen.)

In seiner Reinform läuft dieses Problem auf die von Talcott Parsons und in seiner Folge vor allem von Niklas Luhmann beschriebene doppelte Kontingenz hinaus: Wären beide Personen unbeschriebene Blätter ohne Menschenkenntnis, müsste man immer davon ausgehen, dass alle Menschen mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% Verbrechen begehen möchten oder nicht. In idealtypischer Form würde man womöglich auch die Folgen beider Ausgänge gleich bedeutsam finden (also dass man es in etwa gleich schlecht findet, wenn einem eine Gelegenheit entgeht, weil man nicht fragt, und wenn man mit den negativen Folgen der Ablehnung leben muss, weil man fragt). Man steht dann da wie Buridans Esel, der sich nicht zwischen zwei Heuhaufen entscheiden konnte und verhungerte, und weiß nicht, wie man anfangen soll, weil beide Anfänge (ein Verbrechen vorschlagen oder nicht) gleich gut oder schlecht sind. Oder wie eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt, weil man selbst sein Handeln von der Gegenseite abhängig macht und die Gegenseite ihres von einem (andere können entweder selbst etwas vorschlagen, stehen aber vor der gleichen Unsicherheit, oder sie könnten abwarten, aber dann nur auf etwas reagieren, wenn man etwas vorlegt…).

Man könnte natürlich sagen, das Problem bestehe nicht: In der Realität klappt es ja offenbar. Die Frage ist natürlich, ob es nicht häufiger oder seltener klappt, als man es erwarten würde. Oder man sagt sich: Wenn das Problem offenbar nicht immer besteht, warum besteht es manchmal nicht? Was sind denn die „Lösungen“ dafür, wie wird es im Alltag gelöst?

Ein Teil der Lösungen liegt bereits in den Folgen: Denn anders als oben angenommen, wiegt eine Seite oft schwerer: Vorteile aus dem Verbrechen, Trennung oder Beziehungsstreit, Strafverfolgung, usw. Das ist aber noch recht trivial: Man erklärt eine Entscheidung damit, dass man eine Seite eben vorzieht. Weitere Lösungen wären: Naivität bzw. Rücksichtslosigkeit, Beobachtungsgabe oder Menschenkenntnis, hypothetische Kommunikation, Vermittlung und Abstreitbarkeit. Wenn bereits eine Partnerschaft oder zumindest eine andere Beziehung besteht, insbesondere mit einem Machtgefälle, kommen ferner in Frage: Trägheit, Duldsamkeit, gar Unterwürfigkeit oder Zwang und Erpressung. Einige von den genannten Optionen muss man womöglich erläutern.

Naivität oder Rücksichtslosigkeit: Man redet einfach so drauf los, egal, was man anderen aufbürdet, oder nimmt keine Rücksicht auf die Folgen für sich selbst. Schließlich sind nicht alle so verkopft wie in den Sozialwissenschaften (aber deren Leistung ist es ja gerade, Probleme zu sehen, wo keine sind).

Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis: Man lauert auf kleine, vielleicht unwillkürliche Hinweise (ich hatte so etwas Ähnliches bereits für den Fall von Vorstellungsgesprächen analysiert). Oder man kennt sich halt (weiß bereits, dass der Richter Klausuren verkauft) oder kann die andere Person zumindest in eine Kategorie einordnen, die eine bestimmten Ausgang wahrscheinlicher werden lässt und bei der die Folgen typischerweise ein bestimmtes Ausmaß annehmen (ist käuflich, fürchtet sich sehr vor Strafverfolgung usw.). Menschen haben eine Geschichte, oft eine gemeinsame, und selbst kurze Begegnungen haben eine: Es ergeben sich Anhaltspunkte, man reagiert auf sie, dann reagiert wiederum der oder die andere… Damit verbunden:

Hypothetische Kommunikation: über einen fiktiven oder zumindest fremden Fall sprechen, die Reaktionen beobachten. Zum Beispiel über Fifty Shades of Grey.

Vermittlung und Abstreitbarkeit: Man kann einen Weg ersinnen, wie die Präferenzen beider Personen abgeglichen werden, ohne dass sie erfahren, was die jeweils andere will, sondern dass nur eventuelle Übereinstimmungen identifiziert werden. Eine entsprechende App ermöglicht es z.B., sexuelle Vorlieben anzugeben, und es werden am Ende nur die geteilten angezeigt. Man kann also immer abstreiten, dass man eine der anderen angegeben hat, welche auf wenig Gegenliebe stoßen würde. Natürlich kann man so ein System irgendwie austricksen, indem man etwas nur probehalber ankreuzt, muss aber damit rechnen, dass es auch die andere Person tut – und steht vor dem Problem, dass man nicht beweisen kann, etwas nur unernst angegeben zu haben. Auch vor der Entwicklung solcher technischen Entwicklungen konnten über Kuppler und Vermittler Interessierte zusammengebracht werden, ohne dass sie im negativen Fall von ihren Interessen erfahren hätten.

Trägheit und Zwang: Manche befinden sich eine geradezu quälenden und selbstquälerischen oder, in anderen Fällen, einer bequemen Abhängigkeit von anderen und machen zum eigenen Schaden vieles, gar alles mit, ohne sich aus der Bindung zu lösen. Andere wiederum sind nicht nur emotional, sondern auch in anderer Hinsicht erpressbar oder abhängig und können so veranlasst werden, bestimmte Aktivitäten zu vollbringen oder zu dulden.

Kurz, man braucht entweder Mut, Naivität oder Dreistigkeit, damit man die Probleme überwindet, die einen hindern, wenn man sich kriminell oder auf anderweitig risikoreiche Weise vereinigen will. Man muss diese Probleme entweder einfach nicht zur Kenntnis nehmen oder sich forsch darüber hinwegsetzen. So erweisen sie sich dann in vielen Fällen als unproblematisch, und das Unproblematische ist für die Soziologie oft interessanter als das Problematische: Warum funktioniert, was eigentlich nicht funktionieren dürfte?

So ziemlich das Gegenteil von Populismus

Wenn „Populismus“ nicht nur ein Schimpfwort sein soll, sondern auch was aussagen, eine sinnvolle Unterscheidung treffen, dann müsste man wissen, was Populismus ist. Und damit auch, was Populismus nicht ist.

Populismus oder sein Gegenteil könnten vielleicht irgendwas mit Demokratie zu tun haben, möchte man vermuten. Etwa so: populus – Volk – Demokratie? Oder so: Populismus – irgendwie böse – keine Demokratie?

Nun, wie stehen denn Populismus und Demokratie zueinander? Schlaumeier, nicht zuletzt populistische, übersetzen das einfach mit „Volksherrschaft“ und glauben, damit sei die Sache erledigt. Weg mit all denen da oben, den Herrschenden, die nicht das Volk sind, „wir sind das Volk“, und das Volk an die Macht! Nur, was heißt das, das Volk an der Macht? Wenn man Demokratie nach dem Prinzip der Herrschaft denkt, dann ist das, wie wenn man den absolutistischen Staat köpft (den Monarchen guillotiniert oder davonjagt) und „das Volk“ an seine Stelle setzt. Das herrscht dann, und das ist richtig so, weil Demokratie (woher weiß der Populismus eigentlich, dass das die beste Regierungsform sein soll?). Nur, über wen herrscht denn das Volk? Über sich selbst, würde man meinen. Aber zu welchem Zweck und mit welchem Inhalt? Es muss ja feststehen, was das Volk will, damit es herrschen kann. Ja, streng genommen müsste das gesamte Volk einer Meinung sein, denn sonst herrscht nicht es, sondern vielleicht ein Teil davon. Aber wozu eine Herrschaft über ein Volk, das sowieso schon einverstanden ist? Was soll diese Herrschaft bewirken, wenn ja alle eh schon den gleichen Willen haben? Oder es läuft eben doch auf die Herrschaft der Mehrheit über eine Minderheit, oder über Minderheiten hinaus: die Kriminellen, Zugewanderten, Unangepassten, und auf Abgrenzung und Abwehr nach außen: gegenüber jenen, die nicht zum Volk gehören. Der Populismus muss also einige aus dem Volk herausdefinieren, um von Volksherrschaft reden zu können. Populismus als Wunsch nach der Herrschaft eines einheitlich gedachten Volkes statt der da oben.

Man hat nun gesagt, darum sei das Gegenteil von Populismus die liberale Demokratie mit Minderheitenrechten, Gewaltenteilung, freiem Mandat usw. Hierin liegt aber das Dilemma der Liberalen: Man glaubt fürchten zu müssen, dass die geschätzten Freiheiten nicht unbedingt mehrheitsfähig wären (ob das nun stimmt oder nicht) und muss auf Verfassungsgerichte als heimliche Gesetzgeber oder auf „unbequeme“ oder Gewissensentscheidungen von Abgeordneten und Regierungen hoffen. Manche haben dabei noch ein schlechtes Gewissen, weil’s irgendwie undemokratisch ist, andere sagen direkt, dass es angesichts des Populismus auch „zu viel“ Demokratie geben könne (gehen also von einem Nullsummenspiel zwischen Demokratie und Freiheitsrechten aus, und da beides irgendwie gut ist, muss es im rechten Maß gemischt werden). Und da liegt es nahe, dass andere wiederum den Populismus als Rettung der Demokratie gegen die „liberalen“ Eliten feiern, welche nach Gutdünken Verfassungen schreiben, auslegen, diktieren (z.B. auf Herrenchiemsee in den Block ihrer Sekretärinnen), und „liberale“ Meinungen diktieren (oder z.B. heute selbst in den Computer tippen, zwecks Veröffentlichung in der Lügenpresse, und damit allen aufzwingen wollen). Populismus als zu viel Demokratie, oder eben: liberale Demokratie als zu wenig Demokratie und Populismus als Heilmittel dagegen – beides liest man so auch in der wissenschaftlichen Literatur.

Aber wie wären Minderheitenrechte, wie wären Verfassungen zu legitimieren, außer demokratisch? (In vielen Verfassungen steht drin, dass alle Menschen die Rechte sowieso hätten, sie damit geboren seien oder so. Aber zur Sicherheit hat man dann doch über die Verfassung abgestimmt. Oder andernorts die Grundrechte nicht in diese hineingeschrieben, weil sie sich eh von selbst verstehen. Später aber dann doch. Usw. Aber wenn sie nicht vom Himmel fallen, muss man sie eben beschließen…) Und in einer heterogenen Gesellschaft müssen die Regeln der Demokratie liberal sein. Keine Gruppe darf sich auf Kosten anderer als das Volk definieren, sondern muss die anderen anerkennen: ihre Freiheit, zunächst einmal so zu sein, wie man ist; und dann die Freiheit, am politischen Prozess teilzunehmen statt als böse Elite oder nicht volksangehörig herausdefiniert zu werden. Das wäre aber nur ein Idealbild: eine freiheitliche Ordnung, welche demokratisch legitimiert wiederum die Teilnahme aller an demokratischer Politik ermöglicht. Denn schränkt nicht die real existierende liberale Demokratie die Teilhabe ein?

Ein Teil dessen, was der Populismus womöglich gar nicht so ganz zu unrecht verabscheut, ist aber nicht so sehr liberale Demokratie, sondern Technokratie. Auch hier wird nicht mehr die Vielfalt möglicher Interessen und Werturteile anerkannt, sondern Expertentum soll über die „richtigen“ Maßnahmen entscheiden. Nur bleibt das eben immer ein Werturteil: Man kann Probleme unterschiedlich sehen, unterschiedliche Ziele und Prioritäten haben. Man kann auch uneins sein über die Wahl der Mittel. Die Technokratie schiebt aber allen gleiche Ziele unter (bzw. redet gar nicht mehr über Ziele, sondern nur noch über alternativlose Maßnahmen).

Aber letztlich wird diese Technokratie, zum Teil über lange Ketten, durch repräsentative Demokratie legitimiert – so wird es zumindest dargestellt: Es werden Abgeordnete gewählt, die eine Regierung oder deren Spitze wählen, welche mit anderen gewählten Regierungen in einem Rat zusammenkommt, der Ämter mit Personen besetzt, die dann etwas entscheiden, usw. Da mag es dann irgendwann nur noch reiner Zufall sein, wenn am Ende eine Entscheidung mit demjenigen übereinstimmt, was sich die Wahlbevölkerung gewünscht hat, oder wenn sie dem zumindest im Nachhinein zustimmen könnte. Ein Heilmittel dagegen sollen nun Volksabstimmungen sein, welche auch von Populisten gefordert werden.

Nun setzen sich so manche für Plebiszite ein. Demnach wären z.B. grüne Parteien in verschiedenen Ländern populistisch – einige sehen das so, aber zumindest für Rechtspopulisten sind Grüne ja das leibhaftige Böse. Was will also der Populismus mit Volksabstimmungen und warum sind populistische Bewegungen und Parteien dann eigentlich so wenig basisdemokratisch?

Oft genug ist die populistische Forderung nach Volkabstimmungen der Ausdruck eines tiefen Misstrauens gegenüber Eliten und des Wunsches, bestimmte Probleme ein für alle Mal zu erledigen. Statt des endlosen Parteiengezänks wird das Volk geeint, entledigt sich der ihm fremden Elemente und Strukturen: Schluss mit der Zuwanderung, der EU, dem ganzen Schweinkram und Verbrechen, den Bankern und Politikern. Ein Plebiszit ist dann die einmalige Offenbarung des Volkswillens, nicht Teil eines Ringen, wo die Abstimmung nur der vorläufige und immer ein wenig unbefriedigende Schlusspunkt ist, an dem die Diskussion abgebrochen wird. Nicht Teil eines Alltagsgeschäfts, wo verschiedenste Interessen zu den unterschiedlichsten Streitthemen ausgehandelt werden müssen.

Und vielleicht ist die Volksabstimmung für den Populismus auch Ausdruck der Wut über das Zuspätkommen, über das längst Entschiedene, wenn man die Debatten nicht recht mitbekommen hat oder sich seit Jahrzehnten hätte einmischen müssen. Oder Ausdruck der Angst, was da noch von oben hereinbricht, das man nicht durchschaut und kommen sah. Durch sein statisches Verständnis von Volk und Volkswillen, durch seine Idee, Dinge ein- für allemal erledigen zu können statt ständig mitdiskutieren zu müssen, durch die Definition des eigenen Standpunktes vor allem in Gegnerschaft zu anderen (den Eliten) verpasst der Populismus oft genug die politischen Prozesse oder formiert sich zu spät, und reagiert dann nur noch (empört). Sofern er nicht selbst regiert. Und das ist ja vielleicht der wirkliche Traum, anstelle von Volksabstimmungen als Strafaktion für die Herrschenden: wahre Volksvertretung.

Der Populismus zieht eine Art der Repräsentation vor, bei der die Repräsentierenden den Repräsentierten fast auf magische Weise entsprechen, unmittelbar den einheitlichen Volkswillens (minus den der nicht Dazugehörenden) erfüllen. Dazu muss man nicht notwendig so sein wie die meisten. Es muss nur deutlich werden, dass man das Volk auf die richtige Weise verkörpert und in diesem Sinne mit ihm praktisch identisch wird. Das Volk bestellt, die Führung liefert, oder noch besser: liest die Wünsche an den Augen ab, ja kennt sie schon immer; das Volk verschmilz in seinen Repräsentanten, ohne lästige Verfahren. Im Grenzfall läuft das Cäsarismus oder Bonapartismus hinaus: Ein starker Mann, der weiß, was nötig ist. Dann braucht es auch nicht so viele Abstimmungen, Gremien und Ämter. Das erklärt dann die oft so hierarchische Struktur populistischer Bewegungen, die geringe Mitbestimmung im Innern.

Insgegheim ist es also wohl am ehesten der Traum des Populismus, sich ohne die ganzen komplizierten Verfahren gleich vertreten lassen von Leuten, die schon wissen, was man will. Oder das zumindest sagen. Oder, was weiß man schon, wenn man sich nicht drum kümmert? Wer sich ganz und gar vertreten lässt, und sei es durch die charismatischsten und entschlossensten Vertreter des Volkswillens, wird nicht mehr vertreten, sondern ersetzt. Volksvertretung ohne ständige Einmischung oder zumindest Kontrolle durch das Volk ist Selbstabdankung, ist Glaube an die Magie, dass der Volkswille per Gedankenübertragung schon den Repräsentierenden zur Kenntnis gelangen werde oder dass alle auf geheimnisvolle Weise denselben Willen haben.

Für den Populismus ist die herrschende Politik ein Ausnahmezustand, der durch Entscheidungsschlachten in Form von Volksabstimmungen entschieden werden muss, oder gleich durch akklamatorische Einsetzung wahrer Repräsentanten, die das wahre Volk ganz und gar verkörpern. Das ist natürlich ein Idealtypus, kennen wir doch populistische Bewegungen, die als Parteien im alltäglichen politischen Betrieb mitmischen oder über Einzelfragen abstimmen lassen wollen. Aber auch wenn ein Kopftuch- oder Minarettverbot oder gar eine einzelne Ortsumgehung nicht das große Ganze sind, wird dabei doch irgendwie sehr allgemein und grundsätzlich klargestellt, was Sache ist: So nicht, ihr Ausländer und Politiker! (ich sehe zumindest diese Doppeldeutigkeit des populistischen Umgangs mit Einzelthemen und -maßnahmen).

Idealtypischer Populismus will also die Mühe, die Arbeit des Politischen umgehen, hält sie für überflüssig. Das steht doch eigentlich im Gegensatz zur sonst im Populismus oft vertretenen Auffassung, dass wer nicht arbeitet auch nicht essen soll (die Eliten, die auf unsere Kosten leben, oder z.B. die „Wirtschaftsflüchtlinge“). Aber als Populistin und Populist hat man bereits seine Pflicht erfüllt. Man hat die rechte Haltung, die sich in ehrlicher Arbeit ausdrückt, und dieser gesunde Menschenverstand und gute Wille stellen bereits sicher, dass der Volkswille vernünftig ist. Also muss nicht rumdiskutiert werden. Dieses ganze Gerede lenkt ja nur ab, schwächt die Tatkraft und verzögert das Notwendige, und soll sowieso die Leute irre machen, ist Ablenkung und Verdummung durch die Eliten. Und dafür ziehen sie einem das hart und ehrlich erarbeitete Steuergeld aus den Taschen und stecken es in ihre.

(Nur scheinbar weicht davon der besonders verschwörungstheoretische Populismus ab, der sich viel auf die Arbeit der Kritik zugute hält. Es wird nämlich zwar viel herumgezweifelt, aber ebenso detailversessen wie am Ende pauschalisierend, um dann aber doch nur zu bestätigen, dass man selbst vernünftig und im Besitz der Wahrheit ist. Das gesunde Volksempfinden muss zwar wieder von der Propaganda gesäubert werden, aber ist es einmal wiederhergestellt, besteht kein Anlass für mühsames Gerede und komplizierte Verfahren. Die schlussendliche Meinung entspringt doch mehr einer vermeintlichen Erleuchtung oder einem Wiederfinden seiner selbst als dem ständigen Studium und Dialog, die nie enden und nie zu endgültigen Ergebnissen führen. Die weitere Recherche liefert dann nur noch Futter – weitere Belege und Befriedigungen beim Durchschauen. Würde das Volk erkennen, was wirklich in seinem Interesse ist, wäre das die Erlösung der Welt und zugleich ein tragischer Verlust für die Heilsbringer, nämlich ihres Sonderstatus als Eingeweihte. Mit seinem Skeptizismus, mit der Kritik an Autoritäten mag der verschwörungstheoretische Populismus ein Kind der Moderne sein, weswegen er nicht einfach als Gegenteil derselben, als rückständig begriffen werden kann – selbst wenn der vermeintliche gesunde Menschenverstand daran glauben mag, dass konventionelle Institutionen wie die heterosexuelle Kleinfamilie oder der Nationalstaat ewig und natürlich seien und nur düstere Mächte das Gegenteil propagieren. Der Populismus hat sein moderne Lektion gelernt, aber oberflächlich: Demokratie ist irgendwie gut, kritisches Denken ist irgendwie gut. Aber man muss sich über die Methoden des Demokratisierens und Zweifelns im Klaren sein.)

Nun kann man die Benachteiligten nicht selbst für ihre Lage verantwortlich machen: Hättet ihr euch nur mehr an der Politik beteiligt und wärt nicht so faul gewesen, dann müsstet ihr nicht über Fremdherrschaft jammern! Die Voraussetzungen sind hoch und ungerecht verteilt. Aber dem Populismus wäre entgegenzuhalten: Man muss die Mühen des Politischen auf sich nehmen. Die bestehen aber nun nicht darin, seinen einmal gefassten Willen, seine Wahrheit und sein gesundes Volksempfinden, vielleicht auch seinen Zorn bei Gelegenheit an der Wahlurne oder in einer Versammlung abzuliefern und damit Schluss. Das ist Demokratie nach dem Prinzip des einmal gefassten und nie wieder in Frage gestellten Vorurteils, das dann massenhaft ausgedrückt als Mehrheit die verbleibenden Minderheiten überwältigt (zur Enttäuschung populistischer Bewegungen fällt die Mehrheitsmeinung dann oft nicht so aus wie ihr eigenes Vorurteil, weshalb sie eine Verschwörung erfinden müssen, welche den gesunden Menschenverstand systematisch verdorben hat). Das betrifft auch die Sprache: Politik ist ein ständiges Übersetzen in die Sprache der verschiedenen Bevölkerungsgruppen und auch fremder Staaten, die Sprache der Wirtschaft, Wissenschaft, Verwaltung usw., und zurück, nicht ein Dem-Volk-nach-dem-Maul-Reden. Das Gegenteil des Populismus ist auch nicht der Elitismus, der sich was auf seine stilvolle Sprache und Rhetorik oder auch nur seine Rechtschreibung zugute hält (oder sogar auf seine tatsächlichen Verschleierungstaktiken), sondern das Bemühen, die Fähigkeit zur Übersetzung zu verbreiten, und der Kampf gegen das Vorurteil, dass Dinge wahr sind, wenn sie nur forsch und eingängig genug ausgesprochen werden.

Zusammenleben in einer heterogenen Gesellschaft (und ich sage ausdrücklich dazu: Weltgesellschaft, nicht nur Nationalstaat!) braucht aber mehr als phantasierte Einstimmigkeit. Man kann den Populisten nur zurufen: Wehe, wenn ihr mal unter die Räder des mehrheitlichen Volkswillens geratet! Und das kann schneller gehen, als man denkt, denn da wird nicht lange gefackelt; der (vermeintliche, populistische) Volkswille lässt nicht mit sich reden, hat was gegen das Herumdiskutieren und Kompromisse. Kein Mensch ist immer in der Mehrheit. Die Definition dessen, wer das Volk ist, kann sich ändern, oder die eigene Lage oder Meinung – auf einmal ist man Sozialschmarotzer, ideologische Abweichlerin, Teil des Systems und der Elite. Das geht’s einem an den Kragen, mit Legitimation durch das wahre Volk.

Sich schlau machen, einmischen, organisieren, diskutieren; das Wechsel-, ja Säurebad der öffentlichen und private Debatte, durch das die Meinungen zuerst und immer wieder gehen müssen; die Freiheit der Lebensform und das Recht, Probleme zu aufzuwerfen; das Verhandeln und Problemlösen; das Weltbürgertum und die Anerkennung der anderen; direkte Demokratie mit dem Schwerpunkt auf öffentlicher Debatte und Repräsentation mit freiem Mandat, weil nach der Wahl die Diskussion erst losgeht, aber mit Programm, weil Charisma Aberglaube ist; organisierte Interessenvertretung und hilfreiche, unbequeme Expertise,… Das wäre was anderes.

Partizipative Demokratie – das wäre also das Gegenteil des Populismus (oder besser: das ziemliche Gegenstück, weil es nicht das eine Gegenteil gibt: Technokratie, liberale Verfassungsinstitutionen, repräsentative Demokratie, aber ja auch ganz andere Herrschaftsformen, die dem Populismus auch nicht schmecken würden – oder in die er sich, wenn man nicht aufpasst, verwandeln könnte…).

Ergänzung: Ich habe dann auch mal aufgeschrieben, was (Rechts-)Populismus auszeichnet – 42 Antworten auf die Frage: Was ist Rechtspopulismus?

How to be sane

Die These ist, dass Wörter wie „gesund“, „nichtbehindert“, „nüchtern“ (teilweise) ähnlich funktionieren, nämlich nämlich als Ausschluss spezifischer nicht-intentionaler oder nicht zuzurechnender Erklärungen von Verhalten, welcher sich teilweise fälschlich zu eine Fehlschluss auf Kontrolle verallgemeinert. Das muss man wohl erklären (und mir geht es nur darum, wie die Beschreibungen verwendet werden, nicht ob das gut oder schlecht ist).

Am Beispiel von „nüchtern“ habe ich es schon einmal ein wenig angedeutet: „Nüchtern“ bezeichnet bei genauerem Hinhören nicht etwa einen besonderen Zustand, der besondere Eigenschaften hat. Vielmehr handelt es sich um eine Restkategorie. „Nüchterne“ Personen können wach und vernünftig, übermüdet, schizophren, in Trauer und sonst alles Mögliche sein. Das Wort hat nur die Funktion, einen bestimmten Zustand auszuschließen, und damit wohl vor allem eine bestimmte Erklärung von Verhalten: Jemand steht nicht unter Drogen und das Verhalten kann also nicht damit erklärt werden, dass man unter Drogen steht. Damit wird unterstellt, dass man sich unter Drogen anders verhalte, dass es bestimmte, nicht-intentionale Gründe oder Ursachen gebe, sich so und nicht anders zu verhalten. Man verhält sich nicht einfach so, weil man eine nach üblichen Standards nachvollziehbare Absicht dazu hat. Sondern wegen Drogen. Woraufhin man sich das Handeln auch nicht im üblichen Maße selbst zuschreiben lassen muss. Vielmehr ergeben sich Einflüsse auf das Handeln, welche nicht den gängigen Kriterien der „reinen“ Absichtlichkeit und Zurechenbarkeit entsprechen: Die Intentionen sind verzerrt oder Verhaltensweisen treten ganz und gar unwillkürlich auf. Nur ist es eben sehr schwer, die Standards der Zurechnungsfähigkeit zu erfassen und sie konsistent oder gar begründet darzustellen, zumal sie historisch und kulturell wandelbar sind. Wir haben allerlei implizite Vorstellungen darüber, die aber wohl zu einem größeren Teil per Ausschluss funktionieren: Man hält Personen für zurechnungsfähig, sofern sie sich nicht auf bestimmte Weise verhalten oder unter bestimmten Einwirkungen stehen.

„Gesund“ ist nun auch ein interessanter Fall. Es geht um jene unwillkürlichen „Verhaltensweisen“ im weitesten Sinne, körperliche Geschehnisse (z.B. ununterdrückbarer Husten, Blutung, rote Punkte im Gesicht), welche markiert sind, also auffallen, und negativ bewertet werden. Sie gehen z.B. mit subjektivem Leiden einher und werden als Einschränkung empfunden – im Gegensatz zur Einschränkung, dass man nicht aus eigener Kraft fliegen kann. Wobei es keineswegs so ist, dass man einfach unterscheiden könne zwischen krankheitsbedingten und anderen Einschränkungen. Man bräuchte dazu Kriterien, die nicht tautologisch sind. Natürlich gibt es die im Einzelfall, aber auch sie sind nicht unbedingt einheitlich, widerspruchsfrei und stabil. Krankheiten sind mehr oder weniger genau definiert, aber womöglich ist in der Praxis trotz vieler Definitionsversuche von „Krankheit“ diese überwiegend die Aufzählung aller bekannten Krankheiten – plus eventuell einiger eindeutiger Leidenszustände, für die es („noch“) keine Diagnose gibt. Ob nun aber z.B. gewisse Einschränkungen als „Alterserscheinung“ oder als „Krankheitsbild“ angesehen werden, das hängt von Definitionen ab, die umkämpft und wandelbar sind. „Gesundheit“ ist demgegenüber ein Zustand, der normalerweise nicht auffällt, es sei denn nach einer Krankheit. Er bedeutet nicht viel mehr als dass man nicht krank ist und sich entsprechend mehr oder weniger unwillkürlich krankheitstypisch verhält oder leidet (es geht hier nicht um die Dinge, die man intentional tut, z.B. eine Nasenspülung vornehmen, sondern um Husten oder Schmerzempfinden). Gewiss, verschiedenen Zuständen der Gesundheit ist einiges gemein, z.B. ein ausreichend regelmäßiger und starker Herzschlag, ungestörtes Atmen usw. Aber über die meisten Aspekte des Verhaltens sagt das wenig aus.

Nur in einigen wenigen Gebieten manövriert man sich da in Dilemmata (die ich hier nur beschreiben, nicht diskutieren kann). Traditionell koppelt man vielfach rechtliche, gar moralische Urteile an Zurechnungsfähigkeit. Die Tendenz zur Pathologisierung führt freilich zur Tendenz, abweichendes Verhalten auf Krankheit oder Entwicklungsstörung, jedenfalls auf Psychopathologie zurückzuführen. So bleibt aber immer weniger Raum für eine „Entscheidung“ für das „Böse“; das Gebiet der Moral schrumpft sozusagen, die Unterscheidung von Richtig und Falsch verliert ihren Raum. Manche beklagen das und wollen stärker zurück zur Logik der Schuld (sehen Erklärungen über Krankheit als „Entschuldigung“). Andere versuchen, moralische Urteile von ihren Erklärungen zu entkoppeln bzw. moralische Erziehung, (Re-)Sozialisation oder die richtige Behandlung vom Unwerturteil über Taten zu trennen. Das Dilemma ist jedenfalls eine Folge der Zuordnung gesund=moralisch zurechnungsfähig (Verhalten wird über Intentionen erklärt) und (psychisch) krank=nicht zurechnungsfähig (Verhalten wird über nichtintentionale Einfüsse erklärt), welche ein Problem schafft, wenn Verhalten immer mehr über nichtabsichtliche Ursachen erklärt wird.

Der provokanteste Fall aus der Gruppe der hier behandelten Begriffe ist vielleicht „nichtbehindert“. Soll damit etwa gesagt werden, eine Behinderung aufzuweisen sei vergleichbar damit, unter Drogen zu stehen?! Natürlich keineswegs. Im Gegenteil, das ist gerade das, was ich zu Erklären versuche. Jedes der hier behandelten Wörter beschreibt einen unspezifischen Nicht-Zustand, der nur dadurch definiert ist, dass er einen spezifischen Zustand gegenübergestellt wird („spezifisch“ heißt dann gerade: dass „unter Drogen“ was ganz anderes ist als „behindert“). Das gemeinsame ist dann, dass mit spezifischen Zustand Verhalten auf bestimmte Weise nicht-intentional erklärt wird, im unspezifischen Gegenzustand diese Erklärung ausgeschlossen wird.

Erklärt man Verhalten mit einer Behinderung, betrachtet man es unter derjenigen Perspektive, unter der es nicht als intentional zurechenbar erscheint. Die Benutzung eines Rollstuhls etwa wird dann vor allem dahingehend beobachtet, dass die Person nicht laufen kann, wie sie will (zumindest nicht so weit, schnell usw., wie es vielleicht wünschenswert wäre). Man schließt damit aus, dass die Person das einfach so beschlossen hat, es ihr als Entscheidung zurechenbar wäre, den Rollstuhl zu nehmen als zu laufen (es existieren natürlich Grenzfälle, wo Leute sich fragen, ob sie es ohne schaffen oder nicht). Dasselbe Verhalten lässt sich aber immer auch anders betrachten. Man kann sich z.B. durchaus für die nähere Absicht interessieren, z.B. sich jetzt gerade in den Supermarkt zu begeben („Ah, haben Sie heute frei und machen mal Besorgungen?“), und nicht nur auf den Rollstuhl starren.

Das Verhalten von Personen, die als nichtbehindert eingeordnet werden, wird in der Regel nur so, also vorwiegend anhand konkreter Intentionen, beschrieben, sofern nicht andere Zustände eine intentionale, zurechenbare Beschreibung ausschließen: Man will Einkaufen, also hat man entschieden, in den Supermarkt zu gehen. Das Augenmerk liegt meist nicht darauf, dass die Person an anderen Fortbewegungsmethoden gehindert war. Das heißt natürlich nicht, dass das nicht geht (man kann z.B. nicht mit dem Auto fahren, weil es kaputt ist), aber das ist nicht die vorrangige Betrachtungsweise bei „Nichtbehinderten“.

Man kann auch nicht einfach alle Personen als behindert beschreiben, weil bestimmte Körperfunktionen überhaupt niemandem zur Verfügung stehen. Bzw. das kann man, aber dann verschwindet die Unterscheidung. Das Ganze weist nur auf eine Asymmetrie und eine zweifache Kontingenz hin: Die Unterscheidung behindert/nicht-behindert ist asymmetrisch, da Verhalten in der Regel nicht als Folge von Nichtbehinderung beschrieben wird, aber manchmal als Folge von Behinderung. Und Kontingenz besteht darin, dass die Unterscheidung erstens nicht bedeutet, dass man Verhalten nur mit Behinderung erklären kann, sondern dass man an demselben Verhalten die intentionalen und nicht-intentionalen bzw. zurechenbaren und nicht zurechenbaren Aspekte hervorheben kann (im einen Fall die Absicht, im Supermarkt einkaufen zu gehen, oder im anderen Fall die nicht selbst auferlegte Einschränkung, nicht zu Fuß zu gehen – man kann den Vorgang auf diese zwei und auf zahlreiche weitere Arten beschreiben). Zweitens sind die Kriterien der Unterscheidung kontingent: Es kann sich verschieben, was als Behinderung gilt und was als nichtmarkierte Einschränkung menschlicher Fähigkeiten: Können manche einfach nur schwerer im Kopf rechnen, alte Menschen schlechter gehen oder sind sie „behindert“; wie ist das, wenn eine sehr effektive Hör- oder Sehhilfe zur Verfügung steht, welche Einschränkungen weitgehend ausgleicht, oder wenn man bestimmte Körperformen operativ an den Bevölkerungsdurchschnitt angleichen kann?

Wie in den vorstehenden Fällen kann man aus der Beschreibung einer Person als nichtbehindert sehr wenig schließen. In vielen Fällen sind zwar standardmäßige Unterstellungen funktional. Ein Mensch wird, so nimmt man an, es auf eigenen Füßen zum Supermarkt schaffen. Aber streng genommen ist das dem Begriff des Nichtbehindert-Seins nicht zu entnehmen, denn jemand könnte ein gebrochenes Bein haben („krank“ sein) oder zu betrunken sein, um sich auf den Beinen zu halten.

„Behindert“ beruht also auf einer Norm, die ein wenig tautologisch einen Standard annimmt, was Personen tun können – es sei denn, sie können es gerade doch nicht! Alleine darauf basierend kann man also Behinderung nicht definieren. Es braucht deshalb ferner eine Ursachenzuschreibung, z.B. dauerhafte Schädigung bestimmten Nerven. Sie können etwas nicht, oder sie tun, was sie tun, weil… „Betrunkene“ oder sonst wie unter Drogeneinfluss stehende Personen werden auch erst als solche beschrieben, wenn ihr Verhalten (oder Unvermögen) auf eine bestimmte Ursache zurückgeführt wird. Man muss auch hier annehmen, dass „nüchterne“ Personen sich anders verhalten würden. Oder halt eben genauso, nur aus anderen Gründen!

Problematisch wird es immer dann, wenn fraglos unterstellt wird, Personen hätten schon dann eine bestimmte Form der Kontrolle, wenn so ein eigentlich „leerer“ Nicht-Zustand wie „nichtbehindert“ oder „nüchtern“ vorliegt. Bzw. diese Nicht-Zustände werden meist gar nicht zugeschrieben, sondern nur die andere Seite fällt auf. Nur in besonderen Situationen wird auf die eine Seite der Unterscheidung zugegriffen, etwa wenn gerade in Frage steht, ob Verhalten drogenbedingt war oder um hervorzuheben, dass in einer Gruppe, die ansonsten aus Personen mit Behinderungen besteht, auch welche ohne vorkommen. Umgekehrt bewährt sich das im Alltag, die negative Seite der Unterscheidung nicht näher zu prüfen: Man unterstellt bestimmte Fähigkeiten und Absichten bis zum Beweis des Gegenteils bzw. dieses ist gar nicht präsent: Es kommt einem nicht in den Sinn, dass der Kassierer im Supermarkt betrunken sein könnte oder dass die neue Freundin der Kollegin es nicht ohne Aufzug in den vierten Stock schaffen könnte, wenn man die beiden einlädt. Dann kann man drüber streiten, ob solche sparsamen Unterstellungen und die zugrunde liegenden Unterscheidungen gerechtfertigt sind oder zu schlechten Begleiterscheinungen führen (dass sie z.B. eine Zumutung oder gar Verletzung gegenüber Personen darstellen, die von der Norm abweichen, oder dass bestimmte Zustände ungebührlich überhöht werden, z.B. dass es bereits an sich eine großartige Sache sei, nüchtern zu sein). Weil die hier diskutierten Zustände unmarkiert und unspezifisch sind, drohen also überzogene Unterstellungen, wenn das Gegenteil entweder nicht erwartet wird oder den Zuständen zu viel zugeschrieben wird, z.B. den Nüchternen, Gesunden usw. zu viel Kontrolle über ihr Tun. Und es droht auf der anderen Seite, dass Verhalten nicht mehr in seiner Fülle betrachtet wird, sondern eine Person auf Krankheit, Behinderung oder auch nur auf einen Drogeneinfluss reduziert wird (man offenbart sein Liebe, das wird aber mit Verweis darauf abgetan, dass man zu viel getrunken hat). Das Gegenmittel ist in beiden Fällen die Einsicht in die Asymmetrie und Kontingenz von Unterscheidungen: dass die Seiten nicht gleich funktionieren, dass die Trennlinie verschiebbar ist und dass alles Verhalten auf mehr als eine Art betrachtet werden kann.

O tempora, o memes

Es geht um Internetphänomene, etwa Meme und viralen Kram – ich hab keine Lust auf eine klare Terminologie, so wie sie auch im Umfeld dieser Phänomene nicht gepflegt wird. Es gibt Kategorien, aber auch viel Willkür und fließende Grenzen. Sonst wäre das Ganze nicht witzig oder anderweitig beachtenswert: Für Witzigkeit braucht es in der Regel Vorgaben und spielerische oder provokante Überschreitungen, Konstanz und Variation.

Meme kommen teilweise aus anarchischen Ecken des Internets, insbesondere historisch, und sind da Witzvorlagen, die nicht selten menschenfeindlich sind. Man kann sich (und das sage ich insbesondere mit Blick auf sexistische Exemplare) dann leicht einen darauf runterholen, dass man selbst so ein geiler Zotenreißer ist, indem man sie variiert und weiterverbreitet.

Nun hat sich aber ein politisch korrekterer Typus von Memen entwickelt, der höchstens insoweit Anstoß erregt, dass ihn gewisse Milieus geringschätzig als Kitsch abtun. Diese Memes sind in einem gröberen Sinne „romantisch“ (also nicht ironisch, paradox, unvollendet, handeln nicht von unmöglicher Erfüllung usw., wie es „Romantik“ im historischen, verfeinerten Sinne verlangen würde). Sie sagen: Habt euch doch einfach lieb; YOLO; ist das süß!; Kinder und Katzen sind die besseren Menschen; die Magie von … bringt die Menschen zusammen und reißt sie aus ihrem tristen Alltagsleben, usw. Diese Meme sind ein Gegenpart zur Nüchternheit oder aufreibenden Negativität der Berichterstattung und Kommentierung, zur Plattheit und Standardisierung der rührseligen Geschichten im Vermischten der etablierten redaktionellen Medien – und werden deshalb auch von diesen gerne opportunistisch weiterverbreitet, wenn ihr Erfolg bereits feststeht.

Häufig passiert das Folgende: 1. Die Beiträge werden mit geradezu hysterischem Eifer geteilt. 2. Es treten Nörgeleien auf, dass das ein Fake ist, weil professionell oder Werbung, und es wird bemängelt, das sei platter Kitsch (diese Form der Geschmackspolizei findet, dass Kommerzialität zur sofortigen ästhetischen und inhaltlichen Nichtigkeit führt; wahre Schönheit kommt aus dem unverdorbenen Volke der internetkundigen Amateure, oder man weiß gar nicht so genau, woher überhaupt – das zeigt zweierlei: nämlich erstens dass die konventionelle Werbeästhetik schon so durchgedrungen ist, dass sie vielfach nicht mehr weiter auffällt und dass die Werbung umgekehrt alle neueren Zeichen der Authentizität recht gut angeeignet hat, und zweitens dass einem von den plattesten Kritikern der Kommodifizierung kein Spaß gegönnt wird, weil es kein richtiges Leben im falschen gibt, vor allem wenn man den Ungebildeten ihre Verdorbenheit und Naivität unter die Nase reiben kann). 3a. Es kommt zu Trotzreaktionen: Trotzdem rührend! Und zugleich: 3b. Es werden Parodien verfertigt. 4. Mit reichlich Verspätung erstaunen sich die etablierten Nachrichtenmedien, was dieses Internet jetzt schon wieder geritten hat. 5. Man wird auch der Parodien überdrüssig, wenn diese zu einem eigenen Genre wurden und damit reichlich standardisiert. Gelegenheit hilft man sich noch mit der Herstellung von Metaparodien, welche also die Parodien noch eine Runde weiter treiben.

Wenn nun so ein Beitrag oder ein Thema in den sozialen und klassischen Medien intensiv verbreitet wird, löst das eine eigenen kleinen diskursiven Zyklus aus, den man sich wie folgt vorstellen kann. 1. Beschwerden über diese Kanalverstopfung: Überall wird das verbreitet! Hat man denn nicht anderes zu tun? 2. Sarkastische Antwort, dass diese Kritik nur wieder das Thema erwähne. Überhaupt sei niemand gezwungen, sich das anzutun. 3. Zynische Beobachtung dieses Vorgangs, etwa durch Kommentierende, oder eben hier.

Solche Typologien oder Phasenmodelle liegen an der Grenze zu den oft komisch, zumindest aber unterhaltsam gemeinten Einteilungen, wie sie in populären Darstellungen vorgetragen werden. Und die Soziologie hat ja kein Monopol auf die Beschreibung, Deutung und Einteilung sozialer Phänomene, sondern konkurriert mit der Alltagssoziologie. Es bedarf auch keiner zwanghaften Abgrenzung, nur ist ebenfalls zu begrüßen, wenn sich die akademische Soziologie um ein Mehr an Verstehen und Erklären bemüht, um kontraintuitive oder noch etwas grundsätzlichere Analysen. Hier soll sich dieses Grundsätzlichere darauf beschränken, entgegen der Einteilerei und dem Moralisieren darauf hinzuweisen, dass der Witz bei Memen gerade ist, dass sie Geschmacksvorschriften, medienkritischen Diskursen, Vorstellungen der nichtkomerziellen, nichtkitschigen, unverfälscht-volkstümlichen oder subversiven Authentizität, politischer Korrektheit usw. zuwiderlaufen (und sei es nur in der höchst entschärften Form, die mit den durchschnittlichen Facebook-Freundeskreisen oder gar mit Mainstream-Medien kompatibel ist). Und bevor man sich über dieses subversive Potenzial dann wieder zu viel freut: diese Subversion kann verdammt menschenfeindlich, reaktionär, sexistisch, herablassend gegenüber den vermeintlich weniger Intelligenten und Kultivierten sein.

Das Recht der Trolle auf Futter und Auslauf

Im (Qualitäts-)Journalismus regt man sich über „Trolle“ und eine Kommentar-Unkultur im Internet auf, in den Foren über Zensur und Meinungsdiktatur im Journalismus. Ich würde diesen Zusammenprall mal – unter anderem – mit sozialstruktureller Blindheit auf beiden Seiten erklären. Das ermöglicht mir natürlich, mit gesellschaftstheoretischem Durchblick aufzutrumpfen – um die Gefahr, arrogant rüberzukommen. Das hält sich hoffentlich einigermaßen in Grenzen im Vergleich zur gegenseitigen Geringschätzung und der Herablassung, die in der Debatte um die Kommentarkultur bisweilen herrschen. Ich teile also im Folgenden mal nach beiden Seiten aus, mal versuche ich mich in analytischer Distanz.

Viele aus meiner Leserschaft werden sich über einen bestimmten Typus der Kommentierenden empören. Ehrlich gesagt finde ich das auch nicht schön, was die da tun (ich sage bewusst „schön“, weil es sich oft um eine schon alleine ästhetische, stilistische Abscheu handelt, eine Übelkeit angesichts bestimmter Reizwörter und des ganzen Tons. Dass ich die da verbreiteten Ideologien unhaltbar finde, sehe ich als den wichtigeren Grund zur Ablehnung, aber ich glaube, vieles in diesem Gegensatz zwischen „Trollen“ und dem mir näherstehenden Milieu spielt sich auf der Ebene von geschmacksmäßigen Reaktionen und Lebensstilgegensätzen ab – man geht nicht im Kopf zuerst alle Gegenargumente durch, sondern reagiert sogleich angewidert). Wir machen sie also zu nicht-ganz-menschlichen wilden Fabelwesen: Trollen. Der Unterton des Possierlichen, wie er in manchen Kinderbüchern und Sagen gegenüber Trollen gepflegt wird, ist längst weitgehend abhanden gekommen.

Diese Kommentierenden stören unsere bürgerlich-wohlanständige Vorstellung darüber, was eine Diskussion sein sollte: bestenfalls ein akademischer Debattierclub oder vielleicht so etwas, das unter Euphemismen wie „Bürgerdialog“ abläuft – aber die Variante gehobener Stadtviertel oder wohlhabender Umlandgemeinden. Minus den real existierenden durchgeknallten, verbohrten oder querulantischen Gestalten, „mit denen man nicht diskutieren kann“. Man vertritt ein bestimmtes Diskursideal und kann mit Abweichung nicht recht umgehen, sieht entsprechende Äußerungen nicht als sinnvolle Beiträge an, möchte sie ausschließen: Wer polemisch auf möglichst harte Schläge statt auf das präzise Argument ausgerichtet ist, Floskeln drischt und die Grammatik der Standardsprache verbiegt, aufgeschnappte kalauerhafte und zugleich herabwürdigende Schimpfnamen verwendet, verweigert sich aus dieser Sicht dem richtigen Diskurs und darf deshalb nicht teilnehmen oder wird nicht als gleichwertig akzeptiert. Es erscheint einem schwer, solche Äußerungen im normalen Sinne als aufrichtig oder gutwillig wahrzunehmen – sie müssen in böswilliger oder unernster Absicht geschrieben worden sein: Getrolle.

Die wenigsten der Kommentierenden im Internet sind aber echte Trolle im alten Sinne, wie sie früher in anarchischen Ecken des Internets pubertäre Streiche gespielt haben mögen, indem sie möglichst gezielt provozierten; wie sie vielleicht die Debatte als inszenierten Kampfsport – Wrestling vielleicht – verstanden, wo es um spektakuläre Siege, nicht um Erkenntnisgewinn ging; oder wie sie um des radikal libertären Prinzips willen Dinge sagten, die man eben nicht sagen darf, ohne gleich so richtig dieser Meinung zu sein. Oder wie auch immer – was wissen die meisten denn eigentlich über diese alten Trolle? (Meine Einschätzung der heutigen Kommentierenden beruht übrigens auf unsystematischer Lektüre einer allerdings nicht unerheblichen Menge an Kommentaren, anekdotisch gestützt z.B. auch durch dieses Portrait sowie die Reaktion und sonstigen Schriften des Porträtierten.)

Es handelt sich bei einem nicht unerheblichen Teil der Aufsehen erregenden Kommentierenden wohl um Vertreter eines antipolitischen und antimedialen, allgemeiner: antielitären Populismus. Das ist eine Tautologie, wenn man die Literatur zu Definitionen von Populismus konsultiert. Es kommt auf die nähere Benennung der je angefeindeten konstruierten Eliten an (hier Medien und etablierte Politik, oft auch der Kulturbetrieb und ein Komplex aus (Sozial-)Wissenschaft, Bildung und Sozialpädagogik im weitesten Sinne) und auf den dünnen ideologischen Kern, der hier eher konservativ als linkspopulistisch ist.

Die (aus meiner Position hoffnungslos unterkomplexen) Erklärungen dieses Popuslimus lauten: Linke, elitäre Gutmenschen haben sich zu einer Diktatur der politischen Korrektheit verschworen, die aus dunklen Gründen auch eine Islamisierung des Abendlandes betreibt oder zumindest strategisch billigt.

Das „Volk“ dieses Populismus ist eine ethnisch homogene Mitte, die nach oben und außen ungefähr wie folgt abgegrenzt wird: in der erneuerten Variante gehören dazu oft das gesamte „aufgeklärte“, aber nicht zu rotgrüne (Nordwestmittel-)Europa, auch nicht unbedingt Alt- und Neonazis, vor allem aber keine Moslems und auch keine arbeitsscheuen, auf Pump lebende Südstaatler. (Dieser spezielle neuere Populismus ist in manchen Varianten nicht so sehr rassistisch, sondern eher kulturalistisch bzw. verficht vor allem in Bezug auf den Islam die These einer strengen Determination ganzer verstreuter Großgruppen durch religiöse Vorstellungen. Bezogen auf Geschlechterunterschiede verläuft das Denken aber biologistisch.)

Diese Mitte hält sich nach ihrer Auffassung von den politischen Extremen fern – die wahren Extremisten sind feministische oder Öko-„Nazis“ und Muslime. Sie lebt gemäßigt modernisiert in traditionellen Institutionen bzw. schätzt diese: heterosexuell begründete Kernfamilie, Nationalstaat, mittelständische „Real-“ und Marktwirtschaft usw. Diese Gemeinschaft sieht sich aber bedrängt von Eliten, die Lebensstilpluralismus und Dekonstruktion von Geschlechtszuschreibungen, Multikulturalismus und Globalisierung, Turbokapitalismus oder auch zersetzende Kapitalismuskritik, unverdiente Sozialleistungen und Umverteilung, Abschaffung meritokratischer Standards durch Minderheitenförderung, ökologische Konsumverbote und politisch korrekte Denkverbote usw. propagieren und durchsetzen würden. Betont wird immer wieder, dass Unterschiede der etablierten Parteien und Leitmedien unerheblich seien, da sie wie weite Teile der denkfaulen und gehirngewaschenen Bevölkerung gleichschaltet seien und das gemeine Volk nicht mehr repräsentierten. Nur man selbst stemmt sich heroisch und mit noch gesundem Menschenverstand dagegen und ist dafür Anfeindung und Zensur ausgesetzt (und nicht etwa die gängigerweise als benachteiligt geltenden Minderheiten, die sich längst durch ihre ständigen Klagen und durch Fördermaßnahmen unverdiente Privilegien erworben hätten).

(Falls jemand sich für Populismus-Forschung interessiert: Wir hätten hier nun praktisch alle gängigen Definitionselemente an dieser Gruppe der Kommentierenden nachgewiesen: antielitäre und nach außen abgrenzende Definition eines benachteiligten Volkes, Rhetorik von commonsense und unverdorbener Vernünftigkeit und aus der Not erlaubter Polemik, Hoffnung auf Erlösung durch Herrschaft des Volkes bzw. seiner wahren Repräsentanten ohne das beschwerliche oder verschwörerischen Getue der etablierten Politik.)

Mit dieser Vorstellung von wahrem Volk und unterdrückerischer Elitenverschwörung, von eigener natürlicher Vernunft und moralischer Verdorbenheit oder Manipulation ist natürlich der Komplexität heutiger Gesellschaft nicht recht beizukommen.

Seitens des Journalismus würde ich wiederum zwei Arten identifizieren, die Gesellschaftsstruktur zu verkennen: zunächst eine gewisse Hilflosigkeit bei der Beschreibung mancher Milieus. Beispielhaft mag dafür der Begriff der „Wutbürger“ stehen. Wenn er überhaupt eine Entsprechung hat, erfasst er sicher nicht alle jüngeren Protestbewegungen bzw. alle daran beteiligten Gruppen. Er scheint mir eher geeignet, alles zusammenzufassen, was die jeweiligen Journalistinnen und Journalisten nicht verstehen: jegliche Ablehnung von Projekten, die man selbst für vernünftig hält, so dass die Gegnerschaft nur von undifferenzierter Fortschrittsfeindlichkeit, unaufgeklärten Partikularinteressen und den plötzlich aufbrechenden Ängsten Saturierter getrieben sein kann. Das erscheint dann umso unbegreiflicher, als eigentlich „anständige“, nämlich bürgerliche Menschen aufbegehren.

Zweiten, dass man übersieht, was Bourdieu recht wertfrei die „Zensur [!] des Feldes“ genannt hat: Was und wie in einem sozialen Teilbereich, einem bestimmten Spiel in der Gesellschaft (Literatur, Philosophie, Journalismus usw.) gesagt werden kann und was nicht. Ein Beispiel von Bourdieu, aber extrem vereinfacht: Wenn man Philosoph ist und ein Nazi, dann kann man nicht einfach eine Philosophie in Nazisprache und mit nazimäßigen brachialen Aussagen schreiben, die von Weitem nach Nazitum riecht, sondern muss sie in philosophietypisch wohlklingende Worte verpacken.

Und das will ich jetzt mit dem Journalismus vergleichen? In gewissem Sinne schon, nur natürlich weniger drastisch. Auch der Journalismus hat seine Sprache, seine Perspektiven auf seine typischen Gegenstände, sein Sagbares und Unsagbares. Das ist keine Verschwörung, sondern eine historisch gewachsene Begebenheit und betrifft recht prosaische, aber bedeutsame Grenzen und blinde Flecken des Journalismus. In Beschreibungen des Berufsethos heißt „Ausgewogenheit“, „Unparteilichkeit“, „Objektivität“ usw., was auf eine Beschränkung des darstellbaren politischen Spektrums hinausläuft. Bestimmte politische Gruppierungen und Ansichten sind berichtenswert und dürfen umgekehrt nicht ohne triftigen Grund zu sehr vernachlässigt werden, sondern müssen zu wichtigen Themen zu Wort kommen; andere dagegen nicht – keinesfalls nur an den Extremen der politischen Landschaft, sondern manchmal auch untypische Ansichten, die nicht ins Schema passen, oder vergessene Dritte in Gegensätzen, die vom Journalismus als rein zweiseitig (re-)konstruiert werden (z.B. Arbeitgeber—Arbeitnehmer). Ferner müssen politische Aussagen in einer spezifisch politisch-journalistischen Sprache zu Wort kommen, die, selbst wenn sie polemisch ist, milieutypisch als stilistisch einigermaßen angemessen, zeitgemäß und vernünftig gilt. Die Politik vergröbert meist im gerade erlaubten Maße zu Werbezwecken, und der Journalismus re-differenziert dann ausgleichend. Prominente Ausrutscher werden auch berichtet, aber skandalisierend statt als diskussionswürdige Stellungnahmen.

Der oben beschriebene Populismus erfüllt alle Ausschlusskriterien, nach welchen ihn der Journalismus als außerhalb des politischen Spektrum stehend und als nur ausnahmsweise berichtenswert auffassen muss: Extremismusverdacht, nicht im politischen System etabliert (so dass man nicht routiniert die Meinung entsprechender Personen zu Standardthemen einholt, sondern Gruppierungen erst dadurch Nachrichtenwert gewinnen, dass sie sehr negativ oder kurios auffallen); teils eine synkretistische Mischung vorhandener Ideologien, die bereits typischerweise durch andere repräsentiert werden (wenn auch oft euphemisiert ausgesprochen), teils eine Problemsicht und Rhetorik, die als grob – undifferenziert und unartikuliert – gilt.

Wer soziologisch draufschaut, erkennt auch sofort, dass in einer funktional differenzierten Gesellschaft die Teilbereiche ihr Personal höchst selektiv rekrutieren. Oder einfacher: Es wäre doch extrem verwunderlich, wenn bestimmte Wirtschaftsbranchen, kulturelle Berufe, politische Richtungen, ja die etablierte Politik überhaupt ein repräsentatives Abbild der Gesamtbevölkerung darstellten. Wie unwahrscheinlich ist das denn! Ich lege also keine geheime Verschwörung offen, sondern gebe den Forschungsstand wieder, wonach im Journalismus vor allem akademisch gebildete, linksliberale Personen arbeiten. Der daraus entstehende Journalismus ist freilich auch weitaus vielfältiger, als diese Zusammensetzung erwarten ließen, aber eben auf andere Weise selektiv und mit blinden Flecken.

Gleichzeitig scheint es strategisch offenbar nicht unklug, sich professionelle Quertreiber wie Matussek und Martenstein zu halten oder nicht ohne Schaudern den Hype um Sarrazin zu befeuern. Das fasziniert den etwas gelangweilten und langweilenden, prinzipiell liberalen Journalismus doch offenbar auch: Ein Überlegenheitsgestus der nicht ganz ernstgemeinten Polemik (nur die Gutmenschen sehen alles so verbissen, und die einfachen Populisten aus dem gescholtenen „Kommentariat“ haben sich diesen Gestus schon ein wenig zu eigen gemacht: die Mischung aus „Das wird man ja wohl sagen dürfen“, und der Rechtfertigung, man spiele ja nur der Denkanstöße wegen eine Narrenrolle – wobei man oft doch den Eindruck haben muss, dass vieles nur zu ernst gemeint ist, eben keine reflexionsförderliche Trollerei). Die kalkuliert inszenierte Meinungsabweichung, gerechtfertigt im Namen von Gedankenfreiheit, Vielfalt und geistiger Dehnübung. Das teils heroische, teils klagende Dagegensein, der großspurige Anspruch, für eine schweigende Mehrheit zu sprechen. Die Macht zur Befeuerung von Debatten.

In der Summe führen das alternativlos erscheinende Diskursideal und das Stilempfinden, die fehlenden Schemata für bestimmte Milieus und die fast schon per Definition unsichtbaren blinden Flecken des Journalismus zu einer Abscheu gegenüber den Trollen. Man dekretiert also: Don’t feed the trolls! Oder kehrt zur Veröffentlichung weniger handverlesener Zuschriften zurück. Oder macht den Laden dicht. Oder bemüht gegen den Plebs – Plebiszite! D.h. man lässt alle die Beiträge bewerten, lässt abstimmen, wer einen wirklich substanziellen Beitrag geleistet hat und wessen Äußerungen Ausschuss sind. (Ich rede hier nicht von den Beiträgen, die wegen Menschenverachtung und gar strafbarer Äußerungen gelöscht werden müssen.)

In den Redaktionen ist es aber jetzt Mode geworden, mit den „Trollen“ auf zwei Arten umzugehen: Erstens sie bzw. ihre Kommentare auszustellen. Das kann der sonstigen Leserschaft die Augen öffnen (denn man glaubt es ja erst, wenn man das sonst Aussortierte einmal so geballt liest) und hat eine gewisse Funktion, Zensur gegenüber der krassesten Menschenverachtung zu legitimieren, vielleicht auch eine Entlastungsfunktion für die zuständigen Medienschaffenden. Zweitens aber auch eine vorsichtige Nachforschung, wer diese Menschen eigentlich sind. Einzelfallorientiert statt systematisch-soziologisch – aber es wäre ja ebenfalls unsoziologisch, den Unterschied zwischen Wissenschaft und Journalismus zu verkennen (ohne Sympathien für einen soziologisch informierten Journalismus auzuschließen)!

Man könnte aber auch das oben beschriebene Diskursideal konsequent weiterführen: Wenn man schon die Äußerungen, die ihm nicht entsprechen, nicht immer in Rohform verbreiten möchte, so sollte man zumindest versuchen, sie so weit wie möglich in potenziell begründbare und kritikfähige Ansprüche zu übersetzen, also so viel rationalen Gehalt herauszukitzeln, wie es geht, und dann gegebenenfalls mit eigener Kritik anzusetzen. Ansonsten sollte man nicht übertrieben provozieren, wenn man menschenfeindliche Reaktionen bereits vorausahnen kann, aber Verhungernlassen und Aussperren ist nun auch nicht menschlich.

Haarspaltereien

Ein gespaltenes Haar ist ein halbes Haar. Einerseits. Andererseits ist es eine Sinnlosigkeit. Zumindest für manche. Und genau darum geht es: den Unterschied zwischen äußerlicher, objektiver Betrachtung, und dem Sinn einer Sache, ihrer subjektiven Bedeutung. Ich möchte einfach ein paar Wortspielereien anbringen oder zusammentragen (denn die Idee und auch manche der Bezeichnungen sind keinesfalls neu), um diesen Unterschied zu verdeutlichen, ihn theoretisch zu fassen und sprachlich ausdrücken zu können. Die Unterscheidungen entsprechen nicht unbedingt dem allgemeinen Sprachgebrauch, nutzen aber aus, dass es in der Alltagssprache für manche Dinge zwei Bezeichnungen gibt, die man dann für eine Unterscheidung der Bedeutung nutzen kann: um zu verdeutlichen, dass man eine Sache unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten anschauen kann.

Man kann Menschen so betrachten, ja in verschiedenem Sinne „untersuchen“ (auch medizinisch), wie sie sich vom Standpunkt des rein Physischen präsentieren. Entgegen so manchem Genörgel, da werde was „reduziert“, das sei nicht „ganzheitlich“ usw., wird das praktiziert und hat sich historisch etabliert: Es entspricht offenbar einigen wichtigen Erwartungen an die Beherrschbarkeit und Verstehbarkeit des Menschen und der Welt (das ist eine wissenschaftshistorische Diagnose, keine Wertung). Man betrachtet etwa den Menschen als physikalischen Körper mit Masse und Verformungseigenschaften, um hierdurch die Gefahr bei Unfällen zu reduzieren. Man untersucht den Körper als biologisches System und versucht, Altern, Krankheit oder Leistungsbeschränkungen zu überwinden. Man verändert Bewusstseinseinstellungen mittels zugeführter Substanzen. Auf der anderen Seite spüren wir unseren je eigenen Körper als unseren, so wie niemand sonst ihn wahrnehmen kann. Es tut „da“ weh, tief drinnen. Die Gliedmaßen sind widerspenstig – der Golfschwung, die Kadenz, der Balanceakt wollen nicht gelingen. Man betrachtet sich im Spiegel voller Wohlgefallen oder Ekel. Man spürt Erregung, nicht das Adrenalin selbst. Manche formen sich mit Training, Piercings, Augenlasern, Lockenstab und disziplinierter Körperhaltung, um einem eigenen Bild zu entsprechen, unter dem Gesichtspunkt eines subjektiven Ideals der Wohlgestaltetheit. Außerdem sehen wir andere, und zwar nicht eigentlich als Fleisch und Blut, sondern als bedeutsame – „Leiber“ würde ich sagen und haben andere gesagt, in Abgrenzung zum Körper. Man fühlt ihre Schmerzen mit oder sieht in ihnen eine ganze Welt oder Gemeinschaft „verkörpert“ (etwa das alte Motiv der Kirche als Leib Christi), kennt auf ihren Leibern Lieblingsstellen, welche einen erregen (man lese https://de.wikipedia.org/wiki/Seitenhöhlchen-Kult). Man sieht fremder Leiber insgesamt meist ästhetisch an und nicht zuerst diagnostisch oder physikalisch (nur in seltenen Fällen fragt man sich: Überlebt man so einen Sturz? Sieht der gesund aus? Ansonsten ist der Leib eine Sammlung von symbolischen Ausdrucksweisen, bedeutsamen Stellen, schönen und hässlichen Proportionen, Zeichen eines vermuteten Willens oder einer Willenslosigkeit, Ausgangspunkt halbautomatischer sozialer Klassifikationen usw.). Es besteht ja auch ein erheblicher Unterschied, ob man etwas mit einem eigenen oder einem fremden Körper tut. Nur auf den eigenen kann man auf bestimmten Weise einwirken. Wenn sich z.B. ein Arm nach oben bewegt, kann das auf mindestens drei verschiedene, hier interessierende Arten geschehen. Zunächst dass die Person, welcher der Arm „gehört“, ihn hebt (im gängigen Sinne von „den Arm heben“: es absichtlich und aus eigener Kraft des selben Arms zu tun). Die Person könnte auch „ihren Arm heben“, indem sie den anderen Arm benutzt und den ersten anhebt, etwa wegen einer Lähmung. Dieses Verhältnis zum eigenen Körper ist ein Mittelding zwischen gefühlter willkürlicher Leiblichkeit und äußerlicher Körperlichkeit: Der gelähmte Arm gehört zu einem und ist höchst bedeutsam, nicht nur beliebiges physischer Körper, und das Anheben mittels des anderen Arms greift auf diesen zu, wie es nur am eigenen Leibe erfahren und vollführt werden kann. Schließlich kann sich ein Arm nach oben bewegen, weil eine gänzlich andere Person diesen als zu hebendes körperliches Objekt führt (wiewohl meist mit spezieller Bedeutung, als Teil eines fremdes Leibs).

Also der Körper als der Mensch unter dem Gesichtspunkt des physischen Objekts, und der Leib als das Verhältnis, welches der Mensch dazu hat, dass man einen Körper hat und wie man ihn bei sich und andere subjektiv empfindet, ihn sieht oder sehen will.

Wir können uns den Raum als einen leeren, gleichmäßigen Behälter vorstellen, bei dem im Prinzip alle Teile die gleiche Bedeutung haben: beliebig teilbare Ausdehnungen für beliebige Inhalte (die Relativitätstheorie geht hiervon ab, aber diese traditionelle Geometrie ist für viele Zwecke anerkannt). Karten und Pläne werden heute vor allem unter dem Gesichtspunkten gezeichnet, dass die Größenordnungen und/oder Winkel möglichst proportional wiedergeben, ungeachtet der konkreteren Sachverhalte wie Siedlungen, Flüsse, Wände, Gasanschlüsse usw., welche da hinsichtlich ihrer Ausdehnung und relativen Lage zueinander repräsentiert sind. Freilich unterliegt ihre Auswahl bereits einem anderen Gesichtspunkt: Nicht jedes Objekt ist würdig, auf einer Karte oder einem Plan aufzutauchen. Eine Kirche ist z.B. in einem Stadtplan oft gekennzeichnet, meist jedoch keine Bordelle. Wenn wir uns nun selbst orientieren, in einer Wohnung oder einer Stadt, dann nicht (nur) hinsichtlich der Himmelsrichtungen und Größenordnungen, sondern mittels bedeutsamer Objekte und mit Namen (Straßennamen, Bezeichnungen wie „Badezimmer“ usw.). Wir haben oft kein exaktes Gefühl für Lage und Entfernung, sondern für Anordnungen relevanter Orte. Man kann also sagen, dass subjektiv der Raum zu Räumlichkeiten, die Stellen im Raum zu bedeutsamen Orten werden (altmodisch könnte man auch von einer Vielzahl prinzipiell homogener Örter sprechen, die dann andererseits mit besonderer Bedeutungen ausgestattet sind und in sinnhaften Beziehungen zueinander stehen, welche nicht unbedingt Winkeln und Entfernungen entsprechen, und das wären dann die Orte – auch vielleicht in Analogie zu den Bezeichnunungen „Wörter“ und „Worte).

Wir können das auch für die Zeit durchdeklinieren, wo es von allen Bedeutungen losgelöste, rein konventionelle Zeitpunkte gibt (die Zeitmessung könnte ja ganz andere Einteilungen setzen). Demgegenüber stehen die bedeutsamen Momente: wann die Besprechung losgeht, der Geburtstag, als man sich das erste mal küsste, usw.

Man kann die Welt als Vielzahl von Sachverhalten beschreiben, in welchen Dingen zueinander stehen. Kein Sachverhalt ist an und für sich bedeutsamer als ein anderer, und „Ding“ ist hier ein Hilfsausdruck für alle erdenklichen Vorkommnisse in der Welt, die noch nicht vom menschlichen Blick eingeteilt und mit Bedeutung versehen wurde. „Dinge“ sind in diesem Sinne noch nicht abgrenzbar und abzählbar, sondern nur Rohmasse. Besser wäre eine Bezeichnung, welche unförmiges Dingsein ausdrückt, wie „das Gedinge“, oder man nimmt an, dass alles auf einheitliche letzte Einheiten zurückgeht, eine homogene Menge grundlegender Bausteine. Das verweist darauf, dass auch der „objektive“ Blick einer Deutungsanstrengung bedarf: Wie schaltet man all die anderen Bedeutungen ab und nimmt alles nur als gleichrangiges Seiendes wahr? Was, wenn man zur Überzeugung kommt, dass die Dinge auch denken können? Man kann sich entweder der Frage zuwenden, wie der objektive Blick funktioniert und wie er seine heutige Bedeutung erlangt hat, oder ihn einmal als gegeben annehmen, um davon dann den anderen, subjektiven abzugrenzen.

Wie dem auch sei, wie sehen die Welt in der Regel anders, nämlich als Gegenstände, die immer schon eine Grenze, Form und Bedeutung haben. Es bedarf einiger Mühe, einen Stuhl nicht als Stuhl, oder die Gemeinsamkeit zwischen einer Feder und einem Bleiklumpen zu sehen (die ja z.B. im Vakuum gleich schnell fallen). Das Objekt wird zu demselben unter unserem Blick, oder vielmehr oft durch unseren Gebrauch bzw. den Versuch des Gebrauchs: Es ist widerständig oder brauchbar. Heidegger beschrieb das so, dass die Objekte des täglichen, weitgehend selbstverständlichen Gebrauch „zuhanden“ seien, dass sie auf ihre praktische und wenig reflektierte, typische, soziale vorgegebene und oft gewohnheitsmäßige Verwendung hin gesehen werden. Dieses Zuhandensein ist zu unterscheiden vom allgemeinen Vorhandensein aller Dinge, wenn man sie unter dem Aspekt des gleichgültigen Nebeneinanderseins betrachtet.

Ich habe am Beispiel der Unterscheidung zwischen Verhalten/Tun/Praxis und Handeln/Handlung die hier gemeinte Unterscheidung bereits angewendet und gezeigt, dass das fortlaufende Tun unter sehr vielen Beschreibungen als Handeln beschrieben werden kann. Tun, wie Dinge, ist dann nur jener gedachte Grenzfall des Unbeschriebenen zu Beschreibenden, der Bezugspunkt und Zusammenhalt zwischen all den vielfältigen Beschreibungen, oder eben eine weitere Beschreibung, aber nicht unter dem Gesichtspunkt bedeutsamen Handelns, sondern körperlicher Geschehnisse.

Kompliziert? Ja, weil man am Ende bei metaphysischen Fragen landet, etwa ob es „Dinge an sich“ gibt. Und nein, weil wir die beiden hier diskutierten Betrachtungsweisen schon lange erlernt haben und sie oft praktizieren. Es bedurfte dann nur einer Erinnerung an das, was wir praktisch schon wissen, und vielleicht auch daran, dass die „objektive“ Betrachtungsweise nicht einfach den Vorrang beanspruchen kann, wie wir entgegen der alltäglichen Praxis irgendwie oft glauben wollen.

Beim Studieren von Sprache und Gesellschaftsstruktur

Die Universitäten gehören zu den Brennpunkten im Kampf um die geschlechtergerechte Sprache. Hier blüht die von konservativen Publizisten halbinformiert verachtete, vom Internetforen-Kommentariat kenntnisfrei und pseudowitzig vehöhnte Genderforschung. Hier wurde das generische Femininum in einer Grundordnung erprobt – aber so was liest doch eh keiner. Vielleicht gerade deswegen hatte ein pragmatischer Physiker den Vorschlag gemacht, man solle sich umständliche Formulierungen beiderlei Genus sparen und einfach nur weibliche Formen verwenden. Wochenlang musste man in der Presse lesen: Diese verrückten Akademiker (journalismusübliches generisches Maskulinum), die nichts besseres zu tun haben als sich steuerfinanziert Schwachsinn auszudenken, hätten nun vorgeschrieben, man müsse Leute mit „Herr Professorin“ anreden. Und die Bezeichnung „Studierende“ ist ihnen auch ein Dorn im Auge.

Lustigerweise habe auch die Nörgler nichts Besseres zu tun, als sich, oft spendenfinanziert oder gegen Zeilenhonorar, über geschlechtergerechte Sprache zu empören, so als ginge davon das Abendland unter. Irgendwie glauben sie nicht an die Reproduktion von Ungleichheit durch Sprache und fühlen sich zugleich unterdrückt und im Umerziehungslager, wenn man die Verwendung neutraler oder gemischter Formulierungen vorschlägt. Außerdem war das schon immer so. Es heißt halt seit einer Ewigkeit „Studenten“. Wenn es denn so wäre! Die „Studierenden“ gab es schon, als es noch keine weiblichen gab, in zahlreichen Schriften und Dokumenten, wie auch die „Lehrenden“. Aber das historische Argument ist natürlich eh Unfug. Das, und nicht die Überlegenheit der Form „Studierende“ sollte der Rückgriff auf alte Quellen zeigen: Nutzen und Bedeutung einer Form in der Gegenwart ermisst sich nicht aus ihrer Geschichte.

Wenn schon nicht Tradition und Geschichte, dann sollen es halt Sprachgefühl und Ästhetik richten. Umständlich, unschön seien die „neuen“ Formulierungen. Gewohnheitsästhetik oder gar Abscheu gegen Gerechtigkeit…

Das generische Maskulinum ist was für Leute, die nicht mit Sprache umgehen können. Nach Gewohnheit zu formulieren, lässt die Kreativität erlahmen. Ab und zu ein paar neue, herausfordernde Regeln spornen die Poesie an (man frage mal die Oulipiens).

Oberschlaue Sprachwahrer haben nun eingewandt, dass Partizipialformen wie „Lehrende“, „Studierende“ usw. Unsinn seien, denn so was verwende man nur für Personen, die im Augenblick selbst eine Tätigkeit ausüben. Dreierlei ist dem entgegengeschleudert worden.

Ersten ist „Student“ genau eine solche Partizipialform, nur fällt sie ohne Lateinkenntnisse nicht weiter auf. Zweitens finden sich auch Beispiele für andere Verlaufsformen, welche sich nicht auf die gegenwärtige Tätigkeit beziehen: Vorsitzende, Wehrdienstleistende (vormals auch die Zivildienstleistenden) und auch den Regierenden Bürgermeister. Drittens verwendet man die Verlaufsform auch nicht unbedingt gerne für diejenigen Personen, die gerade tätig sind. Von „Radfahrenden“, „Schwimmenden“, „Biertrinkenden“ usw. zu sprechen, würde entsprechenden Querulanten auch widerstreben. Sie würden darauf beharren, dass in der Straßenverkehrsordnung von „Radfahrern“ die Rede sein müsse.

Bis hierhin alles ein alter Hut. Jetzt noch ein bisschen soziologischer (wobei wir da der Sprachsoziologie oder Soziolinguistik nicht Unrecht tun wollen). Hier liegt nämlich durchaus ein gesellschaftstheoretisches Problem vor: Wie kann es sein, dass jemand als VorsitzendeR, LehrendeR, StudierendeR klassifiziert wird, auch wenn sie oder er keine entsprechende Tätigkeit ausübt? (Die kuriosen Formen ergeben sich, weil ich betonen möchte, dass es um eine konkrete Einzelperson in einer aktuellen Situation geht.) Wir haben es hier also mit der Frage zu tun, welchen Status soziale Strukturen wie z.B. Personenklassifikationen haben, welche Stabilität ihnen zuzuschreiben ist.

Erstes Argument: dass es die Umgangssprache das in manchen Fällen als unproblematisch ansieht (bei den „Vorsitzenden“) und nur manche das Entproblematisieren, um geschlechtergerechte Sprache zu Problematisieren (bei den „Studierenden“). Wenn also Personen andere als Vorsitzende klassifizieren, so beruht das auf einer Neigung seitens der Klassifizierenden, dies so zu tun. Die soziale Struktur wäre zunächst eine kognitive Disposition (ein Kategorisierungsschema) und teilweise eine motivationale (es besteht ein Antriebsgrund, bei bestimmten Voraussetzungen so und nicht anders zu klassifizieren). Sie erscheint reduzierbar auf persönliche Neigungen je einzelner Individuen. Eine soziale Klassifikation gibt es genau dann, wenn Leute dazu neigen, so zu klassifizieren.

Aber so wichtig es ist, die Alltagssprache ernst zu nehmen (die hier oft betriebene ordinary language sociology), so bedeutend sind auch kontraintuitive soziologische Theorie- und Begriffsvorschläge: der Bourdieusche Bruch mit dem Alltagsverständnis, um es besser zu verstehen; die Luhmannsche These, der Mensch sei nicht Teil der Gesellschaft, um dann zu beobachten, wie Personen in der Kommunikation entstehen, usw. Eine wesentliche Tendenz der Soziologie bestand denn auch darin, Strukturen in Prozesse oder Ereignisse umzudeuten. Soziale Strukturen sind demnach keine feststehenden Dinge, die man sich wie diese Kugel-Stab-Modelle im Chemieunterricht oder wie Malschablonen vorstellen muss (also soziale Strukturen als starre Person-zu-Person-Beziehungen oder stabile mentale Schemata, die nur noch regelkonform benutzt werden müssen). Ja selbst „dauerhafte“ Körper hat die Philosophie in eine Folge von Ereignissen zerlegt: die Neuerschaffung der Welt in jedem Augenblick (von der antiken creatio continua bis zu Whitehead).

Also wären Strukturen vielleicht eher Eigenschaften von, oder Verkettungen von Ereignissen. Strukturen werden aktualisiert und fallen in sich zusammen. Die Kategorisierung „Studierende“ blitzt bei einer Gelegenheit auf, wird eventuell sprachlich ausgedrückt und fällt in sich zusammen bzw. die nächste schließt daran an: Bachelor, ermäßigter Eintrittspreis, Political Correctness oder was auch immer. Man würde dann die Regeln für diese Aktualisierung und De-Aktualisierung der Struktur untersuchen. Doing und undoing studentship. Eine soziale Klassifikation gibt es genau dann, wenn sie aktuell benutzt wird.

Wie ist das nun aber mit der Intuition, dass man zu Recht Leuten irgendwie dauerhaft einen Status zuschreibt? Einerseits wird dieser Status ja nun gerade dann aktualisiert, wenn man ihn Leuten als dauerhaft zuschreibt: Jetzt in diesem Moment wird klar, dass jemand bis auf Weiteres Student ist. Andererseits ist das aber tautologisch oder paradox: Der Status kann also immer irgendwie aktualisiert werden: Selbst wenn über den Studentenstatus nicht nachgedacht wird, könnte man das berechtigterweise tun. Er ist dauerhaft und zugleich momenthaft.

Es gibt natürlich idealtypische Grenzfälle, wo ein Status sehr umfassend aktuell ist. Natürlich nie konkurrenzlos (andere Zuschreibungen gehen immer, z.B. nach Geschlecht, Alter, Herkunft – in welchen Ausprägungen auch immer), aber doch sehr bestimmend für viele Interaktionen. Es gibt hierfür zwei Beispiele: Gesellschaften, die sehr weitgehend auf dem Status von Personen beruhen, und totale Institutionen (im Sinne Goffmans). Letztere sind solche Einrichtungen, welche im Grenzfall das gesamte Leben bestimmen: Gefängnisse, geschlossene Abteilungen von Psychiatrien und Ähnliche. Reformbewegungen wirken zwar immer wieder darauf hin, dass die Insassen nicht nur unter einer bestimmten Betrachtungsweise gesehen werden, aber solche Einrichtungen neigen immer noch dazu, weite Teile des Verhaltens unter dem Aspekt zu betrachten, ob von ihm eine Gefahr ausgeht oder ob es Symptom psychischer Störungen ist. In Klöstern ist es ferner teilweise üblich, auf spezielle Weise zu essen, schlafen, kommunizieren, und auch weltliche Arbeit als Gottesdienst zu betrachten, also die gesamte Lebensführung dem Status der Ordensperson zu unterstellen.

Klöster sind Überreste einer Gesellschaftsordnung nach Ständen, für welche der persönliche Status zentral ist: Es gibt pro Person eine zentrale Kategorienzugehörigkeit, und nicht etwa mehrere prinzipiell ähnlich bedeutsame (als Vater, Angestellter, Vereinsvorsitzender usw.). Die Adlige hat in der ständischen Gesellschaft immer standesgemäß zu handeln, also auch als Vater, Gläubiger usw.; der Schamane in der Stammesgesellschaft unterliegt womöglich zahlreichen Sonderregelungen wie speziellen Nahrungs- und Sexualtabus, sprachlichen Normen usw. Auch das Studierendenleben war früher eine noch viel umfassendere Lebensform. Das Problem der Dauerhaftigkeit und gleichzeitigen Nichtaktualität eines Status stellt sich also verschärft unter den Bedingungen einer funktional differenzierten Gesellschaft, wo ein Rollenpluralismus herrscht, wo es also Wirtschaft, Politik, Familie, Vereinsleben usw. gibt und man jeweils mit verschiedenen Rollen daran teilnehmen kann bzw. muss: Wählende, Einkaufende, Berufstätige, Familienmitglieder usw. Man kann aber nicht alles im gleichen Augenblick verwirklichen.

Wie sind dann aber Dauerhaftigkeit und Momenthaftigkeit zu verbinden? Nach Max Weber gesprochen wäre ein Status nicht nur eine aktuelle Einordnung, sondern eine „Chance, […] gleichwohl, worauf [sie] beruht“, um seine berühmte Definition von Macht zu verunstalten. Worauf beruht nun aber diese Chance? Mit Searle („Making the social world“) wäre je ein Akt grundlegend: Es sind Handlungen definiert, infolge derer ein Status legitimerweise zugeschrieben werden kann. Leute dürfen sich selbst und andere als Studierende bezeichnen, wenn die Betreffenden sich eingeschrieben haben und nicht exmatrikuliert wurden. Man muss damit leben und darf sich freuen, dass das auch außerhalb der Universität Konsequenzen hat: verminderte Eintrittspreise, aber manchmal auch verminderte Ansprüche gegenüber irgendwelchen offiziellen Stellen. Eine soziale Klassifikation gibt es genau dann, wenn sie durch einen geeigneten Akt begründet wurde.

Zwei Gegenargumente sprechen gegen diese Interpretation: Zunächst wird nicht jeder Status durch einen erkennbaren Akt konstituiert – aber auch Searle erkennt an, dass stattdessen auch Konventionen als Basis denkbar sind. Der zweite Einwand ist gewichtiger: Personen können sich weigern oder gehindert sein, statusgemäße Handlungen auszuführen. Jemand ruft die Vorsitzende des Schützenvereins auf ihrer Arbeitsstelle an und bittet um etwas, das mit dem Verein zu tun hat. Die Vorsitzende hat aber keine Zeit und sagt, sie könne sich jetzt nicht damit befassen. Oder man nehme den Fall, wo sie im Ausland ist und nicht erreichbar. Trotzdem würde man in beiden Fällen davon ausgehen, dass der Status weiterbesteht. Mit der Aussage, „Ich kann mich jetzt nicht darum kümmern“, meint die Vorsitzende ja nicht, dass sie grundsätzlich keine derartigen Aufgaben mehr auf sich nehmen werde. Beide Gesprächspartner behandeln die Aufgabe als etwas, das zum Status gehören kann und erledigt werden müsste, wenn keine Hinderungsgründe vorliegen. Der Status wird gerade auch durch solche Weigerungen aktualisiert und bestätigt. Zu seiner beiderseitigen Anerkennung gehört auch, dass man antizipiert und akzeptiert, dass die Rechte, Pflichten und Konsequenzen aus dem Status im Einzelfall gegen andere abzuwägen sind, ohne dass man die Bedingungen vorab genau angeben kann, sondern höchstens erahnen: Wann darf man die Vorsitzenden denn nun mit welchen Anliegen belästigen? Die Abwägung aktualisiert ebenfalls den Status, denn würde er nicht fortbestehen, gäbe es nichts abzuwägen. Vorübergehende Weigerungen sind also zu unterscheiden von der grundlegende Nichtanerkennung von vornherein. Wer die Wahl zum Vorsitz nicht annimmt, den Sinn des Amts bestreitet oder rechtmäßig zurücktritt, muss sich nicht mit dem Status identifizieren. Selbst wenn der Anrufer merkt, dass die Vorsitzende im Urlaub ist, setzt er sich mit der Regel auseinander, dass man für bestimmte Anliegen Leute trotz eines bestimmten Status nicht in den Ferien stört. Auch das aktualisiert den Status und setzt das stille Einverständnis der Vorsitzenden voraus, die darum noch nicht ihr Amt verliert (wobei für eine Störung im Urlaub durchaus einige wichtige Anlässe denkbar sind – es besteht also eine wie auch immer geringe Chance der weitergehenden Aktualisierung).

Aber das verweist darauf, dass die Struktur nicht nur eine Disposition Einzelner ist. Es reicht nicht, dass der Anrufende oder die Angerufene je alleine glauben, Vorsitzende zu sein bzw. dass die andere das ist (wie die klischeehaften „Verrückten“, die glauben, König zu sein. Aber: „Le roi, c’est un fou qui se prend pour le roi avec l’approbation des autres“, schrieb Bourdieu). Die Klassifikation muss im weitesten Sinne Akzeptanz finden (oder, als schwächere Bedingung: jemand muss sie für prinzipiell anerkennungswürdig halten, selbst wenn man sie gerade nicht bei allen durchsetzen kann – Gegenpapst zum Beispiel). Sie wird erst im Zusammentreffen aktualisiert – nicht notwendig im direkten Kontakt, sondern vielleicht auch nur, wenn andere einem in den Sinn kommen, vielleicht sogar nur, dass man sich vorstellt, es gebe solche und solche andere. Soziale Strukturen sind relational zu verstehen. Ihre Stabilität besteht dann in einer Chance der Aktualisierung, die darauf beruht, dass bestimmte Personen mit bestimmten Haltungen in bestimmten Relationen zu anderen (mit deren Eigenschften und Haltungen) stehen. Eine soziale Klassifikation gibt es demnach genau dann, wenn jemand klassifiziert und andere dies akzeptieren (oder akzeptieren könnten, können müssten, etc.), und zwar in entsprechenden Situationen, aufgrund geeigneter Akte oder Konventionen.

Letztlich ist Stabilität und Momenthaftigkeit aber eine Frage der Beschreibung. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Man kann die materielle und soziale Welt immer weiter in Ereignisse zerlegen oder die Kontinuitäten bzw. das Wiederkehrende darin suchen (ob es in beide Richtungen Grenzen gibt, ist wohl eine metaphysische Frage). Jedenfalls sind solche Überlegungen keine Rechtfertigungen für Nörgeleien, dass Studierende manchmal nicht studieren.

Tun

Nun ist wieder ein Jahr vergangen, mein Blog wird zwei. Statt eines kompletten Jahresrückblicks wie beim letzten Jubiläum will ich einen Schwerpunkt zusammenfassen, der sich beiläufig ergeben hat: Ich habe viel über Handeln und Technik geschrieben. Ihr könnt also mit mir zum Geburtstag auf einen kleinen Rundgang durch die Handlungstheorie gehen.

Zunächst kann man grundsätzlich fragen, was denn eine Handlung sei. Keine einfach so in der Welt herumliegende Einheit, war meine Antwort (natürlich keine neue Idee von mir selbst), sondern etwas, was man erst aus dem gesamten fortlaufenden Tun einer Person so herausgreift. Und dieses Tun kann man auf ganz verschiedene Weise beschreiben, insbesondere so, dass als intentional erscheint.

Um zu handeln, also etwas zu tun, das als Handeln beschrieben und beabsichtigt werden kann, muss man sehr viel tun, von dem man gar nicht so genau weiß, wie man es tut. Man kann es einfach, hat es gelernt. Man muss sich erst in der Analyse klar werden, was man da tut und nach welchen Regeln man etwas als genau diese Handlung beschreibt. Wie man z.B. schätzt und rät, bzw. wann man genau davon spricht, dass man schätzt und rät.

Manchmal weiß man aber gar nicht genau, wer handelt. Es ist gelegentlich möglich, eine Handlung einer Person oder einer anderen zuzuschreiben. Es wird dann manchmal sogar schwierig, Handlungen zu zählen. Die Regeln dafür sind gar nicht so einfach, wenn Handeln delegiert wird.

Wenn Technik ins Spiel kommt, werden die Zuschreibungen ebenfalls schwierig: Handelt Technik; handeln diejenigen, die sie erschaffen haben, bzw. diejenigen, welche die Organisationen leiten, in denen sie eingesetzt werden; oder sind nicht heute Organisationen eigentlich fast riesige technische Systeme? Je nachdem ärgert man sich auch anders über nicht funktionierende Technik, und das hängt von den Erwartungen ab, die man an sie hat. Wenn aber Technik handelt (und wir reden häufig so), man Handeln gleichsam an sie delegiert, wer hat dann die Intentionen, wem schreibt man die ganze Handlung zu? Es zeigt sich, dass es hier wieder verschiedene Beschreibungsmöglichkeiten gibt und man zwischen Typ und einzelner Ausführung der Handlung unterscheiden muss. Aber Beschreibungen, was Menschen und Dinge so tun können, sind nicht beliebig: Einige funktionieren, andere nicht.

Apropos Funktionieren. Wann funktioniert eigentlich Technik? Das ist eine Frage der Deutung und Erwartung: Mal will man diese Erweiterung menschlicher Fähigkeiten, mal jene menschliche Fähigkeit nachahmen, mal Regeln durchsetzen, an die sich Leute trotz guten Zuredens nicht halten mögen, mal mit einem Gegenstand umgehen können wie mit einem Wesen, das uns versteht.

So weit die kleine Reise durch die Handlungstheorie und Techniksoziologie. Ansonsten schaut euch mal die restlichen Beiträge des vergangenen Jahres durch, was ihr so verpasst habt.

 

Mit besonderer Empfehlung (2)

Was Buchhändler noch so tun. B. Mazon (aus dem ersten Teil) empfiehlt z.B. auch Bücher. Lässt sich eigentlich nicht so einfach delegieren, würde man denken [zum Empfehlen auch schon dies]. Um das beurteilen zu können und um zu wissen, was „empfehlen“ bedeutet, muss man zunächst die übliche soziale Definition davon bestimmen. Die liegt uns freilich nicht auf der Zunge, sondern wir wissen nur praktisch, was empfehlen bedeutet. Offensichtlich geht es um die Nennung eines oder mehrerer Objekte, welche einer angesprochenen Person gefallen könnten. Dabei ist jedoch zunächst zwischen einer gültigen und einer erfolgreichen Empfehlung zu unterscheiden. Damit der Akt des Empfehlens ausgeführt wird, müssen sicher einige Bedingungen erfüllt sein. Man spricht aber nicht nur dann von einer Empfehlung, wenn das Vorgeschlagene wirklich den Angesprochenen gefällt. Man kann sich bei Empfehlungen irren, und es bleiben trotzdem Empfehlungen. Sie sind aber erfolglos darin, den Empfangenden wirklich zu nützen. Man kann aber auch etwas ausführen, was nach einigen Kriterien eine Empfehlung zu sein scheint, aber keine „echte“ oder eben „gültige“ ist. Dies ist z.B. der Fall, wenn man etwas vorschlägt, es einem dabei aber unernst ist, man also bewusst, vielleicht sogar erkennbar etwas nennt, was deutlich am Geschmack der Angesprochenen vorbeigeht (um witzig zu sein, sie zu ärgern, ihnen einen Streich zu spielen, Dritten etwas vorzumachen usw.).

Es gibt dann Grenzfälle, wo man über den nötigen Ernst streiten kann. „Ernst“ in diesem Sinne ist wie bei vielen vergleichbaren Akten eine bestimmte Intention, die vorliegen muss, damit der Akt als gültig angesehen wird. Zumindest muss es ausreichend glaubhaft sein, dass sie vorliegt. So muss man zwecks einer Empfehlung die Absicht haben, etwas zu nennen, von dem man aufrichtig glaubt, dass es der angesprochenen Person gefallen wird. Man kann dann streiten, ob diese Intention von anderen überlagert werden darf oder wie weit sie gehen muss: Muss man ein ernsthaftes Wohlwollen hegen, oder reicht es das, dass man das Gefallen vermutet – nicht um jemandem etwas Gutes zu tun, sondern um eines eigenen Vorteils willen. B. empfiehlt z.B. Bücher mit dem Zweck, dass die Leute sie kaufen. Offensichtlich geht das besser, wenn man solche Bücher vorschlägt, welche den Leuten gefallen. Man könnte in einem Extremfall argumentieren, Wohlwollen oder zumindest der aufrichtige Wunsch, der Klientel zu nützen, gehe eine harmonische Verbindung mit dem Geschäftssinn ein. Oder aber auf der anderen Seite, das Profitstreben überlagere jedes echte Wohlwollen. Vielleicht würde man im zweiten Fall eher von „Aufschwatzen“ reden, vor allem wenn nicht der wohlverstandene Nutzen der anderen im Vordergrund steht, sondern vor allem der Absatz, und wenn deren Entscheidungsfreiheit wenig zählt (Empfehlen geht dann in Andrehen, Suggestion u.Ä. über; es gibt auch Fälle, wo es in Befehlen oder Erpressen übergeht: ein Angebot, dass man nicht ablehnen kann…).

Die vorgeschlagenen Bücher müssen für eine gültige Empfehlung also mit einer Absicht ausgewählt werden und dürfen in diesem Sinne nicht beliebig sein. Nicht jede Nennung ist also natürlich eine Empfehlung, selbst wenn das Genannte gefallen sollte. Bei einer sonst regelgerechten Empfehlung dürfen die genannten Objekte womöglich sogar „beliebig“ oder zufällig sein, wenn die Ansicht besteht, gerade durch diese Auswahl der angesprochenen Person besonders zu nützen. Sie möchte vielleicht gerade völlig unerwartet und unkontrolliert auf Neues gestoßen werden, überrascht werden. Das markiert freilich ebenfalls eine Grenze der gültigen Empfehlungen. Und gültige Empfehlungen stellen nicht automatisch erfolgreiche dar, sondern das kommt auf die Fähigkeiten der Empfehlenden an („Menschenkenntnis“ und einen ausreichenden Überblick über den Markt, um geeignete Bücher überhaupt zu kennen).

Man kann nun das Empfehlen, wie im ersten Teil das Schenken, an andere Personen delegieren. B. weist ihren Mitarbeiter an, Personen Bücher vorzuschlagen, die diese mögen könnten. Was aber, wenn man dies an eine technische Apparatur delegieren möchte, z.B. ein Computersystem (mit Hardware, Datenstrukturen und Algorithmen)? Nehmen wir als Beispiel einen Online-Buchhändler, A. Mazon, und befragen wir die Sprache: Was kann man über ein technisches Empfehlungssystem sagen? Durchaus ja, dass A. einem Bücher empfiehlt. Man kann zunächst das Unternehmen als Ganzes als Handelndes sehen, wie eine einheitliche Person, die empfiehlt. Aber wenn man letztlich diejenigen Personen identifiziert hat, die darüber entschieden haben, Empfehlungen abgeben zu wollen, kann man im einzelnen, konkreten Fall nicht sagen, dass die betreffenden Entscheidungsträger empfehlen – genau mir jetzt genau dieses Buch. Niemand im Unternehmen hat beschlossen, mir das jetzt zu empfehlen. Und auch niemand im Unternehmen ist die Person, die das jetzt gerade wissentlich und absichtlich ausführt. Man kann aber sagen, „das Unternehmen“ empfiehlt, wenn man seine technischen System dazu zählt. Man sagt vielleicht durchaus: A. hat mir eben dieses Buch empfohlen? Die Nachfrage: „Wer im Unternehmen A. war das denn?“, wäre aber natürlich Unsinn, obwohl das in anderen Fällen ginge („Wer in der Buchhandlung B. um die Ecke hat dir denn das Buch empfohlen?“). Was Technik tut, kann also offenbar zum Handeln von Unternehmen gezählt werden.

Die Entscheidungsbefugten in einer Organisation müssen also nicht jedes Mal die Intention haben, etwas zu empfehlen, sondern nur den Typus der Handlung (das Empfehlen) festlegen, und die Regel, unter welchen Bedingungen das geschehen soll, damit man verallgemeinernd sagen kann, das Unternehmen empfehle. Wenn nun diese Handlung mittels technischer Systeme ausgeführt werden soll, so müssen genau diese Regeln implementiert werden: die Bedingung, wann empfohlen werden soll, und eine bestimmte Vorgehensweise, welche eine selektive Konkretisierung der Definition des Empfehlens ist. Durch Befolgung dieser Regeln tut nun das System etwas, was von den Verantwortlichen als Empfehlen verstanden wird und von der Klientel (hoffentlich) als Empfehlen akzeptiert wird – ansonsten bleibt es nur die Auflistung beliebiger Bücher. Bzw. das Auflisten von irgendwas ohne Bedeutung, denn für das System ist das gleichgültig, was es auflistet, und natürlich auch zu welchem Zweck. „Empfehlen von Büchern“ wird es erst dadurch, dass die entscheidenden Leute das so verstehen. Die einzelne „Handlung“ des Empfehlens entzieht sich dann der jedesmaligen genauen Kenntnis der Verantwortlichen – zumindest wenn sie ökonomisch denken und nicht vor dem Rechner sitzend jeden Vorgang genau nachvollziehen. Sie haben die abstrakte Absicht zu empfehlen und die Maschinerie führt das im Einzelfall konkret aus. Wir haben es also mit einer Trennung von intentionstragenden Verantwortlichen und „Ausführenden“ zu tun, wo letztere nicht einmal die Absicht zur Ausführung haben müssen – sie wissen nicht im menschlichen Sinne, was sie tun (zumindest geht man landläufig davon aus). Und wir haben mit der Unterscheidung zu tun zwischen Typus einer Handlung, ihrer Implementierung in Algorithmen, die mittels bestimmter Datenstrukturen auf bestimmter Hardware laufen, und der jeweiligen Ausführung, bei der bestimmte spezifische Daten verarbeitet und erzeugt werden: die Daten, auf denen die Empfehlung beruht und die Liste der empfohlenen Bücher. Dabei ist dann noch zu unterscheiden zwischen all diesem technischen Geschehen mitsamt den Daten einerseits, und der Bedeutung andererseits, die das hat bzw. haben soll: eine ernsthafte, „gültige“ Empfehlung, hoffentlich sogar eine erfolgreiche.

Warum sagt man aber nun trotzdem, das Computersystem von A. „empfehle“, wenn es denn nun keine Ahnung hat, was das bedeutet, und keine Intention? Es gibt da ja zwei soziologische Extrempositionen. Die eine: Technik handelt nicht, weil das Geschehen für die technischen Apparaturen keinen Sinn ergibt; und die andere: Was Technik tut, kann bedenkenlos als Handeln bezeichnet werden, denn schließlich ersetzt Technik da menschliches Tun – somit ist es erkenntnisfördernd und unsentimental, das dann einfach auch als Handlung zu beschreiben und sich wichtigeren Fragen zuzuwenden, statt über die Vergleichbarkeit von Menschen und Maschinen zu sinnieren.

Wie nimmt man es nun wahr, wenn sich bei A. was empfehlen lässt? Der erste Teil der Beschreibung oder Erklärung besteht darin, dass man Ausführenden ganz oft die „ganze“ Handlung zuschreibt, auch wenn sie nicht selbst darüber entscheiden oder gar keine rechte Ahnung haben, was sie da tun. Man blendet die Auftraggebenden, Intentionen Tragenden, Entscheidenden aus, widmet sich ganz der konkreten Umsetzung und beschreibt sie in Begriffen, die eigentlich „zu groß“ sind. Eigentlich würde nämlich die Bezeichnung für eine Handlung definitionsgemäß oft mehr implizieren, als die Ausführenden tun. Das Computersystem spuckt ja eben nur eine Liste mit ein paar warmen Worten aus, es fehlt ihm aber die Intention.

Der zweite, leicht unterschiedliche Teil der Erklärung besagt, dass man etwas als eine Handlung eines bestimmten Typs beschreibt, wenn bestimmte äußerliche Anzeichen vorliegen, ohne dass alle definitionsgemäßen Kriterien erfüllt sind. Man überprüft ja auch im Alltag nicht immer genau, ob die Leute es ganz und gar so meinen, wie sie sagen, welche Intention sie haben, ob auch diejenigen Teile ausgeführt wurden, die man nicht zu Gesicht bekommt, usw. Man nimmt es einfach an, erwartet es, setzt es voraus. Eine solche Zuschreibung reicht für die alltägliche Praxis vollkommen aus und würde nicht eigentlich als „falsch“ bezeichnet. Jemand nennt Bücher („die könntest du mal lesen“), und man forscht dann nicht mehr so genau nach, ob das wirklich als Empfehlung gemeint ist oder was die wahre Absicht ist. Man ordnet das einfach spontan so ein, wenn nichts Offensichtliches dagegen spricht. Wenn nun eine Website eine Liste ausgibt mit dem Hinweis, „das könnte Ihnen gefallen“, dann reflektiert man nur in Ausnahmefällen, ob das nun im vollgültigen Sinne eine Empfehlung ist, welche Intentionen ob und bei wem (oder bei „was“) dahinter stecken. Man sortiert das einfach als Empfehlung ein und schaut sie sich mit mehr oder weniger oder ohne Interesse an. Das gute an solchen „unpersönlichen“ Empfehlungen, so passend oder unpassend sie auch sind, ist nämlich dann doch, dass man sich nicht aus einem Verkaufsgespräch mit einem lebenden Gegenüber herauswinden muss oder gegenüber wohlmeinenden Personen Interesse heucheln.

Mit besonderer Empfehlung (1)

Nehmen wir an, die Buchhändlerin B. Mazon weist ihren Angestellten an, zu jedem verkauften Buch einen kleinen Schokoladenweihnachtsmann dazu zu schenken (Ich habe diesen Beitrag vor Weihnachten angefangen und dann blieb er liegen. Der Weihnachtsbezug ist aber unbedeutend). Man würde also sagen: „B. verschenkt Weihnachtsmänner.“ In gewissem Sinne auch: „Der Angestellte verschenkt Weihnachtsmänner.“ Er hat zwar keinen Ermessensspielraum und keinen Besitz an den Figuren, aber die Vollmacht, den Besitz seiner Chefin herauszugeben. Er hat auch die Intention zu schenken (es ließe sich ein Fall denken, wo man das nicht sagen kann: Der Angestellte wäre z.B. angewiesen, auf ein Zeichen der Buchhändlerin hin einen Weihnachtsmann in Tüten für die Einkaufenden zu packen, ohne dass er mitbekommt, ob diese für die Schokolade bezahlt haben. Der Angestellte würde sie also nur „überreichen“ oder eben „dazu packen“, nicht aber „verschenken“ oder „verkaufen“ – zum Verschenken gehört also ein Wissen um die Eigentumsverhältnisse und die Möglichkeit oder Erlaubnis, über Eigentum zu verfügen). Letztlich muss sich der Angestellte immer wieder selbst vergegenwärtigen, dass er die Weihnachtsmänner hergeben kann und soll, und er könnte es auch unterlassen, wenn auch um den Preis, die Anweisung seiner Chefin zu missachten. Es muss also tatsächlich eine Intention seinerseits vorliegen, damit es sich bei seiner Tätigkeit um „Schenken“ handelt. Einfach unwissentlich das Eigentum anderer verschleudern ist nicht. Umgekehrt ist es kein Verschenken, wenn die Absicht der Buchhändlerin nicht umgesetzt wird: B. will Schokolade verschenken (will nur, tut es aber nicht), aber der Angestellte hat die Anweisung nicht verstanden, vergessen; die Weihnachtsmänner sind, als er sie verschenken will, verschwunden, usw. Das sind einige der Regeln, wie Verschenken als gesellschaftlich typisierte Handlung definiert ist und wie man sie ausführen kann.

Tun nun B. und ihr Angestellter dasselbe, da sie ja beide „schenken“? (Man kann auch noch sagen: „Die Buchhandlung ‚B. Mazon‘ verschenkt Weihnachtsmänner.“ Wir lassen das beiseite.) Dem Wort nach durchaus. „Dasselbe“ kann aber zweierlei heißen (und man komme hier nicht mit Spitzfindigkeiten wie der Unterscheidung von „das selbe“ und „das gleiche“, denn das funktioniert hier nicht so ohne Weiteres, wie z.B. bei Kuchen, wo man nur den gleichen essen kann, aber nicht den selben). Entweder, sie führen einen identischen Typus von Akt aus: Verschenken, gemäß seiner Definition. Offenbar ist das der Fall: Man kann von beiden definitionsgemäß sagen, dass sie verschenken. Aber nicht getrennt!: Man kann nicht sagen, dass B. was verschenkt, und außerdem der Angestellt auch noch. Denn sie verschenken je das selbe. Kann man nun aber sagen, sie arbeiteten am gleichen momentanen Akt mit, so wie Herr K., Frau L. und Herr M. ein Trio aufführen (alleine kann man kein Trio aufführen, und es wird dann nur einmal aufgeführt, durch drei Personen natürlich)? Ganz so ist es auch nicht: Wenn nun der Angestellte gerade einen Weihnachtsmann verschenkt, muss B. gar nicht da sein. Sie ist an diesem einen Akt überhaupt nicht beteiligt. Es würde konstruiert wirken, würde man sagen: Sie verschenkt gerade Schokolade an jemanden in ihrer Buchhandlung, wenn sie etwa auf der Buchmesse ist. Und wenn B. diese Woche Schokolade verschenkt, dann z.B. fünfzig mal. Aber sie hatte vorher nicht unbedingt die Absicht, fünfzig Mal Weihnachtsmänner zu verschenken, sondern nur überhaupt welche zu verschenken – „einmal“, nämlich diese Woche über (und nicht unbedingt jedes Jahr oder das ganze Jahr über), oder „so oft, wie es sich ergibt“, oder „höchstens zweihundert Stück“. Der Angestellt verschenkt aber fünfzig Mal je einen Weihnachtsmann. Und damit hat B. am Ende effektiv fünfzig verschenkt.

Das vorab intendierte „Verschenken“ durch B. ist im Gegensatz zum Verschenken durch den Angestellten kein einzelner konkreter Akt, sondern eine abstrakte Intention, die nur einen Typus spezifiziert (dass etwas geschehen soll vom Typ des Verschenkens, man sich aber noch nicht auf konkrete Ereignisse bezieht). Sie muss nicht einmal verwirklicht werden. Vgl. die Beschreibung einer Gewohnheit: C. nimmt (immer, gewöhnlich etc.) Milch und Zucker zum Tee. Eine solche Regel setzt ihre Verwirklichung voraus. Im Falle des Verschenkens ist auch nur ein Typ einer Handlung gemeint, aber nicht so sehr als beobachtete Regelmäßigkeit, sondern als Regel. Die Spezifikation von B.s Intention verlangt auch die Befolgung einer Regel: Immer wenn jemand ein Buch kauft… Die nähere Spezifikation, wie das Ereignis je vonstatten geht, obliegt aber dem Angestellten. B. legt nur die Bedingung und den Typus fest, der Angestellte muss das ausgestalten. Die Bedingungen sind immer unvollständig. Er kann durch bestimmte Sachverhalte vom Verschenken abgehalten werden, aber diese Bedingungen sind negativ formuliert, im Gegensatz zu B.s Bedingung: Er verschenkt Schokolade, wenn sich die zu Beschenkenden nicht weigern, beschenkt zu werden, die Weihnachtsmänner nicht ausgehen usw. Die Bedingungen sind nicht aufzählbar – es ist praktisch immer noch ein weiterer Grund denkbar, warum die Intention nicht verwirklicht wird. Aber trotz ihrer Abstraktheit muss eine ausreichend klare Bedingung angegeben werden, da sonst das Eintreten der Einzelhandlung nicht feststeht und man diese nicht mehr auf B.s Intention zurückführen kann.

Was B. tut, kann auf verschiedene Art beschrieben werden: Verschenken als allgemeine Absicht (die sie hat oder hatte) und als faktisches Verschenken (das man aber erst hinterher beschreiben kann). Als ein Akt (das Verschenken im Rahmen dieser Aktion) oder als eine Vielzahl von Einzelakten (das jeweilige Verschenken an einzelne Personen). Auch der Einzelakt könnte wieder in Einzelakte zerlegt werden, etwa das Überreichen, die Aussage, dass es sich um ein Geschenk handelt, usw. Diese Akte können aber nicht wieder als Verschenken bezeichnet werden. Sie sind raumzeitlich relativ klar festgelegt (jetzt oder nie). Aber selbst die Intention zu den Einzelakten muss in Teilen abstrakt bleiben, da sie nie alle Details vorwegnehmen kann, selbst wenn sie bereits spezifiziert wurde (z.B. dieser Person jetzt diesen Weihnachtsmann schenken – man weiß aber nicht, in welcher Höhe die Person z.B. ihre Hand halten wird, wenn man ihr den Weihnachtsmann übergeben will).

Man könnte aber nicht ohne Weiteres sagen, dass B. gerade einen Weihnachtsmann verschenkt hat, wenn sie gar nicht beteiligt war, aber der Angestellt gerade einen ausgehändigt hat. Man kann höchstens die Summe der Verwirklichungen ihrer Absicht benennen: Sie hat am Ende fünfzig verschenkt. Auch vom Angestellten kann man das sagen. Umgekehrt ist es bei ihm schwieriger, vorab zu sagen, er habe die Absicht, in dieser Woche Weihnachtsmänner zu verschenken. Er hat vielleicht die Absicht, auszuführen, was seine Chefin ihm aufgetragen hat, aber er hat nicht so sehr den Entschluss gefasst, überhaupt Weihnachtsmänner zu verschenken (die Intention, dass Weihnachtsmänner verschenkt werden sollen), sondern hat jedes Mal die Absicht, wenn er es denn im Einzelfall tut, undvorab vielleicht die Absicht, es jedes mal zu tun (die Intention, nun oder zu gegebener Zeit einen Weihnachtsmann zu verschenken, um das von ihn Erwartete zu tun). (Man muss sich diese Absicht im Einzelfall nicht so vorstellen, dass er sich das ganz bewusst vornimmt. Aber wenn man ihn z.B. unterbricht und fragt, was er vorhat, so wird er angeben, er wolle…)

Es gibt also 1. die allgemeine Regel, wie man verschenkt (wie Verschenken definiert ist), dann 2.eine tatsächliche Inkraftsetzung einer spezielleren Regel, unter welchen Bedingungen man etwas verschenkt, oder die generelle Absicht zur Befolgung einer Regel, dass man etwas verschenken will, einmal oder mehrfach (also die Intention, dass…; man „hat etwas zu verschenken“), 3. die Absicht, eine Anweisung zu befolgen (mit welcher man die Intention einer anderen Person ausführt – auch eine Intention, dass…, aber dass man verschenkt und damit die Anweisung befolgt), und schließlich 4. die konkrete einzelne oder mehrfache Umsetzung des Verschenkens gemäß bestimmter Regeln (jeweils gerade etwas tun mit der Intention, etwas zu verschenken; man hat dann anschließend etwas verschenkt, was bei unerfüllten Absichten und nie eintreffenden nicht der Fall ist). Wenn nur die einmalige oder jedesmalige Umsetzung einer ausreichend klaren Regel delegiert wird, können die Delegierenden noch von sich sagen, sie hätten verschenkt. In den anderen Fällen wäre diese Redeweise ein wenig seltsam. Wenn nämlich die Eigentümerin einer anderen Person die Entscheidung überlässt, sie an sie delegiert, dann sieht es anders aus: Man würde wohl nicht mehr so recht sagen, die Eigentümerin verschenke im strengen Sinne oder habe verschenkt, habe dazu die eigentliche Absicht gehabt und/oder habe anschließend verschenkt. Man könnte so etwas formulieren, aber es wäre ein Grenzfall.

(Fortsetzung folgt, in welcher wir dann anschauen, wie sich das Verhält, wenn man nicht an eine Person, sondern an Technik delegiert.)